Budapest 04/2022

  • 24.04.2022
  • Ferencvárosi TC – Újpest FC 2:1
  • Nemzeti Bajnokság I (I)
  • Albert Flórián Stadion (Att: 20.155)

Sonntagmorgen lösten sich meine Augenlider gegen 7 Uhr voneinander. Ich presste sie zunächst noch einmal zusammen und überlegte ob ich noch ein, zwei Stündchen schlafen sollte oder ob es vielleicht sinnvoller wäre schon jetzt aufzustehen. Zu dieser Zeit dürfte sich beim Frühstück der Andrang noch in Grenzen halten. Gegen 9 Uhr wohl nicht mehr… Also kurz geduscht und schlaftrunken zum Büffet geschlurft. Damit ist es endgültig belegt; Essen ist mir ein noch größeres Grundbedürfnis als Schlafen. Aber das ist wohl nicht nur für mich keine Überraschung.

Letscho, Würstel und Rührei als Start in den Tag

Diverse Tassen Kaffee sorgten nun für Belebung, während Orangensaft und Brötchen mit ungarischer Salami, gepökeltem Schweinefleisch und Paprika in Sachen Energiebedarf ein erstes Ausrufezeichen setzten. Vollends bereit für die Aufgaben des Tages war ich dann nach einem Teller mit heißen Würstchen, Rührei und Letscho. Nun war es an der Zeit endlich im vierten Anlauf so richtig in die Stadtgeschichte von Budapest einzutauchen (beim ersten Mal war es ein reines Partywochenende, beim zweiten Mal war der Aufenthalt zu kurz und beim dritten Mal bin ich gesundheitlich stark angeschlagen gewesen).

Ab in den Untergrund

Nachdem gestern bereits die Pester Seite der Donau ausgiebig erkundet wurde, waren heute Óbuda (Alt-Ofen) und Buda (Ofen) an der Reihe. Mit dem bereits am Vorabend erworbenen Tagesticket (24 h gültig für ca. 4,50 €) ging es als erstes per Ubahn und Vorortbahn nach Óbuda (Alt-Ofen). Zwar gab es bereits im 1.Jahrhundert v. Chr. eine befestigte keltische Siedlung auf dem Gellértberg, aber so richtig beginnt die Budapester Stadtgeschichte im Jahre 89 n. Chr. in Óbuda. Mittlerweile kontrollierten die Römer das heutige Ungarn und wo die Donau die Karpatenausläufer von der Pannonischen Tiefebene trennt, gründeten sie ihre Provinzhauptstadt Aquincum.

Die Ruinen des römischen Amphitheaters in Óbuda (Alt-Ofen)

In der Spätantike setzte die Völkerwanderung ein und im 5.Jahrhundert traten die Römer ihre Provinz Pannonia an die Hunnen ab. Nach dem Tod des Hunnenkönigs Attila im Jahre 453 zerfiel jedoch auch das Hunnenreich und Ostgoten, Langobarden, Awaren und slawische Stämme stießen nacheinander nach Ungarn vor und rangen um die Besitznahme des Landes. Die unsteten Zeiten endeten, als die magyarischen Stammesverbände unter Fürst Árpád um das Jahr 900 die Pannonische Tiefebene erreichten und das Land in Besitz nahmen. Erste Hauptstadt wurde zwar das von mir am Vortag gewürdigte Székesfehérvár, aber das einstige Aquincum entwickelte sich unter den Magyaren ebenfalls wieder zu einem Machtzentrum.

St.-Stephans-Denkmal für den ersten König Ungarns vor der Matthiaskirche in Buda

Wobei sich der Siedlungsschwerpunkt etwas nach Süden und somit von Óbuda nach Buda und Pest verschob. Damit wuchsen rechts und links der Donau zwei unabhängige, aber rege im Austausch stehende und durch Fährschiffer verbundene Städte heran. 1241 fielen jedoch die Mongolen in Ungarn ein und zerstörten sowohl Buda, als auch Pest. Nach dem Abzug der Mongolen wurde zunächst nur Buda wiederaufgebaut, da es durch die Höhenlage besser zu verteidigen war und man weitere Heerzüge der Mongolen befürchtete. Buda wurde also stark befestigt und schwang sich im Spätmittelalter zur Königsresidenz des Reiches auf.

