Tränen, Trauer und späte Triumphe
Sehr zum Ärgernis vieler Fans ignorierte Dieter Hecking die Rücktrittsforderungen zu Saisonende und stürzte sich Ende Juni 2009 in das Abenteuer Saisonvorbereitung. Martin Kind hatte weiterhin eine hohe Meinung vom Cheftrainer und wollte der neuen Struktur mit Hecking und Schmadtke eine Chance geben. Ich fühlte mich an das Jahr 2006 erinnerte und prophezeite dem Bad Nenndorfer eine ähnlich große Zukunft wie weiland Peter Neururer. Chance auf rechtzeitigen Neustart verpasst, Herr Kind.
Geld für Verstärkungen wurde keines von den Investoren zur Verfügung gestellt. Daher hoffte man als Fan darauf, dass Leistungsexplosionen im Bestandskader und weniger Verletzungssorgen für eine bessere Saison sorgen würden. Von UEFA-Cup bzw. Europa League war längst keine Rede mehr. Die Neuzugänge Karim Haggui, Constant Djakpa, Sofian Chahed und Valdet Rama klangen zwar international, aber nicht unbedingt nach internationaler Klasse. Doch was soll man auch erwarten, wenn Kind vorgibt nur ablösefreie Spieler oder Spieler auf Leihbasis zu verpflichten?

Dafür hatte der neue Manager auf persönlicher Ebene gleich einen guten Einstand. Er ließ sich uneingeladen beim UH-Turnier blicken, um die aktive Fanszene so schnell wie möglich kennenzulernen. Einen Kracher für die 1.Mannschaft konnte er bei dem Spaßturnier allerdings nicht scouten. Um Lokalgrößen wie RSE, HSC und VfV zu bezwingen, reichte der 96-Kader auch noch aus, aber der Sechstligist Anker Wismar war vor 60 Zeugen aus Hannover im schönen Kurt-Bürger-Stadion schon eine Nummer zu groß. Wenn die 1:2 Niederlage dort wenigstens unglücklich gewesen wäre…

Gegen so eine traurige Truppe wie 96 verausgabte sich der „Summer of Champions“ Gegner Arsenal FC kein Stück und gewann bei chancenlosen 96ern viel zu niedrig mit 1:0. Schön an diesem Spiel war nur Michael Tarnats Einwechslung kurz vor Schluss, so dass 96 seine beschämende Nummer vom Frühsommer wieder minimalst gutmachte. Tarnat wurde im Gegensatz zu Hecking auch gefeiert und der Trainer sollte schon wenige Tage später weiteren Unmut erzeugen. In der ersten Pokalrunde war 96 1:3 nach Verlängerung beim Viertligisten Eintracht Trier ausgeschieden. Der Mob war außer sich, aber die lokale Polizei ließ die Hunde los, so dass die Belagerung des Mannschaftsbusses gewaltsam aufgelöst wurde.

Dieter Hecking war nun so beliebt bei uns wie Jar Jar Binks bei Star Wars Fans. Leider hatte er volle Rückendeckung vom Großen Vorsitzenden und durfte am 1.Spieltag der Bundesligasaison weiter an der Seitenlinie dilettieren. Schwache Herthaner gewannen heute gegen noch schwächere Hannoveraner 1:0 und den Tag gerettet hatte nur die Berliner Biermeile auf der Karl-Marx-Allee. Hunderte Biere aus aller Welt erwarteten den durstigen Besucher, von denen immerhin 28 probiert wurden. Natürlich immer nur 0,2l, wir sind doch ganz normale Menschen mit ganz normalen Leberwerten.
Erstes Heimspiel und Hannover empfing Mainz. Die 05er waren just aufgestiegen und tauschten trotzdem noch vor dem 1.Spieltag ihren Aufstiegstrainer Jörn Andersen gegen den A-Jugendtrainer Thomas Tuchel, weil sie nicht mehr überzeugt waren vom bisherigen Erfolgstrainer. Siehst du Martin, so kann man es auch machen. Aber gut, der Fußballlaie aus Großburgwedel war bekanntlich nach wie vor von Dieter Hecking überzeugt. Das war die Krux und deshalb wird das heute postulierte Saisonziel der Nordkurve wohl auch nicht erreicht. 55 Punkte wurden via Choreographie gefordert, um mit jenen Punkten auch endlich in der Ewigen Bundesligatabelle Niedersachsens Nr. 1 zu sein. Nach Abpfiff fehlten dann nur noch 54 (1:1) und es schallte wieder „Hecking raus“ durch das Stadion.

