Łódź (Lodsch) 05/2022 (I)

  • 03.05.2022
  • Łódzki KS – RTS Widzew Łódź 0:1
  • I Liga (II)
  • Stadion Miejski w Łodzi (Att: 15.998)

Samstagmittag, Stadionzeit… ächzte Kevin Russell von den Böhsen Onkelz zumindest in den 1980er Jahren gerne in sein Mikrofon. Nur warum schreibe ich das? Heute war weder Samstag, noch käme ich nüchtern auf die Idee die Onkelz zu hören. Aber bei mittlerweile 225 Reiseberichten auf Schneppe Tours, fallen einem irgendwann einfach keine gescheiten Einleitungen mehr ein und man gleitet in die Absurdität ab. Wobei, der zitierte Beginn des Songs “Fußball & Gewalt” passt eigentlich ganz gut. Denn heute war Derby in Łódź (Lodsch) und die Gelehrten streiten sich immer noch, welches Lokalderby in Polen nun das krasseste ist. Kraków oder Łódź? Das eine ist zwar der Święta Wojna (Heilige Krieg), aber das andere heißt jetzt zumindest bei mir Dritter Weltkrieg.

Bahnhof Warszawa-Zachodnia

So nannte es jedenfalls ein beruflicher Kontakt aus der Nähe von Łódź, den ich bat mir eine VIP-Karte für das Spiel zu besorgen (ohne Konto bei einer polnischen Bank konnte man den Onlinevorverkauf nicht nutzen, weshalb ich einen Wolontariusz benötigte). War schon ein witziger Dialog. Der Fußball in Polen sei schlecht und ŁKS spiele nicht mal in der Ekstraklasa, ob ich im Urlaub nicht etwas Sinnvolleres anstellen wolle? Ich entgegnete, dass mir das bewusst sei, aber das Stadion gerade neueröffnet wurde und außerdem ein wichtiges Spiel anstünde. Als die Katze in Sachen Ansetzung aus dem Sack war, war der gute (und relativ fußballferne) Mann ziemlich entgeistert. “Gegen Widzew? Gegen Widzew??? Saša, weisst du was da los ist? Saša, du kannst da nicht hin! Das ist kein Fußballspiel, das ist der Dritte Weltkrieg!” Normale Menschen würden an diesem Tag nicht nach Łódź fahren, normale Menschen würden Łódź verlassen oder zuhause bleiben, führte mein polnischer Gesprächspartner weiter aus. Ich versprach extrem vorsichtig zu sein und würde schließlich auch extra im VIP-Bereich sitzen, wo es hoffentlich gesittet zuginge.

Ein Wandbild von Nunca aus dem Jahr 2014

Auf jeden Fall müsse man bei diesem Duell penibel auf seine Farbwahl achten. Mit einem weißen Oberteil solle man besser nicht in die Nähe des Widzew-Haufens geraten und rote Oberbekleidung verursache Komplikationen im ŁKS-Anhang, merkte mein Helfer an. Weil man als Einziger in Jägergrün, Miloriblau oder Gummigutta jedoch auch unangenehm auffällt, trägt man als Besucher im VIP-Bereich wohl entweder Anzug (wollte aber nicht schon wieder einen mitschleppen) oder die Farbe des Gastgebers, dachte ich mir. Höchst unschuldig gewandet trat ich nun also die Reise von Warszawa nach Łódź an. Weiterhin nur faire 27 Złoty (knapp 6 €) ruft die Bahn für die rund 120 Schienenkilometer auf.

Drei Wiesel vom belgischen Künstler Roa

9:46 Uhr war Abfahrt in Warszawa-Zachodnia und 10:59 Uhr stieg ich in Łódź-Fabryczna aus dem Zug. Eigentlich wollte ich nun ins Muzeum Sztuki w Łodzi und mir dort zeitgenössische Kunst anschauen. Jedoch war dieses Museum feiertagsbedingt geschlossen. Zum Glück ist die ganze Innenstadt von Łódź eine riesige Kunstgalerie unter freiem Himmel und ich kam mittels Flanieren genauso auf meine Kosten. Das ist schon top, was in Łódź an den Fassaden für Meisterwerke auf den Besucher warten. Begeistert mich jedes Mal auf’s Neue. Insgesamt über 70 „offizielle“ Wandbilder von namhaften nationalen und internationalen Künstlern wie Proembrion, M-City, Etam (alle Polen), Os Gêmeos, Eduardo Kobra, Nunca (alle Brasilien) INTI (Chile), Aryz (Spanien), Vhils (Portugal), Roa (Belgien) oder Remed (Frankreich) gibt es zu entdecken.

