Erstmals träumen von Europa
Nach zwei Jahren mit späten Klassenerhalten kam das dritte Bundesligajahr mit großen Schritten auf uns zu. Retter Ewald Lienen startete nicht mit übermäßig viel Kredit in die Saison. Nicht wenige trauerten Aufstiegscoach Ralf Rangnick nach und hätten ihm auch den Klassenerhalt zugetraut, wenn Martin Kind bis Saisonende an seiner Person festgehalten hätte. Aber der nervöse Präsident zog nach dem 23.Spieltag die Reißleine und Ewald Lienen fuhr anschließend mit der Abkehr vom Hurra-Fußball die nötigen Punkte ein.
Mit einer Transferpolitik voller Wundertüten stellte ich mich eigentlich auf ein weiteres Jahr Abstiegskampf ein und prognostizierte Retter Lienen rettertypisch ein mutmaßliches Arbeitsende im Spätherbst. Doch es kam alles etwas anders. Die Neuzugänge Wallner, Leandro und Sousa floppten zwar gewaltig und der hochveranlagte Barnetta war dauerverletzt, doch dafür schlugen der neue Torwart Robert Enke und „Oldie but Goldie“ Michael Tarnat so richtig ein.

Daher zog man sich auf dem Platz erstmal recht achtbar aus der Affäre, nur die Punkteausbeute war zunächst etwas bescheiden. Am 1.Spieltag verlor 96 knapp und unverdient im damals tropischen Leverkusen mit 1:2 bei Bayer 04 und danach reichte es beim BVB immerhin für den ersten Punkt der Saison. Es folgte der Heimauftakt im nun fast fertig umgebauten Niedersachsenstadion. Mit Freiburg teilte man sich dabei die Punkte und besonders die damals tolle Atmosphäre in neuen alten Wohnzimmer blieb hängen. Wir hatten schon ein schönes Schmuckkästchen hingestellt bekommen. Nicht 08/15, sondern ein Stadion mit Charakter und Geschichtsbewusstsein (z. B. durch den Erhalt der Westtribüne).

Es folgte ein Gastspiel bei Werder Bremen. Auf dem Rasen war leider nichts zu holen (0:3), aber mit der Verzierung der bekannten Unterführung zum Weserstadion, in der Nacht vor’m Spiel, gelang unserer Fanszene wenigstens ein schöner Coup. Wo bisher ES97 (Eastside Bremen) prangte, grüßte nun 1896 in Chrom und Schwarz jeden Stadionbesucher. Dass Rachegelüste der Bremer Ultras auf dem Osterdeich gekonnt abgewehrt wurden, machte die Sache noch runder.

Zwischendurch wurde dann Energie Cottbus mit 7:6 nach Elfmeterschießen in der 2.Pokalrunde ausgeschaltet (in der 1.Runde gab es einen 3:0 Pflichtsieg beim VfR Neumünster) und danach durfte am 25.September endlich der erste Saisonsieg (1:0 gegen Schalke 04 im Niedersachsenstadion) beklatscht werden. Besonders eindrucksvoll jubelte dabei Torschütze Clint Mathis, der auf Lienen zulief und sich an sein Gemächt packte. Der Trainer schien also nicht jedem Spieler wohl gelitten.
Beim Nachholspiel vom 2.Spieltag gegen Arminia Bielefeld – Ende September und unter der Woche, da umbaubedingt verlegt – winkte nun bei einem Sieg eventuell Platz 6 und bei einer Niederlage Platz 18 (es war nach sechs Spieltagen noch sehr ausgeglichen in der Liga). 96 entschied sich natürlich für Platz 18 (0:1 gegen Arminia) und „Lienen raus“ schallte es durch’s Stadion.
Aber dann kam der „Goldene Oktober“. Im zehnten Monat des Jahres gesellten sich zum bisher einzigen Saisonerfolg fünf weitere Siege. Zunächst wurde 3:1 in Rostock gewonnen (Tore: Leandro, Barnetta und Stendel). Leider ohne mich, da unser 9er mit illusteren Szenegrößen in einen Unfall auf der A7 verwickelt wurde. Fahrer Jannis B. traf sehr zur Überraschung vieler Kenner seines Fahrstils nicht die Schuld, denn wir stießen auf Finnen, die noch schlechter Auto fuhren als er bzw. diese Finnen im Ford Transit stießen auf unser Heck. Die Karre war nun ein Fall für die „Gelben Engel“ und einige der Insassen waren ein Fall für ein Krankenhaus. Nichtsdestotrotz lächelten alle nochmal für einen Gruppenfoto auf der Autobahn und dann ging es für die Hälfte nach Hamburg in die Notaufnahme (Schmerzensgeld aus Finnland gab es dann zum Glück „nur“ für Prellungen, Schürfwunden und Schleudertraumata) und der Rest fuhr Taxi nach Rostock (für 350€), da Serien von zig Pflichtspielen in Folge auf dem Spiel standen.