Nach dem Punktgewinn (anders kann man es ja nicht sagen) gegen Aufsteiger Mainz 05 riefen Kind und Schmadtke zum Krisengespräch und während der Diskussion, wie denn der Turnaround zu schaffen sei, muss Hecking an den 34.Spieltag der Vorsaison gedacht haben. Er trat zurück. Eine Fanszene konnte aufatmen. Es gab 1,5 starke Jahre unter Hecking, aber jedem musste klar sein, dass der Mann in Hannover nicht mehr daran anknüpfen wird.
Da Kind den Rücktritt wirklich bedauerte und nicht forciert hatte, gab es keinen Nachfolgeplan in der Schublade. Also übernahm U23-Coach Andreas Bergmann die 1.Mannschaft und in Nürnberg feierte er einen Einstand nach Maß. 2:0 durch zwei Stajner-Tore gewann eine befreit aufspielende 96-Equipe. Mit dem Auswärtssieg im Rücken starteten die Roten auch bei Bergmanns Heimpremiere gegen die TSG Hoffenheim stark, doch der ivorische Neuzugang Didier Ya Konan ließ beste Chancen ungenutzt. Dürfte seinen Grund haben, warum der bei Rosenborg BK nicht mal Stammspieler war und in der norwegischen Tippeligaen bescheidene 13 Tore in 50 Spielen schoss, dachte ich mir. 0:1 stand es am Ende, aber 96 spielte gefällig und Interimstrainer Bergmann wurde nach dem Spiel zum Cheftrainer mit Vertrag bis Saisonende befördert.

Ein 0:0 in Bremen (mit fiesen Riots im Viertel) und ein 1:1 gegen den BVB (Ya Konans erstes Tor) schienen die Entscheidung der Verantwortlichen zu bestätigen. Frohen Mutes ging es nun nach Wolfsburg. Doch in der Provinz war wie so oft nichts zu holen. 96 hielt gut dagegen, aber der amtierende Deutsche Meister (man schüttelt sich immer noch beim Schreiben) war vor dem Tor effizienter. Die Niederlage wurde zum Glück im nächsten Spiel egalisiert, da man den SC Freiburg locker flockig mit 5:2 zurück in den Breisgau schickte. Es trafen ein überragender Bruggink (ja, ist denn heut‘ schon Rückrunde?), Sergio Pinto und die drei Neuen Chahed, Haggui und Ya Konan. Letzterer lässt zwar weiterhin unheimlich viele Chancen liegen, aber solange er trotzdem in jedem zweiten Spiel trifft, soll uns das Recht sein.

Im nächsten Spiel, auswärts bei Eintracht Frankfurt, vergab der Ivorer mit Potential zum kommenden Publikumsliebling leider wieder alle seine Chancen. So reichte ein Tor des ewigen Publikumslieblings „Jürgen“ Stajner in einem Spiel auf Augenhöhe leider nur zu einem 1:2. Ya Konan sollte es die Woche darauf besser machen und schoss das Tor des Tages gegen den VfB Stuttgart. Das passende Ergebnis, um gut gelaunt zur 10-Jahres-Feier der Gruppierung „Roter Infarkt ’99“ ins Bad zu pilgern. Der weite Weg zu diesem Veranstaltungszentrum „jwd“ verursachte noch mehr Durst als eh schon und die Zeitumstellung zwang einen noch eine Stunde länger zu bleiben. So ein Ärger aber auch.
Der wunderschöne HSV hatte mittlerweile Gefallen am Siegen gefunden und krönte eine gelungene Auswärtsfahrt nach Köln (inklusive schöner Choreo) mit dem nächsten 1:0 Sieg (diesmal Tor Rosenthal nach Vorarbeit Ya Konan). Es hatte sich, so schien es, eine gute Stammelf gefunden und unser Nationaltorwart Robert Enke gab nach längerer Pause auch wieder sein Comeback zwischen den Pfosten des 96-Tores. Ein 2:2 gegen den anderen HSV der Liga festigte den hart erkämpften Mittelfeldplatz (wieder mal Stajner und Ya Konan) und alle sahen 96 auf einem guten Weg.