Eduardo Kobras Portrait des Pianisten Artur Rubinstein

Aber nicht nur Wandbilder wissen den kunstsinnigen Besucher zu begeistern. Ebenfalls gibt es einige Skulpturen und Installationen im Stadtbild. Beispielsweise die Pasaż Róży, in welcher die Gebäudefassaden von der Künstlerin Joanna Rajkowska komplett mit Spiegelscherben versehen wurden. In einer parallelen, aber weniger schmucken Passage, wollte ich dann gegen 13 Uhr mein Mittagessen genießen. Doch leider hatte das armenische Restaurant Lavash seine Pforten noch geschlossen. Die Tische eindeckende Kellnerin konnte mir komischerweise keine verbindliche Öffnungszeit nennen und gab mir stattdessen den Tipp das nahe georgische Restauracja Gruzińska aufzusuchen, welches dem selben Besitzer gehören würde und bereits geöffnet hätte. Wollte erst fragen, ob man um die Ecke auch ein aserbaidschanisches Speiselokal namens Azerski betreiben würde, aber hin und wieder stoßen meine rudimentären Polnischkenntnisse doch an ihre Grenzen.

Die Pasaż Róży

Na ja, im Gruzińska gab es auch die ganzen kulinarischen Klassiker der Kaukasusregion und ich war zufrieden, als eine Flasche Borjormi und Krautwickel im Tontopf (mit Kartoffeln, Tomaten und Backpflaumen) auf dem Tisch standen. Am Ende war ich umgerechnet 10 € los und erstmal gesättigt. Nun wollte weiter der Schöngeist in mir befriedigt werden und deshalb suchte ich den Pałac Izraela Poznańskiego (Izrael-Poznański-Palast) auf. Der so genannte Louvre von Łódź ist ein herrschaftlicher Palast, den sich der steinreiche Textilfabrikant Izrael Poznański im 19.Jahrhundert errichten ließ. Dass die Geschäfte seinerzeit gut liefen, zeigt Poznańskis einstige Residenz außen wie innen eindrucksvoll. Heute beherbergt der Palast das Stadtmuseum, in welches ich für 18 Złoty (ca. 3,80 €) eintreten durfte. Im ersten 1.OG konnte ich nun zahlreiche Säle und Gemächer besichtigen (weitgehend im Originalzustand), während sich im EG der Familien- und Firmengschichte der Poznańskis gewidmet wird.

Kaukasische Krautwickel nebst Beilagen verbergen sich in diesem Tontopf

Im UG erwartet einen schließlich die eigentliche stadtgeschichtliche Ausstellung, die besonders das bis ins Jahr 1939 herrschende multikulturelle Leben in Łódź lebendig machen möchte. Aber auch die Weltkriege und die Łódźer Nachkriegsgeschichte bis in die Gegenwart kommen nicht zu kurz. Dabei ist eine Besonderheit, dass Polens drittgrößte Metropole (gegenwärtig circa 700.000 Einwohner) vor rund 200 Jahren noch ein kleines zentralpolnisches Dorf mit ein paar Holzhäusern war. Beim Wiener Kongress im Jahre 1815 wurde die Gegend um Łódź allerdings dem so genannten Kongresspolen zugeschlagen, welches fortan de facto Teil des Russischen Zarenreichs war. Dabei nutzte der Zar seine neue Provinz als eine Art Experimentierfeld für liberale Ideen, die für sein russisches Kernreich, welches immer noch sehr in den feudalen Strukturen des Mittelalters verharrte, erstmal eine Spur zu krass wirkten.