Heisst zwar Pestsäule, steht aber in Óbuda

Nachdem 1301 mit Andreas III. der letzte ungarische König aus dem Geschlecht der Árpáden kinderlos gestorben war (die Árpáden hatten somit seit der Landnahme rund 400 Jahre ununterbrochen über Ungarn geherrscht), fiel die Krone zunächst an die böhmischen Přemysliden (Ladislaus V.) und dann in den kommenden rund 150 Jahren an die Wittelsbacher, an das Haus Anjou, die Habsburger, die Luxemburger und die Jagiellonen. Dabei mussten sich die Herrscher im 15.Jahrhundert mehr und mehr den Expansionsbestrebungen des Osmanischen Reiches erwehren. 1521 fiel mit Belgrad Ungarns Bollwerk an der Südgrenze und 1526 konnten die Osmanen den Magyaren in der Schlacht von Mohács eine vernichtende Niederlage zufügen. Ungarns König Philipp II. und ein Großteil des Adels ließen auf dem Schlachtfeld ihr Leben. Noch im selben Jahr fiel Pest und 1541 letztlich auch Buda in die Hände der Osmanen.

Das Wiener Tor ist das einzige noch erhaltene mittelalterliche Stadttor von Buda

Unterdessen stritt Ungarns Adel um die Thronfolge. Der überwiegende Teil der ungarischen Stände wählte in der historischen Krönungsstadt Székesfehérvár Fürst Johann Zápolya zum König. Allerdings meldeten auch die Habsburger legitime Erbansprüche an und Erzherzog Ferdinand von Österreich ließ sich auf einer Versammlung des west- und oberungarischen Adels noch im selben Jahr in Bratislava (Pressburg) zum König von Ungarn wählen. Von 1527 bis 1538 herrschte deshalb ein Krieg um die Krone des Königreichs, an dessen Ende das bisherige Ungarn prinzipiell dreigeteilt wurde. Das heutige österreichische Bundesland Burgenland, die heutige Slowakei, weite Teile des heutigen Kroatiens sowie nordwestliche Teile des heutigen Ungarns wurden unter der Bezeichnung Königliches Ungarn de facto zu einer Provinz des Habsburgerreichs. Das bis dato ungarische Siebenbürgen wurde ein türkischer Vasallenstaat und weite Teil des heutigen Ungarns und des heutigen Serbiens wurden dem Osmanischen Reich direkt einverleibt.

Die Türbe von Gül Baba

Der Pascha (Statthalter des Sultans) der osmanischen Provinz Eyālet-i Budin residierte fortan in Buda und dieser Umstand sorgte für eine gewisse Orientalisierung des Stadtbilds. Neben noch erhaltenen und bis heute genutzten Bädern, ist vor allem die Türbe des osmanischen Dichters und Würdenträgers Gül Baba auf dem Budapester Rosenhügel ein Relikt aus dieser Epoche. Dieses Ehrengrabmal gilt als nördlichster Wallfahrtsort des Islams und überstand im Gegensatz zu den Moscheen auch die Rückeroberung Budas und Pests durch ein christliches Herr der Heiligen Liga im Jahr 1686. Damals, im Großen Türkenkrieg (1683 – 1699), wurde unter der Heerführung von Prinz Eugen von Savoyen weitgehend ganz Ungarn von den Osmanen befreit und fortan von den Habsburgern beherrscht.

