Kraków (Krakau) 05/2022

  • 01.05.2022
  • KS Cracovia Kraków – TS Wisła Kraków 0:0
  • Ekstraklasa (I)
  • Stadion Cracovii im. Józefa Piłsudskiego (Att: 14.191)

Am Tag der Arbeit wollte ich nicht nur feiern, dass ich wieder einmal 365 Tage bzw. 222 Arbeitstage absolute Spitzenleistungen in unserer vorwiegend neoliberal gestalteten Marktwirtschaft erbracht habe. Nein, ich wollte auch denen Applaus spenden, die selbst am 1.Mai ihr Tagwerk verrichten müssen. Namentlich die Profifußballer der beiden Clubs Wisła und Cracovia, deren Święta Wojna (Heiliger Krieg) heute seine 203.Auflage bekommen sollte. Tickets im InterCity von Warszawa (Warschau) nach Kraków (Krakau) kosteten in der 1.Klasse 38 € return und Abfahrt war um 7:57 Uhr am Bahnhof Warszawa-Zachodnia, welchen erfreulicherweise nur 500 Meter vom meinerseits gebuchten Ibis Warszawa Reduta trennen.

Die Barbakane der einstigen Stadtbefestigung von Kraków

Gute vier Stunden benötigt der InterCity von der einen in die andere polnische Metropole. Alternativ fährt mehrmals am Tag noch ein so genannter Express InterCity Premium. Der benötigt eine Stunde weniger, kostet aber auch in etwa das Doppelte. Da es mir auf die Stunde nicht ankam, blieb ich preisbewusst und war entsprechend gegen 12 Uhr in Kraków. Damit blieben immer noch über fünf Stunden bis zum Anpfiff des Derby Krakowa. Normal hätte ich nun ein adäquates Kulturprogramm abgespult und davon berichtet. Doch heute hatte ich auf der Zugfahrt Carsten Maschmeyers Kinderbuch “Die Start-up Gang” gelesen und kam unweigerlich in eine große Sinnkrise. Stundenlang irrte ich niedergeschlagen durch Kraków oder lag sinnierend im Gras am Ufer der Wisła (Weichsel). Warum steht die Vermehrung von Geld nicht im Mittelpunkt meines Lebensentwurfs? Wieso habe ich mit 10 Jahren nicht auch endlich den Polokragen hochgeklappt und mein erstes Start-up gegründet? Dann könnte ich schon in naher Zukunft das 30jährige Firmenjubiläum feiern und Christian Lindner hätte mich vielleicht zu seiner Hochzeit auf Sylt eingeladen.

Nein, das ist nicht der Corteo von Wisła oder Cracovia

Aber bevor Carsten Maschmeyer jetzt einen seiner alten Anzüge aus dem Schrank holt und sich mit seinem natürlichen Lächeln zufrieden auf das Schulterpolster klopft; ich trauerte heute natürlich nicht irgendwelchen dornigen Chancen nach, die ich mangels Willen zur Selbstoptimierung oder mangels Freude an Selbst- und Fremdausbeutung verpasst habe. Allerdings hatte ich im privaten Bereich spontan einiges ergebnisoffen zu analysieren, was sich nicht weiter aufschieben ließ und und einige Stunden wenig Raum für anderes ließ. Zum Glück war es eh kein guter Tag für touristische Unterfangen. 1.Mai, langes Wochenende (der 3.Mai ist in Polen ebenfalls Feiertag) und gutes Wetter ließen die Stadt mit Menschen überquellen. Da ich Kraków jedoch nicht zum ersten und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal beehrt habe, waren die negativen Umstände zu verschmerzen. Gegen 16 Uhr tauschte ich letztlich die Tourimassen gegen die Fanmassen ein und schaute bereits 90 Minuten vor Anpfiff am Stadion Cracovii vorbei. Gerade noch rechtzeitig, um aus der Ferne den Mob von Wisła zu erspähen. Dieser zog im Fackelschein und in Rauch gehüllt vom eigenen Stadion zur Heimat des Erzrivalen. Denn beide Stadien sind nur durch die Błonia Krakowskie getrennt (eine große, ehemalige Viehwiese).