Doch in Łódź und anderen polnischen Musterstädten durfte sich die freie Marktwirtschaft ruhig schon mal austoben. Den Unternehmern war es dabei erlaubt qualifizierte Ausländer anzuwerben und besonders böhmische, sächsische und schlesische Weber folgten aufgrund ihrer äußerst prekären Lebensverhätnisse dem Werben aus Zentralpolen. Der Zar verlockte dabei mit Befreiung vom Militärdienst, sechs Jahren Steuerfreiheit und einem Rückkehrrecht in die Heimat. In den 1820er Jahren entstanden nun erste Textilfabriken in Łódź, die im Zuge der Industrialisierung jede Menge Gesellschaft bekamen und i. d. R. sowohl einen deutschen Eigentümer, als auch eine vorwiegend deutsche Belegschaft auswiesen. Da der Bedarf an Arbeitskräften enorm war, siedelten sich ab Mitte des 19.Jahrhundert schließlich auch vermehrt Polen und Juden in der Boom Town an und Łódź bekam seine multikultirelle Prägung. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914) lebten bereits über 500.000 Menschen im Manchester Polens (ca. 51 % Polen, 32 % Juden, 15 % Deutsche und 2 % Sonstige), die fast alle direkt oder indirekt von der hiesigen Textilindustrie lebten.

Eine Backsteinschlucht aus dem 19.Jahrhundert

Allerdings soll jetzt kein falscher Eindruck von der zaritischen Herrschaft über Polen entstehen. Die Liberalität bezog sich wirklich in erster Linie auf die Marktwirtschaft und so etwas wie Presse- oder Meinungsfreiheit waren da selbstverständlich nicht mitinbegriffen. Politische Unruhen im vom Zarenreich annektierten Teil Polens wurden jedes Mal mit aller Härte niedergeschlagen und anschließend zog man die Repressionsschrauben und die Russifizierungspolitik in der widerspenstigen Provinz weiter an. Die historische Belastung der polnisch-russischen Beziehungen rührt also nicht nur aus den Jahren 1939 bis 1989.

Auch in Bronze gegossen gibt es den Rubinstein in Łódź

Nach dem Ersten Weltkrieg konnte man sich jedoch vorerst von Moskau bzw. Sankt Petersburg lösen. Łódź wurde Teil der neu geschaffenen Zweiten Polnischen Republik und viele deutschstämmige Bürger wanderten in den Folgejahren ins Deutsche Reich ab. Im Zweiten Weltkrieg fiel wiederum die jüdische Bevölkerung fast vollständig dem Genozid der deutschen Besatzer zum Opfer und nach Kriegsende wurde der Rest der deutschen Minderheit vertrieben. Entsprechend war Łódź ab 1945 eine ethnisch und religiös sehr homogene Stadt, deren Bürger sich wiederum einem tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel durch die Schaffung einer realsozialistischen Diktatur unterwerfen mussten. Städtebaulich wurden Großsiedlungen in Plattenbauweise hochgezogen und das historische Zentrum zerfiel derweil zusehends. Auch nach der politischen Wende 1989 benötigte die Stadt eine Weile, um wirtschaftlich wieder in Schwung zu kommen. Doch in jüngerer Vergangenheit wurden die Innenstadt und die alten Fabrikgelände erfolgreich revitalisiert.

Unterwegs im Quartier Manufaktura

Poznańskis altes Fabrikgelände, welches gleich an seinen ehemaligen Palast grenzt, wurde in den letzten Jahren beispielsweise zum größten Einkaufs- und Freizeitzentrum Polens umgebaut. Die ehemaligen Fabrikhallen wurden aufwendig restauriert und mit zahlreichen gastronomischen, kulturellen oder sportlichen Angeboten versehen. Ergänzend wurde eine riesige Shopping Mall errichtet und ein Multiplexkino durfte bei jenem Bauvorhaben ebenfalls nicht fehlen. In diesem Manufaktura genannten Konsum- und Vergnügungsquartier gönnte ich mir nach dem Museumsbesuch gegen 16 Uhr erstmal Kaffee und Kuchen.

Kaffeezeit mit schokoladigen Gaumenfreuden

Nach der Kaffeepause ging es durch Stare Polesie (Alt-Polesie) per Spaziergang zum Stadion. Dabei gab es für mich weiterhin jede Menge Fassadenmalerei zu entdecken. Zwar war die künstlerische Qualität nicht mehr ganz internationales Topniveau, aber der Subtext dafür um so deutlicher. Hier in Stare Polesie regiert ŁKS und sonst keiner. Nahezu jede Mauer, jede Fassade und jeder Hinterhof waren mit den Insignien des Łódźki Klub Sportowy verziert. Manche Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte alt. Andere dagegen frisch gepinselt oder gesprüht. Dieses Viertel hat einen rauen, aber auf mich durchaus anziehenden Charme.

