Berlin 09/2022

  • 03.09.2022
  • Köpenicker FC – BSV Al-Dersimspor 3:1
  • Landespokal Berlin (1st Round)
  • Stadion Wendenschloßstraße (Att: 50)

Am 2.September ging es mit den Musikkennern El Abto, Fat Lo, Max, Milano Pete und InterCityBerger ins hannoversche Tanzlokal Béi Chéz Heinz. Shacke One, der gottverdammte Boss der Panke, machte auf seiner aktuellen S1 Tour auch Station in Hannover und wurde dabei von Achim Funk und Ivo dem Banditen unterstützt.

Steige aus dem Notausgang
Mit nem Nordi an der Panke und ich feier‘ in den Untergang
Rapper werden unentspannt, denn ich pöbel wieder
Nordachse Gang – wir gewinnen immer, wie Hütchenspieler

Unter Strom von Shacke One

Am Folgetag hatte ich im Gegensatz zu meinen Freunden keinen Termin im Kalender stehen und irgendwie passte es nun gut in die Heimat der am Vorabend frenetisch gefeierten Musiker zu reisen. Denn Sonntag sollten die Roten Riesen in Rostock reüssieren und da lag Berlin quasi auf dem Weg. Das Routing Hildesheim-Berlin-Rostock-Hildesheim kostete mich bei meinem Mobility Partner 69 € in Fernverkehrszügen (von denen ich noch einen 15-€-Gutschein abziehen konnte) und 7:36 Uhr war am Samstagmorgen Abfahrt am Hildesheimer Hauptbahnhof.

Startpunkt Weltzeituhr

Zwei Stunden später erreichte ich die Hauptstadt der Bundesrepublik und weil König Fußball mir heute nichts Schönes schenken wollte, konnte ich ganz ohne Zeitdruck durch altbekannte Kieze streifen und dabei fleißig Fotos knipsen. Es war nämlich Pokalwochenende in Berlin und 96 % der Paarungen der 1.Hauptrunde fanden leider am Sonntag statt. Von den mickrigen fünf Partien am heutigen Samstag reizte mich keine und das Bundesligaspitzenspiel Union Berlin vs. Bayern München war natürlich ebenfalls keine Option.

Am Strausberger Platz beginnt der Sozialistische Klassizismus auf der Karl-Marx-Allee

Also spazierte ich ohne Blick auf die Uhr durch Berlin und begann meinen Trek am Alex. Von dort wollte ich endlich mal wieder die jedes Mal auf’s Neue beeindruckende Karl-Marx-Allee entlang spazieren. Die hieß bis 1949 Große Frankfurter Straße, wurde jedoch mit Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in Stalinallee umbenannt. Da es schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Magistrale von der Stadtmitte nach Osten (Richtung Frankfurt / Oder) war, bot es sich an dieser Stelle an eine repräsentative Prachtallee nach sowjetischen Vorbild anzulegen. Zumal besagter Krieg für großflächigen Zerstörungen entlang dieser Straße gesorgt hatte.

Die einstige Karl-Marx-Buchhandlung auf der einstigen Stalinallee

1950 wurden zunächst zwei Laubenganghäuser nach Entwürfen von Hans Scharoun am westlichen Ende der Allee errichtet. Scharoun hatte sich bereits in den 1920er Jahren für die Großsiedlung Siemensstadt in Westberlin verantwortlich gezeigt und wie Bruno Taut (Hufeisensiedlung, siehe Berlin 02/2022) oder Erich Mendelsohn (WOGA-Komplex am Lehniner Platz, siehe Berlin 09/2020) zählte er zu den Vertretern des Neuen Bauens. Nach Kriegsende ernannte ihn die sowjetische Militärverwaltung zum ersten Stadtbaurat von Berlin, doch innerhalb der Nomenklatura der DDR galten ausgerechnet die schlichten und funktionalen Entwürfe des Neuen Bauens fortan als westlich-dekadent. Stattdessen wurde eine Gruppe von Architekten auf Studienreise nach Moskau geschickt. Sie sollten nun den pompösen Stil des Sozialistischer Klassizismus kopieren (den so genannten Zuckerbäckerstil).