Was dann passierte, lässt sich auch Jahre später noch nicht richtig in Worte fassen. Unsere Nr.1 Robert Enke beschloss zwei Tage nach dem Hamburg-Spiel aus dem Leben zu scheiden. Die Nachrichtenmeldung am Abend seines Suizids schüttelte jeden 96-Fan durch. Es war alles so unbegreiflich und viele hatten spontan den Gedanken diesen Schock im Kollektiv am Stadion zu verarbeiten bzw. es zu versuchen. Hunderte Fans legten Blumen oder Fandevotionalien nieder, zündeten Kerzen an und versuchten einander Trost zu spenden. Mit Robert Enke war nicht nur ein großer Sportler von uns gegangen, wir verloren auch einen der wunderbarsten Menschen, den wir im 96-Trikot bewundern durften. Robert Enke nahm sich wirklich für alle Fanwünsche Zeit und darüberhinaus interessierte er sich auch für die Menschen, die die 96 im Herzen trugen. In Gesprächen mit ihm merkte man schnell, dass er einen ganz anderen Horizont als viele seiner Kollegen hatte und dazu ein unglaublich netter Kerl war. In Trainingslagern oder nach dem Training in Hannover suchte er manchmal gar selbst von sich das Gespräch und viele Fans aus der Szene kannte er namentlich. Seine andere Seite, das Leiden unter einer tückischen seelischen Erkrankung, blieb allen verborgen. Nur seinen wichtigsten Menschen im Leben vertraute er sich an und kein anderer ahnte auch nur etwas.
Am Tag nach seinem Suizid fand eine Trauerandacht in der Marktkirche statt und anschließend folgte ein Trauermarsch von über 30.000 Menschen zum Niedersachsenstadion. Die ganze Fußballwelt kondolierte und man entschied allen Fans noch einen Rahmen zu geben, um sich persönlich von ihrer Nummer 1 zu verabschieden. Am 15.November wurde Robert Enkes Sarg auf dem Rasen des Niedersachsenstadions aufgebahrt und viele prominente Menschen sagten viele richtig klingende Worte bei ihren Trauerreden und hatten den frommen Wunsch, dass sich das Profifußballgeschäft ein wenig ändern muss. Eine Veranstaltung, die im Nachgang unterschiedliche Bewertungen fand, aber ich tue mich mit richtig oder falsch in dieser Sache nach wie vor schwer.

Das erste Spiel nach der Tragödie führte uns nach Gelsenkirchen. Es konnte natürlich kein normales Spiel werden. Eine unerwartete Geste gab es im Vorfeld von Seiten der Polizei. Sie hob für dieses eine Spiel alle Stadionverbote in der 96-Fanszene temporär auf. In den Leuten, die in der Bewertung der Polizei ein potentielles Sicherheitsrisiko sind, wurde heute mal in erster Linie der Mensch gesehen. Mit ihnen waren es dann rund 2.000 Anhänger von 96, die den Weg in die Schalker Arena fanden. Optisch gab es nur ein Trauerbanner vor’m Block und eine schwarze Schwenkfahne mit einer #1 darauf im Block. Auf organisierten Support wurde auch verzichtet, was aber nicht hieß, dass man nicht lautstark mitfieberte und vor allem Florian Fromlowitz wurde unterstützt so gut es ging. 96 spielte übrigens sehr gut, hielt die Partie lange offen, aber in der Schlussphase kam die individuelle Klasse der Schalker durch (0:2).