Um 17 Uhr und damit genau eine Stunde vor Anpfiff, erreichte ich schließlich das frisch fertiggestellte Stadion Miejski w Łodzi. An diesem Ort wurde das alte städtische Stadion 2014 abgetragen und zunächst nur mit der heutigen Haupttribüne ersetzt. Weil ŁKS 2013 zahlungsunfähig geworden war und in der 5.Liga neustarten musste, blieb jener provisorische Zustand einige Jahre erhalten. Bei meinem Erstbesuch im Juli 2018 musste ich deshalb auch noch mit einer Tribüne vorliebnehmen. Allerdings wurde nach dem damaligen Zweitligaaufstieg von ŁKS beschlossen, dass die Bagger wieder rollen und jedes Jahr eine Tribüne dazukommen soll. Die Pandemie verzögerte den Bau wahrscheinlich nochmals, aber im Vormonat konnten die Stadt als Eigentümer und ŁKS als Hauptnutzer endlich die große Einweihung feiern. 18.000 Zuschauer passen nun ins Stadion und heute war bis auf in den Pufferzonen jeder Platz besetzt (15.998 lautete die offizielle Zuschauerzahl).

Bevor ich das Stadion betrat, holte ich mir erstmal meine Akkreditierung ab. Denn dafür hatte ich nämlich auch eine Anfrage gestellt und die entsprechenden Unterlagen eingereicht. Aber bis zur Zu- oder Absage kurz vor’m Spieltag wollte ich lieber nicht warten und habe daher wie eingangs erwähnt jemanden vor Ort für den Erwerb eines regulären Besuchertickets eingespannt. Weil die Bestätigung meiner Akkreditierung dann tatsächlich 72 Stunden vor Anpfiff in mein Postfach trudelte (hatte ich schon gar nicht mehr mit gerechnet), wollte ich nun wenigstens einen Haken hinter meinem Namen auf der Medienvertreterliste. Nicht, dass der polnische Verband der Sportjournalisten noch denkt, da blockiert einer nur einfach ihre Medienplätze und mich deshalb auf seine Blacklist setzt.

Ankunft am Stadion

Den VIP-Bereich wollte ich mir trotzdem mal näher angucken. Schließlich habe ich dafür bezahlt! Aber mehr als ein Steak im Brötchen (VIP Silver bekam „nur“ Rustikales vom Grill gereicht) und eine Cola gönnte ich mir letztendlich nicht im Kreise der Wichtigen und war noch deutlich vor Anpfiff im Pressebereich. Denn von dort kann man tatsächlich besser Bericht erstatten und dafür war ich nun mal hier. Als erstes konnte ich notieren, welche Freunde der beiden Łódźer Fanszenen anwesend waren. Auf ŁKS-Seite fiel insbesondere die riesige Abordnung von Zawisza Bydgoszcz auf. Aber auch Gruppen von GKS Tychy und Lech Poznań waren anwesend. Im Gästeblock waren wiederum kleine Banner aus den Szenen von Wisła Kraków, Ruch Chorzów und Elana Toruń zu erspähen. Allerdings dürfte bei nur 900 Gästekarten lediglich eine symbolische Anzahl an Personen aus den verbündeten Fanlagern zugegen gewesen sein.

Kleine Stärkung vor dem Spiel

Der Gästeblock ließ die Anfangsphase des Spiels auch erstmal ruhiger angehen, während die rund 15.000 ŁKS zugeneigten Zuschauer gleich gut Gas gaben. Nachdem ganz im Sinne des hohen Feiertages heute – Święto Konstytucji Trzeciego Maja (Tag der Verfassung vom 3.Mai 1791) – in der 1.Minute die polnische Nationalhymne intoniert wurde, widmete man sich im Anschluss inhaltlich dem Łódzki Klub Sportowy. Die drei weiß-rot-weißen Tribünen sangen, klatschten und hüpften im Kanon. Anschließend machten alle gemeinsam Lärm, was schon mal recht beeindruckend für meinen Gehörgang war. Doch als die Widzewiacy sich sortiert hatten und ebenfalls ein paar Schlachtrufe schmetterten, war das für 900 Leute in Sachen Lautstärke ebenso aller Ehren wert. Aber gut, wenn zwei der besten Szenen des Landes ein Derby austragen, wäre alles andere irgendwie enttäuschend gewesen.