Die Wohn- und Geschäftsbebauung an der Karl-Marx-Allee (Ornamentik und antike Säulen tragen dabei historischen Belriner Vorbildern aus dem frühen 19.Jahrhundert Rechnung)

Der von den Architekten entwickelte Entwurf sah einen schnurgeraden und breiten Prachtboulevard von ungefähr zwei Kilometern Länge zwischen dem Strausberger Platz und der Proskauer Straße vor. Die Bebauung orientierte sich grundsätzlich an sowjetischen Vorbildern, jedoch lehnten sich die Architekten ebenfalls etwas kitschig an den besonders von Karl Friedrich Schinkel geprägten Klassizismus des frühen 19.Jahrhunderts an, um so auch eine historische Berliner Note einzubringen. Neben Funktionsgebäuden wie der Deutschen Sporthalle waren vor allem repräsentative Wohn- und Geschäftsgebäude vorgesehen. Denn neben einer würdigen Kulisse für Aufmärsche, Militärparaden und Staatsgäste, musste natürlich die große Wohnungsnot in der Nachkriegszeit gelöst werden. 2.236 Wohnungen waren in den sieben- bis neungeschossigen Wohnblöcken projektiert.

Prachtboulevard und Paradeallee

Übrigens bekam damals jeder Bürger, der dem Staat 300 Stunden seiner Arbeitskraft unentgeltlich für den Aufbau der Stalinallee zur Verfügung stellte, ein Los der Wohnungslotterie. 45.000 freiwillige Helfer fanden sich seinerzeit. Nichtsdestotrotz benötigte es auch zuhauf professionelle und regulär vergütete Arbeitskräfte und unter jenen wuchs 1953 der Unmut über die Arbeitsbedingungen. Denn im vermeintlichen Paradies der Werktätigen fühlten sich die meisten Arbeiter ziemlich ausgebeutet und der junge Staat befand sich 1953 allgemein in einer großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise. Als das Zentralkomitee der Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (ZK der SED) am 14.Mai 1953 beschloss, dass fortan 10 % mehr Leistung für den gleichen Lohn erbracht werden muss (Erhöhung der Arbeitsnormen), kippte die Stimmung endgültig.

Kino International

Am 16.Juni 1953 erfolgte schließlich eine Arbeitsniederlegung auf den Baustellen der Stalinallee und einen Tag später kam es fast überall in der DDR zu Streiks und Protesten. Aufständische besetzten vielerorts Regierungsgebäude oder Polizeidienststellen. Die Volkspolizei war heillos überfordert und die DDR-Regierung flüchtete unter dem Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht in eine Kaserne in Berlin-Karlshorst. Die sowjetischen Behörden übernahmen nun de facto das Zepter und reagierten mit der Verhängung des Ausnahmezustands für 167 der 217 Kreise der DDR. Die Rote Armee marschierte in den Städten mit Panzern auf und schaffte es den spontanen, unkoordinierten und vor allem führungslosen Protest wieder zu ersticken. Das Ganze wurde nun als von westlichen Provokateuren inszenierter und angeführter faschistischer Putschversuch dargestellt und im Nachgang wurde der Überwachungs- und Repressionsapparat vom Regime massiv ausgebaut. Außerdem war fortan allen klar, dass im Zweifel die mit mehreren hunderttausend Soldaten in der DDR präsente Sowjetunion im Sinne ihrer Interessen eingreifen würde. So wie sie es auch bald noch in anderen sozialistischen Bruderstaaten wie Polen (Posener Arbeiteraufstand im Juni 1956, siehe Poznań 10/2019), Ungarn (Ungarischer Volksaufstand im Oktober 1956, siehe Budapest 10/2017) oder der Tschechoslowakei (Prager Frühling 1968, sie Praha 08/2019) tat.

Restaurant Moskau mit Sputnik-Nachbau auf dem Dach

Nach dem gescheiterten Aufstand schritten die Arbeiten an der Stalinallee wieder voran und 1958 war der erste und größte Bauabschnitt zwischen dem Strausberger Platz und der Proskauer Straße fertiggestellt. Zwischen 1959 und 1971 folgte außerdem ein zweiter Bauabschnitt zwischen Alexanderplatz und Strausberger Platz. Die Hinwendung der DDR zum industriellen Bauen wird hier sehr anschaulich, denn nun entstanden vorwiegend Wohnkomplexe in Plattenbauweise mit mehr als 5.200 Wohnungen für ca. 16.000 Menschen. Außerdem wurde ikonische Bauwerke wie das Hotel Berolina (1963), das Kino International (1963) das Restaurant Moskau (1964) und das Haus des Lehrers (1964, siehe Titelbild) errichtet. Wobei letzteres Bauwerk eigentlich eher zur Neugestaltung des Alexanderplatzes in den 1960er Jahren zählte. 1961 wurde außerdem mit dem 1953 verstorbenen Stalin abgerechnet und über Nacht verschwand dessen Bronzedenkmal aus der bisherigen Stalinallee, die fortan Karl-Marx-Allee heißen sollte.