Hier lag ich träumend im Gras, den Kopf voll verrückter Ideen

Auf dieser Wiese fand übrigens am 20.September 1908 auch das erste Derby zwischen Cracovia und Wisła statt, da beide Clubs seinerzeit noch kein Stadion hatten. Das heute von mir besuchte Stadion Cracovii wurde 1912 eröffnet, womit die zeitgemäße Optik – 2009/10 wurde alles umfangreich modernisiert – nur oberflächlich die Geschichtsträchtigkeit der Spielstätte verbergen mag. Wisła wiederum bezog 1914 sein erstes Stadion im Oleandry-Viertel (nur einen Steinwurf vom heutigen Stadion entfernt). Schiedlich-friedlich mit 1:1 ging vor 113,5 Jahren das erste Aufeinandertreffen aus und die Beziehungen zwischen den Clubs waren sowieso von fairem Sportsgeist geprägt. Im Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) bildete man sogar eine Spielgemeinschaft, da die österreichische Armee Wisłas Platz beschlagnahmt hatte (damals gehörte dieser Teil Polens zum Habsburgerreich).

Wisłas Mob zieht über die Błonia

Nach dem Krieg gingen zwei der ältesten Vereine Polens (Cracovia wurde im Juni und Wisła im September 1906 gegründet) wieder getrennte Wege und fortan sollten sie ihr Derby viele Jahre in der höchsten polnischen Spielklasse austragen. Selbst im Zweiten Weltkrieg (1939 – 1945), als die deutschen Besatzer den Polen organisierte Sportwettkämpfe verboten, kam es zu konspirativ organisierten Derbys. Wobei diese Duelle vor bis zu 10.000 Zuschauern den Besatzern nicht immer verborgen blieben und es teilweise zu Razzien und Verhaftungen kam. Damals war schon lange vom Święta Wojna die Rede. Diesen Begriff soll der Cracovia-Verteidiger Ludwik Gintel 1920 vor einem Derby mit dem Satz „No to chodźmy panowie na tę świętą wojnę“ („Nun meine Herren, wir ziehen jetzt in den heiligen Krieg“) geprägt haben.

Blockfahne mit historischem Rynek bei Cracovia

Nachdem die Rote Armee am 19.Januar 1945 in Kraków einmarschiert war, stieg sogleich am 28.Januar ein erstes volksfestgleiches Nachkriegsderby zwischen Cracovia und Wisła. Wisła gewann im Schneegestöber und in Überzahl 2:0, aber das war an diesem Tag nur Nebensache. Doch schon bald war dank der aufziehenden stalinistischen Diktatur nicht nur Ernüchterung über die vermeintliche Befreiung der Heimat eingekehrt, sondern auch bei den Derbys ging es wieder ernster zur Sache. Am 5.Dezember 1948 trugen Cracovia und Wisła gar das Entscheidungsspiel um die polnische Fußballmeisterschaft aus. Auf neutralem Platz bei Krakóws seinerzeit dritten Kraft Garbania sollten sich die Pasy (die Gestreiften) gegen den damals favorisierten Biała Gwiazda (Weißen Stern) mit 3:1 durchsetzen (nach 0:1 Rückstand). Es wurde Cracovias fünfter und bis heute letzter Meistertitel.