Auch gegen Bayern München wurde eine Woche später gut mitgespielt, aber leider nicht in Sachen Effizienz mitgehalten (0:3). Es folgte ein starkes Spiel gegen Bayer Leverkusen, aber ein Tor wollte einfach nicht fallen, so dass die Werkself schmeichelhaft einen Punkt mit in die Farbenstadt nehmen durfte (0:0). Sportlich schlimm wurde es erst in Mönchengladbach, als 96 mittels insgesamt drei Eigentoren 3:5 im Borussia-Park verlor. Ab jetzt ging es endgültig abwärts, denn das nächste Heimspiel verlief ähnlich ungünstig. Der Tabellensechzehnte aus Bochum kam bei -20 Grad ins Niedersachsenstadion und wurde zunächst einmal Zeuge wie Jan Schlaudraff bei seinem Comeback die Roten zur 2:0 Pausenführung schoss. Doch in der 2.Hälfte war 96 vollkommen von der Rolle und verlor das Ding noch 2:3. Pünktlich zu Weihnachten war man im Abstiegskampf angekommen.

Der Januar begann mit einer schönen Testspielansetzung. 96 gastierte in der neuen Alten Försterei bei Union Berlin. Schon beachtlich wie Verein und Fans (mit eigener „Manpower“) hier den Stadionumbau gewuppt haben. Und natürlich gibt es hier weiterhin ganz viele Stehplätze. Die Mannschaft spielte leider unterirdisch und man verlor 1:2 gegen den Zweitligisten. Man ahnte Schlimmes für den Rückrundenauftakt gegen die andere Berliner Profimannschaft. Hertha BSC, in der Vorsaison sogar zwischenzeitlich auf Meisterkurs, hatte eine unterirdische Vorrunde gespielt. Sie waren mit 6 Punkten abgeschlagen Letzter und hatten ihren bisher einzigen Saisonsieg am 1.Spieltag gegen Hannover 96 errungen. Nun in Hannover folgte natürlich der zweite Saisonsieg und auch nicht mal knapp oder glücklich. Hertha spielte 96 regelrecht an die Wand und gewann 3:0. Unser Team rutschte nun auf den Relegationsplatz ab und die akute Abstiegsgefahr war nicht mehr wegzudiskutieren.

Für fast mehr Aufregung als die Mannschaftsleistung sorgte dennoch ein großes Banner in der Fankurve. Dort stand für alle Stadionbesucher und Fernsehzuschauer gut lesbar „Tod und Hass dem BTSV“. Für die lokalen Printmedien aus dem Verlagshaus Madsack, die seit Rangeleien zwischen Polizei und Ultras nach dem Auswärtsspiel in Mönchengladbach wieder eine große Anti-Ultrà-Kampagne fuhren, natürlich ein gefundenes Fressen und einer der größten Skandale in der Geschichte der so genannten Fankurve. Dieses Banner kam später noch zu weiterer bundesweiter Berühmtheit, da eine kommende Episode der ARD-Krimireihe „Tatort“ im Fußballmilieu angesiedelt war und dort das berüchtigte Hass-Banner bei einer Einstellung in voller Pracht zu sehen war. Applaus an das Produktionsteam!
Die Verantwortlichen von 96 hatten natürlich andere Sorgen als dieses Banner. Bergmann war mit sechs sieglosen Spielen in Folge in die Winterpause gegangen. Dennoch durfte er bleiben, die Mannschaft auf die Rückrunde vorbereiten und mit ihr gegen die schlechteste Mannschaft der Liga untergehen. Nun waren seine Tage in Hannover doch gezählt und ein alter Bekannter übernahm. Mirko Slomka, einst Jugendtrainer und Co-Trainer in Hannover und immer noch in der Region Hannover seßhaft, wurde der neue Cheftrainer von Hannover 96. In Hannover im zweiten Glied und auf Schalke als Cheftrainer war der Mann nicht unerfolgreich und Lokalkolorit brachte er auch mit. Vielleicht noch die beste Lösung bei all den Namen die sonst so kursierten, auch gerade perspektivisch.