Selbst im VIP-Bereich sind Sturmhauben in Łódź en vogue

Die Rivalität hier in Łódź ist schon etwas besonderes und hat eine ganz andere Historie als jene in Kraków. Während man bei Wisła und Cracovia auf gemeinsame Wurzeln und über 100 Jahre Derbytradition zurückblicken kann, hatte Łódź lange nur seinen seinen 1908 gegründeten Łódźki KS als sportliches Aushängeschild. Die machten 1922 als Meisterschaftsdritter erstmals landesweit von sich reden. Lokale Konkurrenz war höchstens der 1895 von der deutschen Minderheit gegründete Klub Turystów Łódź, der in den 1920er Jahren ebenfalls in der Ekstraklasa mitmischte. Hier und da traf ŁKS auch mal in lokalen Wettbewerben auf den 1922 gegründeten Robotnicze Towarzystwo Sportowe Widzew (der wiederum Nachfolger des TRMF Widzew von 1910 ist). Aber sportlich und in der Zuschauergunst trennten beide Vereine lange Zeit Welten.

Es ist angerichtet

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg stieß ŁKS schnell wieder in die nationale Spitze vor und feierte nach einer Vizemeisterschaft im Jahre 1954 zunächst 1957 den Pokalsieg und 1958 endlich die Landesmeisterschaft. Als Widzew 1974 erstmals in die Ekstraklasa aufstieg, gehörte ŁKS bereits zum Inventar von Polens höchster Spielklasse und wusste geschätzt 96 % der Łódźer Fußballinteressierten hinter sich. Weil Widzew immer noch der kleine, unscheinbare Nachbar war und obendrein die gleichen Vereinsfarben hatte*, sollte es zunächst auch nicht anrüchig sein als ŁKS-Fan mal bei Widzew vorbeizuschauen. Der Umstand, dass im Stadtbezirk Widzew seinerzeit eine große Trabantenstadt hochgezogen wurde, spielte dem Emporkömmling jedoch in die Karten. Über 100.000 Bürger hatten nun ihren eigenen Erstligisten vor der Haustür und mussten für einen Stadionbesuch nicht mehr einmal quer die Stadt. Aus „Warum nicht auch mal bei Widzew vorbeigucken?“ wurde wahrscheinlich schleichend eine feste Bindung an den Verein.

Die Haupttribüne war mit Leidenschaft dabei

Erst recht, als Widzew in den 1980er Jahren zum nationalen und internationalen Höhenflug ansetzte. 1981 und 1982 holte man zwei Meistertitel nach Łódź und hatte somit prompt den arrivierten ŁKS in den Schatten gestellt. Als man in der Saison 1982/83 obendrein im Europapokal der Landesmeister (heute UEFA Champions League) bis ins Halbfinale vordrang und sich nur knapp Juventus geschlagen geben musste, wurde es in Łódź und auch in vielen weiteren Städten der Volksrepublik Polen sehr angesagt sich zu Widzew zu bekennen. Vor allem die Herzen der heranwachsenden Generation konnten die Widzewiacy in den 1980er Jahren erobern. Nahezu jede Saison spielte Widzew international und 1985 wurde außerdem erstmals der polnische Pokal gewonnen. Dem eingefleischten ŁKS-Anhang gefiel diese Entwicklung überhaupt nicht und plötzlich hatte man ab Mitte des Jahrzehnts keine Derbys mit familiärer Atmosphäre mehr, sondern es schepperte gewaltig.

Auch auf der Gegengerade zogen alle gut mit

In den wilden 1990er Jahren verschärfte sich der Konflikt weiter. ŁKS lebte vom Mythos, Widzew gehörte das Momentum. So heimste man 1996 und 1997 zwei weitere Meistertitel ein und schaffte es in der Saison 1996/97 in die Gruppenphase der UEFA Champions League. Weitere Fanclubs sprießen zwischen Oder und Bug aus dem Boden, so dass bei Widzew die Redewendung „Pół Polski nas nienawidzi, drugie pół to my“ (Halb Polen hasst uns, die andere Hälfte sind wir) aufkam und auch auf eine Zaunfahne gepinselt wurde. Unterdessen konnte ŁKS 1998 wenigstens seine zweite Meisterschaft feiern und in der Stadt waren nach 1,5 kämpferischen Jahrzehnten die Reviere mehr oder weniger abgesteckt. Der Westen von Łódź (Stadtbezirk Polesie, ca. 150.000 Einwohner) ist zu 99 % ŁKS-Territorium, der östliche Bezirk Widzew (ca. 140.000 Einwohner) logischerweise in der Hand der RTS-Szene. Das Stadtzentrum Śródmieście (ca. 80.000 Einwohner) folgt ebenso dieser Ost-West-Logik und ist an einer Längsachse prinzipiell zweigeteilt. Im Norden (Stadtbezirk Bałuty, ca. 220.000 Einwohner) und Süden (Górna, ca. 180.000) ist das Bild etwas diffuser, aber im Groben gilt ebenfalls eine Teilung in der geografischen Mitte.