Dieses Motiv erinnert wiederum an die erste Meisterschaft 1921

Nachdem sich die realsozialistische und von Moskau gelenkte Diktatur konsolidiert hatte, ging es für das bürgerliche Cracovia sportlich abwärts. Man wurde 1949 im sozialistischen Sportsystem als Ogniwo Kraków zum Verein der öffentlichen Verwaltung und fortan bei der Spieler- und Mittelzuteilung ziemlich schlecht gestellt. Wisła kam dagegen unter die Obhut des Ministeriums für Innere Sicherheit und konnte 1949 und 1950 als Gwardia Kraków gleich zwei Landesmeisterschaften in Serie gewinnen. 1951 platzte der Traum vom Meistertriple erst im Entscheidungsspiel gegen Unia (Ruch) Chorzów. Man blieb auch die kommenden Jahre in der Spitzengruppe der Ekstraklasa, allerdings sollten die „Malocherclubs“ Ruch Chorzów und Górnik Zabrze und der Armeesportklub Legia Warszawa in den drei folgenden Dekaden fast immer die Meisterschaft unter sich ausmachen. Cracovia stieg 1954 erstmals aus der Ekstraklasa ab und musste 1972 sogar den Gang in die Viertklassigkeit antreten. Immerhin bekam man 1955 seinen Traditionsnamen zurück.

Auch dieses Wandbild in der Kinderspielecke des Stadions erinnert an den Meistertitel von 1921

Das Volk wollte jedoch weiterhin Derbys und so wurde 1974 im Januar erstmals das jährliche Kräftemessen um das Herbowa Tarcza Krakowa (Wappenschild von Krakau) ausgetragen. Im Sinne des kommunistischen Regimes sollte damit der „Befreiung“ Krakóws durch die Rote Armee im Januar 1945 gedacht werden. Dem fast durchgängig unterklassigen Cracovia gelangen dabei ein paar Achtungserfolge. 1975 schlug der damalige Viertligist den Erstligisten Wisła beispielsweise mit 4:1. Bei 16 Duellen in diesem Format gewann Cracovia immerhin fünfmal (davon viermal als unterklassiger Verein). Nach der politischen Wende 1989 wurde dieser Wettkampf jedoch nicht mehr fortgeführt bzw. nur noch 1990 ein letztes Mal unter neuem Namen ausgetragen. Cracovia gewann 1:0 und erhielt die vom Stadtpräsidenten gestiftete Trophäe.

Es ist angerichtet für Derby Nr. 203

Aber das war wirklich nur die Randnotiz an diesem Tag. Fans beider Clubs sorgten im Stadion und in der Stadt für schwere Ausschreitungen. Wobei beide Fanlager es auch besonders auf die Bereitschaftspolizei (Miliz) abgesehen hatten, dazu spontan einen Burgfrieden schlossen und gewissermaßen symbolisch das alte System in einem Steinhagel begraben wollten. In der Stadt tobte anschließend ein etwa tausendköpfiger Mob und etliche Schaufenster und Blumenkübel gingen zu Bruch. Am Ende griff der Aufzug das sowjetische Generalkonsulat an und erst als massive Verstärkung für die Polizei, respektive Miliz eintraf, konnte die Lage beruhigt werden.

Bericht von den Krawallen 1990 im Tempo-Journal

Im Prinzip war das Derby von 1990 wirklich eine Zeitenwende. Die 1980er Jahre, in denen beide Fanlager systemkritisch auftraten und weniger miteinander rivalisierten, waren zusammen mit der realsozialistischen Diktatur beerdigt worden. Jetzt gab es ein Machtvakuum und regelrecht anarchische 1990er Jahre folgten. Zwar traf man auf dem Platz nur in der Spielzeit 1995/96 aufeinander (beide Krakówer Schwergewichte waren in jener Saison Zweitligisten), doch auf den Straßen tobte plötzlich nahezu 24/7 der Święta Wojna. Die Fangruppen wollten nicht nur ihre Reviere markieren, sondern die Reviere auch ausdehnen und den Feind regelrecht vernichten. Der Konflikt wurde jetzt mit Messern, Macheten, Knüppeln und Äxten ausgetragen und endete für etliche Fans im Sarg. Die „Gangkultur“, die nun bei Krakóws männlicher Jugend voll im Trend lag, war sicher nichts Polenspezifisches, aber die damaligen politischen und wirtschaftlichen Umstände begünstigten diese Entwicklung enorm.