Dennoch machte unser HSV dort weiter, wo er unter Bergmann aufgehört hatte. Bei Slomkas Debüt ging es nach Mainz und jene seit sechs Spielen sieglosen Rheinhessen bekamen mit 96 den richtigen Aufbaugegner (0:1). Und auch sein Heimdebüt gegen die mittlerweile von Dieter Hecking gecoachten Nürnberger ging in die Hose. Der direkte Konkurrent (Vorletzter in der Tabelle) gewann 3:1 gegen 96 und war jetzt bis auf einen Punkt an jenes Hannover 96 in der Tabelle herangerückt. Die Verantwortlichen griffen nun zur prinzipiell letzten Option und schlugen kurz vor dem Ablauf der Wechselfrist nochmal auf dem Transfermarkt zu. Zum bereits Anfang Januar von Moskau ausgeliehenen Verteidiger Jan Durica gesellten sich noch Spielmacher Elson (vom VfB Stuttgart geliehen) und Stürmer Arouna Koné (vom Sevilla FC geliehen).

Die beiden Neuen versprühten in Hoffenheim schon erste Hoffnung, aber ihre Ko-Produktion zum einzigen 96-Treffer des Tages reichte nicht aus. Die Roten verloren 1:2 in Sinsheim. Und danach wurde es ganz bitter. Zunächst hieß es zuhause 1:5 gegen Werder Bremen und dann wurde 1:4 in Dortmund verloren. Wenigstens im Fanblock stimmte es bei beiden Spielen. Die Botschaft war klar; wir stehen trotzdem hinter euch. Dass diese Mannschaft und diese Saison nach dem tragischen Freitod von Robert Enke nicht nach den üblichen Maßstäben bewertet werden konnte, war eigentlich jedem Fan bewusst.
Dann sahen wir endlich wieder eine starke Leistung auf dem Platz, doch eine wie ausgewechselt spielende 96-Mannschaft traf das Tor gegen den VfL Wolfsburg einfach nicht und es kam wie es kommen musste, das Tor des Tages schoss das Tochterunternehmen des VW-Konzerns. Ausgerechnet mit dieser unglücklichen Niederlage ging es erstmals runter auf einen direkten Abstiegsplatz (17.). Nichtsdestotrotz war die Hoffnung eher befeuert worden, denn erloschen und ungewöhnlich viele 96-Anhänger (1.500) traten die Reise zum nächsten Auswärtsspiel nach Freiburg an. Viele in von der „Roten Kurve“ organisierten und der Mannschaft finanzierten Fanbussen. Ich bestieg direkt nach einer Cebit-Standparty einen autonomen Fanbus und war bei Ankunft in Freiburg entsprechend gerädert (wie fast alle im harten Kern). Dennoch waren ab Anpfiff alle wieder agil und hochmotiviert unsere Farben zum überlebenswichtigen Sieg zu schreien. Der Ball sollte regelrecht von unserem Tor weg und ins andere Tor hinein gebrüllt werden. Jedenfalls klang es so.

Mit 0:0 ging es in die 2.Hälfte und in der 63.Minute machte Elson das 1:0 für Hannover 96. Das löste die Anspannung nur kurz, denn bereits sieben Minuten später stand es 1:1. Doch in der 73.Minute führte 96 durch ein Eigentor von Cisse plötzlich erneut. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle und die kommenden 20 Minuten wurde noch mehr geschrien als eh schon. Gerade Freiburgs Unglücksrabe Cisse und Ex-96er Idrissou hatten noch Chancen auf den erneuten Ausgleich, doch endlich war das Glück mal wieder auf unserer Seite. Grenzenlos war der Jubel nach Abpfiff und mehr als gut gelaunt wurde die lange Heimreise angetreten. Stellt die Maschinen noch nicht ab, der Patient 96 lebt!
So richtig was wert war der Sieg in Freiburg natürlich nur, wenn zuhause gleich nachgelegt wird. Eine frühe und den Mob erleichternde Führung durch Andreasen (14.Min) konnte die SGE quasi mit dem Pausenpfiff ausgleichen. Zum Glück steckte 96 das psychologisch ungünstige Gegentor gut weg und Sergio Pinto schoss heute das Siegtor für unseren HSV. Pinto avancierte in dieser Rückrunde sowieso zu einem ganz wichtigen Spieler im Mittelfeld, inklusive sichtbaren Führungsqualitäten.