Ein Ausschnitt des Fanblocks

Allerdings gab es im 21.Jahrhundert in allen Stadtbezirken wenig zu feiern. Beide Vereine pendelten zwischen Erst- und Zweitklassigkeit, ehe bei ŁKS wie erwähnt 2013 die Lichter vorerst ausgingen und in der 5.Liga der Neustart erfolgte. Auch Widzew geriet seinerzeit finanziell ins Straucheln und wurde 2015 aus der 2.Liga in die 5.Liga versetzt. Doch beide Vereine kämpften sich wieder nach oben und klopfen nun erneut an das Tor zur Ekstraklasa an (wobei ŁKS 2019/20 bereits abermals für eine Saison erstklassig war, jedoch den Klassenerhalt verfehlte). Widzew hätte mit einem heutigen Derbysieg gute Chancen auf den direkten Aufstieg als Vizemeister und ŁKS benötigt dringend drei Punkte, um wenigstens an der Aufstiegsrelegation teilnehmen zu dürfen (in welcher die Tabellenplätze 3 bis 6 den dritten Aufsteiger ausspielen).

Die 900 Rot-Weiß-Roten

Dass außer Prestige also auch das Saisonziel auf dem Spiel stand, schien die Akteure zusätzlich zu lähmen. Die 1.Halbzeit war entsprechend chancenarm und größter Höhepunkt war die erste Choreographie in der Heimkurve. „W MIEŚCIE ŁODZI RZĄDZI JEDEN KLUB“ war am Zaun zu lesen und bedeutet in der Stadt Łódź regiert ein Club. Ich ahnte bereits, dass Widzew wohl nicht gemeint ist, aber eine große Blockfahne und lauter kleine Banner mit dem Akronym ŁKS räumten letzte Zweifel aus. Diverse Signalfackeln ergänzten alsbald die Szenerie und insgesamt war Weiß-Rot-Weiß die ganze Halbzeit gut drauf.

In der Halbzeitpause setzte dann auf der Haupttribüne eine kleine Völkerwanderung in Richtung Gästeblock ein. Alle Sturmhaubenträger bauten sich am linken Rand der Tribüne auf und provozierten aus wenigen Metern Entfernung so gut es ging. Das blieb selbstredend nicht unerwidert und ein paar Widzewiacy rüttelten schon mal ein wenig am Zaun. Zu Beginn der 2.Halbzeit schien das Ganze jedoch zu einem mittlerweile ermüdenden „Na kommt doch her!“ „Nein, kommt ihr doch her!“ zu werden. Doch als Widzews Anhang wahrscheinlich auch schon keinen Bock mehr hatte auf das Gepöbel aus kurzer, aber sicherer Distanz einzusteigen und seine Choreographie vorbereitete, holten die Kibole des Łódzki Klub Sportowy plötzlich Feuerwerksraketen hervor und ballerten diese mitten in die Gästefans. Okay, das gehörte jetzt eindeutig zu den heftigeren Aktionen, die ich auf meinen Fußballreisen erleben durfte.

Als der Erzfeind seine Munition aufgebraucht hatte, legte sich die Panik im Gästehaufen und wenig überraschend war man emotional etwas aus dem Gleichgewicht. Jetzt wurde der Zaun einem wirklich ernsthaften Stresstest unterzogen, aber die Polizei setzte großzügig Reizgas ein, um die Rüttler zum Unterlass zu bewegen. Unterdessen präsentierte die Heimkurve ihre zweite Choreographie. Unter dem Motto „NIEWIERNYCH CZEKA ZGUBA, ŁKS NIE ŚPI ŁKS CZUWA“ (Die Ungläubigen werden verflucht sein, denn ŁKS schläft nicht, ŁKS ist wach) wurde eine Blockfahne hochgezogen auf der ein paar Anhänger von Widzew möglicherweise keine ausreichenden Vitalfunktionen mehr aufwiesen. Im Hintergund war die Augenpartie von Darth Maul aus Star Wars zu sehen, den die Gruppe Uliczni Wojownicy (z. dt.: Straßenkrieger) gerne als Avatar nutzt. Als die Blockfahne wieder verschwunden war, folgte erneut allerhand Pyrotechnik.