Die Blockfahne in der 2.Halbzeit ist ein gutes Sinnbild für die permanenten Straßenkämpfe

Insbesondere Cracovia, die als Herausforderer sozusagen den Bandenkrieg angezettelt hatten, bekamen regen Zulauf von erlebnisorientierten Jugendlichen und die örtlichen Skinheads schlossen sich ebenfalls dem Mob der Pasy an. Cracovias tristes Drittligadasein dürfte davon die wenigsten gejuckt haben. Auch die Gruppennamen oder Zaunfahnen sprechen Bände. Wenn du deine Gruppe „Anty Wisła“ oder „Dog Hunters“ nennst (Wisłas Fans werden vom Feind als Hunde geschmäht), befeuert das natürlich die Vermutung, dass die Vernichtung Wisłas dir gerade ein bisschen wichtiger als die Unterstützung Cracovias ist. Außerdem spielte und spielt in beiden Szenen seit den 1990er Jahren auch Business eine wichtige Rolle (sozusagen eine Prä-Maschmeyer-Start-up-Gangkultur). Es geht nicht nur darum an der Oberfläche ein Revier zu kontrollieren, sondern auch die Unterwelt zu regieren.

Piastów im Nordosten von Kraków war früher mal Wisła-Gebiet und wird heute von Cracovia kontrolliert

Zu einem direkten Kräftemessen auf den Rängen und auf dem Rasen kam es erst wieder nachdem Cracovia – nach sportlich und finanziell ebenfalls schwierigen 1990er Jahren – im Sommer 2004 in die Ekstraklasa zurückkehren konnte. Fortan herrschte zweimal pro Saison der Święta Wojna in vermarktungsfähiger Form. Allerdings mit strikter Fantrennung und stark reduzierten Ticketkontingenten für die Gästefans. So konnten zum ersten Derby nach acht Jahren Pause – das letzte Derby in der Ekstraklasa lag gar 20 Jahre zurück – nur 520 Fans von Cracovia den Marsch über die Wiese zu Wisła antreten. Sportlich waren es für Wisła fette Jahre (acht der insgesamt dreizehn Meistertitel wurden zwischen 1999 und 2011 errungen), aber im direkten Duell zählte das nicht viel und die Partien waren meistens enge Kisten.

Der Gästeblock am heutigen Abend

Seit rund 10 Jahren sind jedoch beide Clubs im Mittelmaß unterwegs und ein sportliches Ausrufezeichen setze lediglich Cracovia, als man 2020 erstmals den polnischen Fußballpokal gewann. Diese Saison sind die Pasy wieder im Mittelfeld der Tabelle zu finden, während Wisła tatsächlich in akuter Abstiegsgefahr schwebt. Nach einem Vierteljahrhundert ununterbrochener Erstklassigkeit droht der Gang in die 2.Liga (Cracovia musste übrigens 2012/13 erneut für eine Saison die Ekstraklasa verlassen). Es ging heute also nicht nur um’s Prestige, sondern für eine Seite auch um’s sportliche Überleben. Die Hausherren machten dabei von Anfang an klar, dass der Biała Gwiazda nicht auf Nachbarschaftshilfe hoffen braucht. Eigentlich hätte es nach es 20 Minuten schon 3:0 stehen müssen, aber die Chancenauswertung der Kicker im gestreiften Dress ließ deutlich zu wünschen übrig. Besonders der ukrainische Ex-Schalker Jewhen Konopljanka war ein auffälliger Aktivposten, aber glücklos im Abschluss.