Wieder genesen durfte ich folgenden Spielen beiwohnen: 3:0 gegen Wolfsburg (den aktuellen Tabellenführer), 2:0 in Mönchengladbach, 3:1 gegen den 1.FCK und 3:0 gegen den VfL Bochum. Man, war das ein Lauf! Würdigte auch der Bundestrainer, der im Oktober Shootingstar Per Mertesacker (just 20 Jahre alt geworden) in die A-Nationalelf berief. 96 stand nun Anfang November auf dem 4.Platz, einen Platz vor dem FC Bayern München. Es roch erstmals ganz zart nach Europapokal.

Passenderweise blieb es den Bayern am 6.November vorbehalten uns wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen (0:3), aber wir blieben danach wieder vier Spiele ungeschlagen (8 Punkte Ausbeute) und standen dadurch auf einem sensationellen 4.Platz nach 16 Spieltagen. Für einige waren zu dieser Zeit Tore und Punkte aber nicht mehr das Wichtigste. Benny Bienert, ein Herthan-Fan mit vielen Freunden in Hannover, war an Leukämie erkrankt und auch in Hannover wurde ganz viel unternommen, um einen Stammzellenspender für Benny zu finden und sich dem weltweiten Kampf gegen diese Erkrankung anzuschließen. Es war beeindruckend zu sehen was Fans alles, auch über Vereinsgrenzen hinweg, bewegen können. Dementsprechend war am 17.Spieltag gegen Hertha die erste Niederlage seit Wochen (0:1) eher Nebensache in beiden Fanlagern. Umso schöner war die Nachricht, dass wenige Tage später ein Spender für Benny gefunden wurde.

Sportlich war natürlich alles schön in Hannover. 96 überwinterte auf einem hervorragenden Platz 7, in Schlagweite zu den UEFA-Pokal-Plätzen und zumindest der UI-Cup wurde ein sehr realistischer Europapokaltraum. Ebenso überwinterte man im DFB-Pokal (im Achtelfinale wurde der BVB ausgeschaltet), der bekanntermaßen eine weitere Qualifikationsoption für den internationalen Wettbewerb darstellt.
Nach durchwachsenen Testspielergebnissen startete man am 23.Januar 2005 gegen Bayer 04 in die Rückrunde. Bevor der Gast aus der Farbenstadt die drei Punkte mitnehmen durfte (0:3 Niederlage für 96), gab es die halbgare Eröffnungsfeier des nun endgültig fertiggestellten „neuen“ Niedersachsenstadions. Eine irgendwie unrunde 96 aus vielen weiß gewandeten Menschen auf dem Rasen und Qualm und Funken drumherum, hauten wohl niemanden vom Hocker. Dafür klappte die Premiere des elektronischen Einlasssystems reibungslos. Zumindest bei mir. Und Fankritik am Kommerznamen des Stadions durfte natürlich auch nicht fehlen.

Es folgte ein sportliches Auf und Ab mit einem Sieg in Bielefeld (1:0), einer Niederlage gegen Dortmund (1:3) und einem torlosen Remis in Freiburg. Danach kam Werder nach Hannover, aber außer wieder mal drei Punkten, gab es für Anhang der Fische nichts zu feiern. Die Niederlage gegen Werder leitete übrigens eine Serie von vier Pleiten in Folge ein. Eigentlich sogar fünf, da zwischendurch auch 1:3 im DFB-Pokal-Viertelfinale auf Schalke verloren wurde, wo wir Fans in bisher noch nicht gekannten Maße von der „Punching Crew“ (Selbstbezeichnung der eingesetzten Polizeihundertschaft in unserem Block) vertrimmt wurden und unser schlichtender Fanbeauftragte einen Zahn von den Beamten ausgeschlagen bekam.
Es war quasi das Gegenteil vom Goldenen Oktober. Ein sicheres Polster zur Abstiegszone schien zu Selbstzufriedenheit geführt zu haben und Trainer Lienen wollte nichts von einem anderen Saisonziel als dem Klassenerhalt hören. Als dann doch mal wieder gewonnen wurde (erst 2:1 gegen Gladbach, dann 2:0 in Lautern), wurde doch noch der UI-Cup als neues Saisonziel propagiert.