Derweil wollte auch Widzews Anhang die geplante Fanaktion nachholen. Doch gerade als sie ihre mitgebrachtes Material wieder zu platzieren begannen, netzte Bartłomiej Pawłowski in der 80.Minute für Rot-Weiß-Rot. Der blonde Offensivspieler kletterte sogleich auf ein Fluchttor des Gästeblocks und ließ sich von den Fans feiern. Die waren emotional nun wieder obenauf und ließen dem Torjubel sogleich ihre angepinselten Folienbahnen folgen. Diese ergaben zusammen das Titelblatt einer Boulevardzeitung und für die Schlagzeile „NOWY BURDEL, STARE KURWY“ benötigte nicht mal ich ein Wörterbuch. Neues Bordell, aber die alten Huren, lautete ihr nachträgliches Grußwort zur Stadionfertigstellung des verhassten Lokalrivalen. Jenes Titelblatt wurde natürlich noch von Pyrotechnik flankiert und euphorisiert begleitete man die Mannschaft in die Schlußphase.

Der RTS Widzew brachte die Führung ins Ziel und darf sich vorerst als König der Stadt fühlen. „W MIEŚCIE ŁODZI RZĄDZI JEDEN KLUB“ werden sie sich nun ebenfalls gedacht haben, jedoch mit ihrem Vereinskürzel im Sinne. Dank des Sieges erobert Widzew Platz 2 in der Tabelle und hat damit drei Spieltage vor Schluss eine gute Ausgangsposition für den direkten Aufstieg. ŁKS rutscht dagegen auf den achten Rang des Tableaus ab und muss in den kommenden drei Spielen vier Punkte aufholen, um noch als Sechster einzulaufen und damit wenigstens an den Relegationsspielen teilnehmen zu können. Falls Widzew als Dritter die reguläre Spielzeit abschließt und ŁKS als Sechster, käme es übrigens im Semifinale jener Aufstiegsrunde erneut zu einem Derby Łódźi. Mit Heimrecht Widzew, aber höchstwahrscheinlich ohne Gästefans. Die heutigen Vorkommnisse werden schließlich noch das Sportgericht beschäftigen und neben Geldbußen dürften Geisterspiele oder Gästeverbote die Konsequenz sein.

Spieler und Fans feiern den Derbysieg

Mit den Rechenspielchen, wer wohl am Ende aufsteigt und wer Relegation spielen könnte, vertrieb ich mir nebenbei die Rückfahrt nach Warszawa. In der 2.Liga können außer Widzew oder Arka weitere interessante Teams in der Relegation landen (direkt als Meister wird übrigens Miedz Legnica in die Ekstraklasa zurückkehren). Auch um den Aufstieg in die 2.Liga werden wohl Schwergewichte wie Motor Lublin und Ruch Chorzów in einer Relegationsrunde rangeln. Ich bin jedenfalls geneigt meinen Ursprungsplan für die letzte Maiwoche (Pokalfinale in Kroatien) ad acta zu legen und Polen erneut zu bereisen. Doch nun stand erstmal die letzte Nacht im Ibis Warszawa Reduta und die Rückreise nach Deutschland an. Auf jener langen Zugfahrt konnte ich weiter grübeln, was ich mit dem Rest vom Mai noch tourentechnisch anfange. Von Anfang Juni bis Ende August steht dagegen schon das Reiseprogramm. Es wird mit dem 9 € Ticket drei Monate lang regelmäßig mit einem Rucksack voll Dosenbier und leistungsstarker Beschallungstechnik auf die Insel Sylt gehen. Da wollte ich schon immer mal hin, erst recht wenn dort der Punk abgeht.

Song of the Tour: Ich bin überzeugt, dass die beiden Fanlager alles nur aus Liebe taten

*Irgendwann muss sich eingebürgert haben, dass Widzew Rot als Hauptfarbe nutzt und Weiß die Hauptfarbe von ŁKS ist