Fackelei in der 1.Halbzeit

Derweil zauberte die Heimkurve Mitte der 1.Halbzeit die erste Fanaktion auf die Tribüne. Eine große Blockfahne hatte ein Doppelmotiv. Links der Rynek (Marktplatz) von Kraków im Jahr 1906 (in schwarz-weiß gehalten) und ein Flugblatt, dass Cracovias Gründung verkündet. Links ein fackelnder Mob von Cracovia am selben Ort in der Gegenwart. Dazu ein Banner mit dem Statement „Zmieniają się czasy, a w mieście wciąż tylko Pasy“ (frei übersetzt: Die Stadt hat sich verändert, aber Cracovia ist geblieben). Als die Blockfahne wieder verschwunden war, wurde natürlich in großem Umfang Pyrotechnik gezündet. Schon mal eine sehr gelungene Aktion für’s Auge, aber auch akustisch waren die Pasy gut drauf.

Wisła zündet zu Beginn der 2.Halbzeit

Nachdem Wisłas Elf das 0:0 in die Pause gerettet hatte, wurden sie von ihren 500 “mitgereisten” Gästefans zu Beginn der 2.Halbzeit mit diversen Fackeln empfangen. Ebenfalls ganz nett, doch für so ein Derby fast schon zu unoriginell. Der sonstige Support war auch eher nicht für einen bleibenden Eindruck geeignet, aber Wisła eilt auch nicht der Ruf voraus diesbezüglich zur polnischen Avantgarde zu gehören. Cracovia wohl ebenfalls nicht, aber mein erster und damit überhaupt nicht repräsentativer Eindruck war doch ziemlich positiv. Vielleicht haben die spontan aufgehört den 24/7-Krieg in der Stadt als Alibi zu nehmen, dass dadurch einfach nicht genug Raum und Zeit für Kreativität im Stadion bleibt.

Stolz wird der Schal in die Höhe gereckt

Man muss natürlich noch anmerken, dass Wisła aktuell nicht nur im sportlichen Bereich besseren Zeiten nachtrauert. Auch in der Fanszene und damit zwangsläufig ebenso im Verein gab es tiefgreifende Veränderungen. Was bei Wisła die letzten Jahre abging, wäre eigentlich Stoff für ein ganzes Buch (und Netflix & Co würden sich anschließend um die Filmrechte reißen). Kurz (und lückenhaft) zusammengefasst: Die Hooligangruppe Sharks expandierte zunächst innerhalb der eigenen Szene und hatte irgendwann den unangefochtenen Führungsanspruch inne. Innerhalb des Vereins hatten die Sharks außerdem eine Kampfsportabteilung gegründet und Paweł M., der führende Kopf der Hooligangruppe mit dem Kosenamen Misiek (Bärchen), bekam vom Verein die Räumlichkeiten für sein eigenes Gym zum Freundschaftspreis vermietet. Dieser Misiek war übrigens 1998 quasi weltberühmt geworden, weil er AC Parmas Dino Baggio in der zweiten Runde des UEFA Cups ein Messer an den Kopf geworfen hatte. Wisła wurde eine Saison vom internationalen Wettbewerb ausgeschlossen und der damals 19jährige Misiek, der bereits wegen anderen Gewaltdelikten eine Akte hatte und seine Muskeln im Rotlichtmilieu monetarisierte, musste für 6,5 Jahre in Haft. Dort vertiefte er seine Kontakte in die Unterwelt und sollte nach dem Absitzen der vollen 6,5 Jahre als gefeierte Mann die Führung der Sharks übernehmen.