Denkmal für Prinz Eugen von Savoyen, den Türkenbezwinger

Befreit ist deshalb nach ungarischer Lesart vielleicht auch falsch formuliert. Zwar hatten die Habsburger 160 Jahre zuvor durch ihre geschickte Heiratspolitik einen Erbanspruch auf die Stephanskrone durchgesetzt, jedoch fühlten sich die Magyaren nun aus Wien fremd bestimmt. Zumal die Habsburger weiterhin Bratislava als ungarische Hauptstadt fungieren ließen. Dazu wurden die Bürger in Buda und Pest mit hohen Angaben belastet (nach dem langen Krieg war die Staatskasse leer) und eine bereits während der osmanischen Epoche eingesetzte Entvölkerung der Doppelstadt an der Donau setzte sich zunächst fort.

Das barocke Löwentor des Budapester Burgpalastes

Ein großer Aufstand unter Franz II. Rákóczi, der von 1703 bis 1711 tobte, war die letzte von mehreren Revolten des ungarischen Adels. Fortan kam es zur wachsenden Integration der ungarischen Blaublüter am Wiener Hof und mit der Gründung der königlich-ungarischen Leibgarde (1760) und der Stiftung des Stephansordens (1764) wurden die Magyaren sichtbar in den habsburgischen Machtkomplex eingebunden. 1777 wurde außerdem die ungarische Universität von Trnava (Tyrnau) nach Buda verlegt und wichtige Behörden wurden ebenfalls in Buda neu angesiedelt. Doch der Bedeutungszuwachs hatten nur zunächst integrative Kraft. Zugleich entwickelte sich ein neues nationales Selbstbewusstsein im 19.Jahrhundert. Im europäischen Revolutionsjahr 1848 wurde auch in Budapest eine unabhängige Republik ausgerufen. Kaiserlichen Truppen gelang es allerdings den Aufstand 1849 erfolgreich niederzuschlagen und die Revolutionäre ins Exil zu zwingen.

Am 8. Juni 1867 fand in der Matthiaskirche die Krönung des ungarischen Königspaares Franz Joseph I. und Elisabeth statt

Die nächsten Jahre ging die Krone äußerst repressiv gegen die ungarischen Untertanen vor. Erst 1867 entspannte Kaiser Franz Joseph I. die Situation, indem er sich in der Matthiaskirche zu Buda zum ungarischen König krönen ließ und für den Österreichisch-Ungarischen Ausgleich sorgte. Fortan war das Habsburgerreich eine Doppelmonarchie. Franz Joseph setzte den ungarischen Landtag wieder ein und machte das Teilreich innenpolitisch weitgehend autonom von der Wiener Hofburg. Militärisch und außenpolitisch behielt jedoch Österreich das Sagen.

Blick von der Fischerbastei nach Pest (mit dem Parlamentsgebäude)

1873 wurden Buda und Pest endlich vereinigt und als Budapest offiziell zur Hauptstadt der ungarischen Reichshälfte erklärt. Analog setzte sich der wirtschaftliche Aufstieg der Stadt fort. Die Zahl der Bürger vervielfachte sich binnen weniger Jahrzehnte. Aus 110.000 im Jahre 1848 waren 1910 880.000 Einwohner geworden. Wie von mir am Vortag bereits erläutert, wuchs insbesondere die Pester Seite rapide und zahlreiche Wohnquartiere und Prachtbauwerke oder auch die Metro wurden im ausgehenden 20.Jahrhundert gebaut. Doch diese glanzvolle, aber mitunter zuweilen etwas zu romantisch verklärte Periode fand ein jähes Ende mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs (der von 1914 bis 1918 tobte).