Da es in Freiburg soviel Glück brachte und Stuttgart ja auch in Baden-Württemberg liegt, wurde zum Auswärtsspiel beim VfB wieder Bus gefahren und abermals mitten in der Nacht gestartet. Erneut waren vormittags bei Zielankunft die meisten Businsassen ziemlich gerädert. Es gab nun mit mehreren Busbesatzungen einen großen „Chill-Out“ am Schlossplatz und die etwas fitteren Genossen machten einen Stadtbummel durch die Hauptstadt des so genannten Ländle. Danach wurde sich noch ein anerkennendes Lob im Clubhaus des PSV Stuttgart abgeholt („Wir haben hier jedes Jahr alle 17 Gästefanszenen sitzen, aber niemand säuft soviel wie Hannover“) und dann ging es rauf auf die Baustelle Gottlieb-Daimler-Stadion. Dort war wie immer nichts zu holen für 96. Doppelt ärgerlich, da an diesem Spieltag auch Freiburg gewann und ebenso die totgeglaubte Hertha ein Lebenszeichen sendete.
Musste eben ein Heimsieg gegen ebenfalls in Abstiegsgefahr befindliche Kölner her. Doch es stand bereits 0:3 zur Pause und die Leistung war erschreckend schwach. Ganz finsterer Rückfall und nachdem es nach 90 Minuten 1:4 stand, war der HSV von 1896 wieder auf einen direkten Abstiegsplatz abgerutscht. Weil diesmal auch die Leistung kein Stück stimmte, musste die Mannschaft sich rund 100 besorgten Fans stellen. Das Ganze lief verhältnismäßig zivilisiert ab und man schwor sich gemeinsam ein bis zum Ende zusammen alles zu geben, anstatt sich jetzt aufzureiben.

Eine kleine Ernte fuhr der Pakt von Mannschaft und Fans bereits in Hamburg ein, wo man sich vom anderen HSV 0:0 trennte. Zwei Punkte weniger als erhofft, aber wer weiß, vielleicht entscheidet der heute ergatterte Punkt noch über Abstieg oder Klassenerhalt. Besonders loben musste man an diesem Sonntagnachmittag noch einige Hamburger Fans, namentlich „Poptown 98“, die nach Abpfiff ein riesiges Plakat im Heimsektor entrollten auf dem „Hannover 96, du wirst niemals untergehen“ stand. Tolle Geste und auch sonst wünschten viele Hamburger uns Glück und sprachen Mut zu für die Mission Klassenerhalt.
Im nächsten Heimspiel wartete eine denkbar schwere Aufgabe auf 96. Schalke 04 kam als Tabellenzweiter nach Hannover und konnte mit einem Sieg die jüngst verlorene Tabellenführung wieder übernehmen. Wir sahen nun eine Dramaturgie, die man sich kaum ausdenken kann. Zunächst zwang Schmiedebach (neben Pinto ein weiterer Durchstarter in dieser Rückrunde) Schalkes Westermann zu einem Eigentor (17.Min) und nach einer guten halben Stunde legte jener Schmiedebach das 2:0 durch Ya Konan auf. Das wurde zu einer unerwarteten Pausenführung und jeder mit dem ich sprach, war sich sicher, dass Schalke uns in der 2.Hälfte zerlegt. Gut, woher auch Selbstvertrauen schöpfen bei nur zwei Siegen im letzten halben Jahr?