Misieks Messerwurf 1998

2011 lief dann auch Misieks landesweites Stadionverbot aus. Aber die Kurve war ihm und seinen Vertrauten nicht genug; die Sharks wollten Wisła ganz übernehmen. Nach dem Aufbau der Kampfsportabteilung 2014, konnte man zwei Jahre später mit Damian D. ein Mitglied aus der Szene und mit Marzena S. eine Vertraute der Sharks (die Anwältin von Misiek) im Vereinsvorstand installieren, welcher wiederum auch die Profifußballgesellschaft kontrollierte. 2016 wurden außerdem die alten Fanfreundschaften und Bündnisse aufgelöst und ungeachtet irgendwelcher Romantik oder Nostalgie ging man eine strategische Allianz mit den Schwergewichten Ruch und Widzew ein (was 2016 quasi Polens ganze Fanlandschaft durcheinander wirbelte). Mit den neuen Freunden aus Chorzów und Łódź spazierte man an Spieltagen im VIP-Bereich von Wisła ein und aus. In den Vereinsräumen wurde gezocktes Fanmaterial der Rivalen gelagert und im Sicherheitsdienst von Wisła konnte man bekannte Nasen aus der Szene installieren. Die legalen und erst recht die illegalen Einkünfte müssen enorm gewesen sein und flossen in teure Statussymbole. Lange lief alles unbehelligt von der Exekutive und Judikative ab, doch 2018 schlug die Staatsmacht zu. Es kam zu Razzien und Verhaftungen. Misiek setzte sich zwar zufälligerweise kurz vor dem Zugriff nach Italien ab, wurde dort jedoch wenig später aufgegriffen und nach Polen ausgeliefert. 2019 platzte schließlich die Bombe: Misiek packt als Kronzeuge über die kriminellen Machenschaften der Hooligans von Wisła, Ruch und Widzew aus. Das ließ einige Leute in Kraków, Łódź und Oberschlesien gleichermaßen zittern. Während die Feinde der Allianz den Verrat ausschlachten können (und ich nebenbei immer noch erstaunt bin wie viele Tonnen Rauschgift diese Bande offenbar in Polen vertickt hat), muss Wisłas Szene sich gegenwärtig komplett neu sortieren und viel aufarbeiten. Immerhin scheint der Verein mittlerweile von integren Figuren um die Fußballlegende Jakub Błaszczykowski geführt zu werden.

Cracovias zweite Fanaktion des Abends

Im Laufe der 2.Halbzeit gelang Cracovias Anhang mit seiner zweiten großen Fanaktion vielleicht sogar eine gute Situationsbeschreibung. Auf einer Blockfahne lag ein Wisła-Anhänger auf dem Asphalt und zwei weitere rannten weg. Drei Hools der Pasy traten wiederum auf den Liegenden ein. Am Boden liegt Wisła gerade definitiv, aber ob und wie viel Terrain der Erzrivale dadurch gewinnen kann, vermag ich als Außenstehender nicht zu beurteilen. In jedem Fall klappte es heute auf sportlicher Ebene nicht ein Sargnagel des Biała Gwiazda zu werden. Wisła hielt das 0:0, obwohl Rivaldinho in der Schlussphase noch zwei gute Chancen für Cracovia hatte (dieser “kleine Rivaldo” ist übrigens der Sohn des Weltfußballers von 1999). Tabellarisch hilft der Punkt Wisła zwar nicht so richtig, aber vielleicht beflügelt er die Moral für die drei noch ausstehenden Spiele. Die 500 Gästefans spendeten jedenfalls aufmunternden Applaus für ihre Mannschaft, bevor diese in die Kabine verschwand und die Fans eine lange Blocksperre absitzen mussten.

Abendstimmung in der Altstadt

Ich machte dagegen zeitnah den Abflug. Da ich nun eine gute Stunde für die rund 3 km vom Stadion zum Bahnhof hatte, konnte ich noch gemütlich durch die deutlich leerer gewordene Altstadt wandeln. Der Zug zurück fuhr 20:32 Uhr in Kraków ab und sollte bereits gegen 23:15 Uhr am Bahnhof Warszawa-Zachodnia eintreffen (war zwar auch der günstigere InterCity, nutzte aber um diese Zeit die kürzere Strecke vom Express InterCity Premium). Auf der Rückfahrt habe ich natürlich wieder nichts von Maschmeyer gelesen, aber stattdessen nochmal etliche Infos über den Święta Wojna zusammengetragen und am Ende tatsächlich von Mord und Totschlag geträumt. Zum Glück bin ich aufgewacht, bevor der polnische Macheten-Mob mich stellen konnte. Ich muss schließlich noch ein Start-up gründen 🙂

Song of the Tour: Es geht mir gut, ich mein‘ es könnte weiß Gott schlimmer sein