Mein orientalisches Frühstück

Auf jener Karl-Marx-Allee kehrte ich heute übrigens zum Frühstücken ins Pretty Café Deli ein. Kitschiger Vintage wie dort schreckt mich in Berlin eigentlich eher ab, aber verdächtig guter Geruch zog durch die geöffnete Tür auf das Trottoir des realsozialistischen Prachtboulevards. Nun wagte ich mich doch unter das junge Touristenpublikum und orderte einen großen Cappuccino und eine Portion Shakshuka an der Theke. Die orientalische Tomaten-Eierspeise mit dem frisch aufgebackenen und hausgemachten Pitabrot mundete vorzüglich und die Kaffeespezialität aus der Zweikreiser-Siebträgermaschine war ebenfalls eine Gaumenfreude.

Gut gestärkt ging es anschließend tiefer nach Friedsrichshain hinein. Mal wieder durch den Simon-Dach-Kiez schlendern, sich dort an urbaner Kunst erfreuen und zugleich an Feiernächte wie im Oktober 2016 erinnert werden (siehe Berlin 10/2016) war meine Intention. Mein Hauptziel war allerdings das RAW-Gelände. Das ehemalige Reichsbahnausbesserungswerk Berlin im Süden Friedrichshains ist mutmaßlich das größte Kulturareal Deutschlands. Etliche Kultur- und Sporteinrichtungen, Künstlerateliers, Galerien, Konzerthallen, Musikclubs und gastronomische Betriebe befinden sich heute auf dem Gelände und an den Fassaden wimmelt es nur so von Streetart.

Die Oberbaumbrücke, die Kreuzberg und Friedrichshain verbindet

Vom RAW-Gelände zog es mich dann ans Ufer der Spree. Ich spazierte nett am Wasser ostwärts und setzte über die Elsenbrücke nach Alt-Treptow über. Am Flutgraben passierte ich alsbald die ehemalige deutsch-deutsche Grenze und befand mich nun im Kreuzberg. Den quirligen Wrangelkiez hatte ich ob seiner mannigfaltigen Optionen als Ort meines Mittagessens auserkoren. Den Zuschlag bekam letztlich die sudanesische Imbissstube Nil in der Oppelner Straße. Wobei The Hummussapiens gegenüber eigentlich für seinen Namen hätte belohnt werden müssen. Aber der fiel mir erst auf, als ich bereits auf meine gemischte Platte mit u. a. Ful, Falafel, Halloumi, frittiertem Maniok und ganz viel Erdnusssauce wartete. Den Durst löschte dazu ein Fläschchen Club Mate.

Die Nilplatte

Nach meinem sudanesischen Mittagsmahl war es 14 Uhr und ich beschloss nun doch das einzige der fünf heutigen Pokalspiele zu besuchen, welches nicht auf einem tristen Kunstrasenplatz ohne Ausbau ausgetragen werden sollte. Dazu ging es raus nach Köpenick, was mich natürlich zwangsläufig auch mit der Partie Union vs. Bayern, bzw. den anreisenden Fanmassen in Berührung brachte. Am Bahnhof Köpenick standen bereits die Schwarzmarkthändler mit ihren Schildern „Suche Tickets“. Immer in der Hoffnung, dass Klaus vom Fanclub aus Finsterwalde wegen kurzfristiger Krankheit in seiner Gruppe noch eine Karte übrig hat und die als fairer Sportsmann zum Originalpreis oder gar darunter abgibt. Wohingegen man sie anschließend für einen dreistelligen Betrag weiterveräußern kann.

Union-Graffiti am Bahnhof Köpenick

Mich zog es heute bekanntlich nicht zur Alten Försterei und somit war ich auch gar nicht erst versucht mit Schwarzmarkthändlern Geschäfte anzubahnen. Stattdessen ging es mit der Tram weiter in den Wendenschloßkiez, der sich südlich der historischen Altstadt am Ufer der Dahme befindet. Hier hat der Köpenicker SC bzw. FC im Stadion Wendenschloßstraße seine Heimat. Der Club wurde 1949 als Betriebssportgemeinschaft (BSG) für Rundfunk- und Fernmeldetechnik gegründet und firmierte schon ein Jahr später in BSG Motor Wendenschloß um. Von 1957 bis zur Wende hieß man schließlich BSG Motor Köpenick. Die BSG kickte hauptsächlich in der drittklassigen Bezirksliga Berlin, durfte jedoch auch ein paar Saisons in der zweitklassigen DDR-Liga mittun. In der Ewigen Tabelle der DDR-Liga rangiert die BSG Motor Köpenick auf Platz 100 von insgesamt 201 Mannschaften.