Der Kampf um dieses internationale Sommervergnügen blieb bis zum letzten Spieltag offen, da wir unser letztes Heimspiel am 33.Spieltag gegen den Hamburger SV knapp gewannen (2:1, inklusive der schönsten Choreographie, die das Niedersachsenstadion bis dahin erblicken durfte). Aber ein 0:0 zum Abschluss in Berlin, ließ uns das Saisonziel knapp verfehlen. Doch dann tat sich plötzlich noch eine Hintertür für internationale Weihen auf…

Weil deutsche Mannschaften jüngst in den internationalen Wettbewerben zu den fairsten Teilnehmern gehörten, verloste die UEFA unter sechs Nationen zwei Wildcards für den UEFA-Cup. Nach alter Väter Sitte wäre 96 der nationale FairPlay-Sieger gewesen (wenigste Karten in der Saison gesammelt). Aber nicht mit der so genannten Fußballmafia von der Otto-Fleck-Schneise. Der DFB verkündete im Mai, dass es eine geheime FairPlay-Wertung gab, in der neben Karten auch total subjektive Kriterien wie das Fanverhalten einflossen. Die völlig intransparente Wertung war die ganze Saison über unter Verschluss und am Ende wurde einfach der aktuell sympathischste Club Deutschlands (a. k. a. Mainz 05) zum Sieger erklärt (so wirkte es jedenfalls von außen). Die waren auf dem Platz zwar nur die drittfairsten Kicker, aber wer so ein tolles Publikum hat, kann das natürlich mehr als egalisieren.

Klar, in Hannover sehen im Gegensatz zu Mainz die meisten Stadionbesucher Fußball als einen ernsthaften Wettkampf an. Manchmal ärgert man sich sogar über Niederlagen und Gäste werden zuweilen als nach Fisch stinkend oder anderweitig nahe der Gürtellinie geschmäht, aber es gab in dieser Saison auch keinen krassen Aussetzer der Fanszene. Und die Mannschaft schenkte, als der Klassenerhalt so gut wie sicher war, viele Punkte her an Mannschaften, die ihr Saisonziel noch nicht erreicht hatten. Sehr fair, oder?

Aber Zettel-Ewald ist eben kein Harry-Potter-Mediendarling wie Jürgen Klopp und wir haben bei 17 Heimspielen weniger als die Mainzer Karneval gefeiert. Da mussten wir damit leben, dass Mainz 05 in den Lostopf wanderte und auch noch gezogen wurde. Wahnsinn, das tolle Fußballmärchen von Klopp und seinen Mainzern geht weiter! Viel schönere Geschichte als harmlose Hannoveraner oder biedere Bielefelder (der Zweitplatzierte in der bisher gewohnten Wertung) erstmals im UEFA-Cup.

Genau eine Woche nach dem 0:0 gegen Hertha und dem folgenden Hickhack um die Fairplay-Wertung, wurde Fußball wieder zur Nebensache. Benny Bienert war gestorben. Trotz geglückter Stammzellenspende war sein Immunsystem zu schwach um eine Infektion abzuwehren. Krebs ist ein Arschloch! http://www.remember-benny.de
45 Punkte / Platz 10 / 10 Punkte auf Platz 16 / 12 Punkte auf Platz 6 / 34:36 Tore / Meiste Auflaufprämien kassiert: Robert Enke (34x) / Meiste Torprämien kassiert: Jiri Stajner und Daniel Stendel (je 6x) / Zuschauerschnitt: 35.987
Moin: Tranquillo Barnetta (FC St. Gallen bzw. Bayer Leverkusen), Robert Enke (CD Teneriffa), Leandro Fonseca (Young Boys Bern), Frank Juric (Bayer Leverkusen), Jiri Kaufman (Energie Cottbus), Ricardo Sousa (Boavista Porto), Jirí Stajner (Sparta Prag), Danijel Stefulj (1.FC Nürnberg), Michael Tarnat (Manchester City), Roman Wallner (Rapid Wien), Veljko Paunovic (Atletico Madrid).
Tschüss: Thomas Brdaric (VfL Wolfsburg), Jaime (Albacete Balompie), Kleber (FC Basel), Kostas Konstantinidis (1.FC Köln), Markus Schuler (Arminia Bielefeld), Stanko Svitlica (LR Ahlen), Gerhard Tremmel (Hertha BSC), Abel Xavier (AS Roma), Marc Ziegler (Austria Wien), Mohamadou Idrissou (SM Caen), Clint Mathis (Real Salt Lake City), Ricardo Sousa (De Graafschap).