Der Pessimist in meinen Freunden und mir wurde gleich nach Wiederanpfiff gefüttert. Schalke stellte nach 46 Minuten den Abschluss her und bereits in der 52.Minute stand es nach einem Foulelfmeter für S04 2:2. Eine 2:4 oder 2:5 Klatsche schien nun unausweichlich. Nie im Leben würde 96 hier ins Spiel zurückfinden können. Doch irren kann so schön sein. Die Roten drangen genau wie Schalke tatsächlich auf ein weiteres Tor. Es gab Chancen hüben wie drüben, doch sowohl die königsblauen Angreifer als auch Koné, Elson und Ya Konan auf unserer Seite brachten den Ball zunächst nicht im Netz unter. In der 80.Minute lochte dann Balitsch von der Strafraumgrenze für 96 ein und in der Fankurve stapelten sich alle übereinander. Jetzt hieß es zehn Minuten Bangen und Zittern, denn Schalke warf alles nach vorn und wollte mindestens einen Punkt mitnehmen. Doch viel Kampf und das nötige Quentchen Glück hielten das 96-Gehäuse geschlossen, bis Ya Konan einen Entlastungsangriff in der Nachspielzeit zur endgültigen Entscheidung vollendete. 4:2 gegen Schalke 04! Ich überrasche wohl niemanden, wenn ich verrate, dass dieser Sieg noch exzessiv in der hannoverschen Altstadt gefeiert wurde.
Leider blieb das Restprogramm undankbar, denn als nächstes ging es zu den Bayern, welche mit Schalke 04 um die Meisterschaft rangen. Das Ganze wurde leider zum Debakel. 96 ging 0:7 unter und in Gelsenkirchen dürften sie uns jetzt endgültig lieben gelernt haben. Auch die Woche darauf wurde es nicht besser. 96 musste wieder auswärts ran und beim Champions-League-Aspiranten Bayer 04 war ebenso rein gar nichts zu holen (0:3). Dennoch wurde der Mannschaft nach Abpfiff Mut zugesprochen und das beherzte Zureden einer Szenegröße auf Mike Hanke schaffte es sogar in Stefan Raabs Sendung „TV Total“.
Am 1.Mai tat die Mannschaft von Mirko Slomka was sie tun musste und zeigte der Welt, dass sie immer noch nicht am Ende ist. Ganz im Gegenteil, die 6:1 Demontage von Borussia Mönchengladbach dürfte Fans und Funktionäre in Bochum und Nürnberg schockiert haben. Sie katapultierte 96 nicht nur von Platz 17 auf Platz 15, sondern Haggui, Pinto, Ya Konan, Hanke, Chahed und Bruggink sorgten nun auch für ein besseres Torverhältnis gegenüber der Konkurrenz. Mit diesem Sieg hatte Hannover 96 es wieder in der eigenen Hand und ein absolutes Endspiel in Bochum am letzten Spieltag.

Der 8.Mai 2010 wurde zum „Decision Day“. In weiser Voraussicht hatten Tausende 96er schon seit Monaten den Kartenshop des VfL Bochum leer gekauft und rund 12.000 Hannoveraner pilgerten zum Ruhrstadion. Alle in rot und viele davon waren beim pyrolastigen Fanmarsch vom Bahnhof zum Stadion dabei. In Stadionnähe musste ich mir dann noch ein schnelles Helles gönnen und landete dazu in einer Hotel-Lobby. Dort ebenfalls am Pils naschen: Schauspiellegende und Bochum-Fan Jupp Fellensiek, stilecht in Lederjoppe mit Manta Manta Schriftzug. Da begegnet man ausgerechnet heute einem seiner größten Idole und muss dem leider alles Schlechte wünschen. Denn heute durfte es nur einen Sieger geben: Alles auf Rot!