Juchu, ein bißchen Ausbau

Der 1991 in Köpenicker SC umbenannte Verein konnte sich in der Nachwendezeit im gehobenen Berliner Amateurfußball etablieren und schaffte 1995 sogar den Sprung in die viertklassige NOFV-Oberliga, wo man es fortan fünf Jahre lang mit ein paar Größen des ehemaligen DDR-Fußballs zu tun bekam (u. a. 1.FC Magdeburg oder Frankfurter FC Viktoria). 2002/03 gab es nochmals ein einjähriges Gastspiel in der Oberliga, aber ansonsten musste man in diesem Jahrhundert wieder mit dem regionalen Berliner Fußball Vorlieb nehmen. Gegenwärtig in der siebtklassigen Landesliga und nachdem 2019 die Fußballabteilung vom Gesamtverein ausgegliedert wurde (dessen sportliches Aushängeschild übrigens die Volleyballerinnen sind), tritt man dort als Köpenicker FC an.

Strafraumszene in Köpenick

Der heutige Pokalgegner BSV Al-Dersimspor kickt eine Klasse höher in der Berlin-Liga und wer ein wenig über dessen historische Hintergründe erfahren will, wird in meinen Bericht Berlin 02/2022 fündig. Denn vor sieben Monaten besuchte ich ein Heimspiel des Clubs mit kurdisch-alevitischem Hintergrund. Wie meiner einer heute, musste die Spieler der Gastmannschaft übrigens aus Kreuzberg nach Köpenick anreisen. Für Berliner Verhältnisse eine kleine Weltreise und dann wurde man nicht mal seiner Favoritenrolle gerecht. Es entwickelte sich eine Begegnung auf Augenhöhe, bei jener der KFC letztlich durch zwei späte Jokertore die Oberhand behielt. Der Matchwinner hieß Jan Medewitz (80. und 90.Minute), nachdem zuvor Tom Kleinschmidt (23.) und Zana-Kazim Baba für ein 1:1 zur Pause gesorgt hatten.

Al-Dersimspor (rot) wollte in der Schlussphase den Sieg erzwingen, fing sich jedoch zwei Kontertore

Ansonsten fiel auf der ca. 3.500 Zuschauer fassenden Anlage noch unweigerlich ins Auge, dass jüngst (im Mai 2022) das Sportcasino des Vereins abgefackelt wurde. Vom einst geselligen Zentrum der KSC- und KFC-Sportler blieb nur noch Schutt und Asche übrig. Ein mutmaßlich 21jähriger Brandstifter wurde in der Feuernacht festgenommen, der Prozess steht jedoch noch aus. In jedem Fall ist das Gebäude ein Totalverlust und wann ein Neubau erfolgen kann, steht noch in den Sternen. Vielleicht kann der große Nachbar von der Alten Försterei mal zum Benefizspiel anrücken? Die Unioner trotzten den Bayern übrigens ein Remis ab. Es war also für alle Köpenicker Fußballsportler ein erfolgreicher Nachmittag.

Die Überreste des niedergebrannten Sportcasinos

Nach Abpfiff hatte ich nun 2,5 Stunden bis zur Abfahrt meines gebuchten InterCity nach Rostock. Deshalb stoppte ich auf dem Weg zum Hauptbahnhof nochmal in Kreuzberg und machte einem Lokal, welches bereits für das Mittagsessen in der engeren Auswahl war, meine Aufwartung. Nein, immer noch nicht The Hummussapiens… (aber der Ground fällt auch irgendwann!) Bei Fatoush ließ ich mir eine Schale mit Kufta, Petersilien-Granatapfelsalat und zweierlei Hummus und servieren. Dazu ’ne Melonenlimo von Fritz und ich war happy.

Mein Abendmahl bei Fatoush

19:37 Uhr war Abfahrt in Richtung Ostsee und zwei Stunden später checkte ich in ein bahnhofsnahes Rostocker Mittelklassehotel ein (85 € ohne Frühstück). Mit etwas über 32.000 Schritten bzw. 23,2 km in den Knochen – trotz Tageskarte für die Öffis! – konnte wie auf Knopfdruck in den Schlafmodus übergegangen werden. Ein kulinarisch und kulturell toller Tag ging zu Ende und am nächsten Morgen würde ich in Rostock sicher nahtlos daran anschließen können.

Song of the Tour: Ihm gehört nach dem Prolog auch der Epilog