Sah schon genial aus, wie 40% des Stadions in rot getaucht waren. Nach den fulminanten letzten Heimspielen gegen Schalke und Gladbach war Heimspielatmosphäre genau die richtige Basis für die Mannschaft, um nochmal Großes auf den Rasen zu bringen. Und die sportliche Ausgangssituation tat ihr Übriges. Bochum hatte zuletzt am 13.Februar gewonnen, ihr Trend war katastrophal und sie mussten unbedingt gewinnen, um überhaupt noch auf dem Relegationsrang zu landen. Hannover 96 hätte für jenen 16.Platz heute ein Unentschieden gereicht. Aber das Ziel war natürlich siegen und sicher erstklassig bleiben. Folglich stand man erstmal tief, ließ die Bochumer anlaufen und schaltete bei Balleroberung blitzschnell um. Bereits in der 9.Minute schloss Arnold Bruggink einen dieser Konter volley zum 1:0 ab und in der 24.Minute war es unser „Rückrunden-Arnold“, der Mike Hanke das 2:0 auflegte. „GTI-Mike“, seit der Motivationsansprache am Zaun nach dem Leverkusenspiel wie ausgewechselt, knipste nun schon das zweite Spiel in Folge. Bochum blieb danach bemüht nach vorne zu spielen, aber vor’m Torwaren sie zu harmlos. Es war in 45.Minute den beiden Rückrunden-Gewinnern Schmiedebach und Pinto vorbehalten, frühzeitig den Deckel drauf zu machen. Schmiedebach rannte mit der Kugel am Fuß über das halbe Feld und spielte im richtigen Moment Pinto im Strafraum an, der aus 12 Metern frei am Torwart vorbeischieben konnte.

3:0 zur Pause und trotz allem, was wir an Rückschlägen und Achterbahnfahrten in den letzten Monaten erleben mussten: Hier konnte nichts mehr anbrennen, da waren wir uns sicher! Dementsprechend war nochmal 45 Minuten pure Feierei angesagt. Hatten wir uns alle verdient. Bochum blieb bis zum Schlusspfiff harm- und ideenlos und Slomkas Jungs mussten nur noch das Ergebnis verwalten. Da war heute zwischen beiden Teams wirklich ein Klassenunterschied und der VfL somit auch der verdiente Absteiger. Als der Schiedsrichter endlich abpfiff, saßen natürlich schon etliche Fans auf dem Zaun und feierten mit der Mannschaft, denen eine Zentnerlast abgefallen war. Besonders unserem Torwart Florian Fromlowitz. Dass die Bochumer Fans Fahnen verbrannten und einige den Platz stürmten, nahm man nur am Rande wahr. Man war viel zu sehr auf den eigenen großen und sehr emotionalen Moment fokussiert.
Zur abendlichen Nichtabstiegsfeier im Niedersachsenstadion schafften es dann leider nur Individualreisende, aber mit dem WET-Mob eine feuchtfröhliche Party in diversen Nahverkehrszügen zu feiern, war nicht minder schön. Es ging noch lange weiter in den Straßen, Kneipen und Diskotheken Hannovers, ehe einem sonntags auf dem Heimweg fromme Kirchgänger entgegen kamen. Wie passend, wo man doch gerade erst selbst zurück zum Glauben an den Fußballgott gefunden hatte.
33 Punkte / Platz 15 / 2 Punkte auf Platz 16 / 24 Punkte auf Platz 5 / 43:67 Tore / Meiste Auflaufprämien kassiert: Christian Schulz (33x) / Meiste Torprämien kassiert: Didier Ya Konan (9x) / Zuschauerschnitt: 38.247
Moin: Constantin Djakpa (Bayer Leverkusen), Karim Haggui (Bayer Leverkusen), Valdet Rama (FC Ingolstadt), Sofian Chahed (Hertha BSC), Didier Ya Konan (Rosenborg BK), Arouna Kone (FC Sevilla), Elson (VfB Stuttgart), Jan Durica (Lokomotive Moskau).
Tschüss: Bastian Schulz (1.FC Kaiserslautern), Frank Fahrenhorst (MSV Duisburg), Gaetan Krebs (Karlsruher SC), Michael Tarnat (Laufbahn beendet), Valerien Ismael (Laufbahn beendet).