Die 1884 eröffnete Ungarische Staatsoper in Pest

Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gehörte zu den Kriegsverlierern und wurde aufgelöst. Es rangen nun eine Budapester Räteregierung um Béla Kun und eine von Miklós Horthy geführte konservative Gegenregierung um die Macht. Zugleich erklärte der Nachbar Rumänien den Ungarn den Krieg. Als im August 1919 rumänische Truppen Budapest besetzten und die Räteregierung stürzten, konnte Horthy schließlich in Budapest einziehen und einen Waffenstillstand mit den Rumänen schließen. Im Vertrag von Trianon verlor Ungarn 1920 nun ca. zwei Drittel seines Territoriums. Die Slowakei wurde aus dem ungarischen Staatsverband entlassen und bildete mit den von österreichischen Reichshälfte autonom gewordenen Tschechen einen gemeinsamen neuen Staat. Kroatien ging im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen auf (das spätere Jugoslawien) und Siebenbürgen wurde zur Kriegsbeute Rumäniens.

Dieses riesige Wandbild in Erzsébetváros erinnert an das historische 6:3 der Ungarn gegen England in Wembley (1953)

Formell blieb Ungarn immer noch Königreich und Horthy gab sich den Titel des Reichsverwesers. Der Staat entwickelte sich zu einer konservativen Autokratie mit revisionistischer außenpolitischer Agenda. Die faschistischen Staaten Italien und Deutschland waren somit in den 1930er Jahren die natürlichen Verbündeten und als es Adolf Hitler 1939 gelang den tschechoslowakischen Staat zu zerschlagen, sicherte man als einen Teil der Slowakei als Beute. Ungarn zog nun auch an der Seite des Deutschen Reiches in den Zweiten Weltkrieg (1939 – 1945) und beteiligte sich 1941 am Überfall auf die Sowjetunion. Doch bekanntermaßen wendete sich das Kriegsglück für Deutschland und seine Verbündeten spätestens im Winter 1942/43. Als 1944 auf allen Fronten breiter Rückzug angesagt war, rückte die Rote Armee auch auf Ungarn vor. Dabei kam es ab Dezember 1944 zur dreimonatigen Schlacht um Budapest, als die vorrückende sowjetische Armee deutsche und ungarische Truppen in der Stadt einkesselte. Die Stadt wurde dabei einmal mehr fast völlig zerstört.

Hier wird der 1974 vom ungarischen Bauingenieur und Architekten Ernő Rubik erfundete Zauberwürfel gewürdigt

Nach dem Kriegsende hatte Ungarn ein ähnliches Los wie fast alle seine mittel- und osteuropäischen Nachbarn. Wenn die Rote Armee schon mal da ist, dann bleibt sie auch und Ungarn wurde als sozialistische Volksrepublik in die Moskauer Machtarchitektur integriert. Nach guten 10 Jahren erhob sich das Volk zwar gegen das kommunistische Regime, doch die Panzer der Roten Armee rückten abermals in Budapest ein und der Ungarische Volksaufstand wurde 1956 blutig niedergeschlagen. Beim Lösungsprozess diverser sowjetischen Teilrepubliken und Satellitenstaaten in den 1980er Jahren war Ungarn aber ganz vorne dabei und am 23.Oktober 1989 wurde Ungarn zur demokratischen Republik nach westlichem Vorbild erklärt. Die Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus und die Westintegration in EU und NATO gelang in den nächsten Jahren, aber wie sich das Land seit Viktor Orbáns zweiter Präsidentschaft ab 2010 entwickelt, verursacht in enigen europäischen Partnerstaaten natürlich große Bauchschmerzen.

Bereits zwei Stunden vor Anpfiff knistert es vor’m Stadion

Womit wir optimal zum Fußball überleiten können. Denn nach sieben Stunden Sightseeing machte ich mich gegen 15 Uhr nochmal im Hotel frisch, streifte mir einen Anzug über und sollte mir wenig später den Bauch bis zur Schmerzgrenze vollschlagen. Heute war ich nämlich einer dieser ganz besonderen Stadionbesucher, die freundlich in einem Foyer von Hostessen emfangen werden und ein goldenes Bändchen um das Handgelenk bekommen. Mit dem Fahrstuhl ging es anschließend zwei Etagen höher, um sich dort an einer reichen Auswahl an Speisen und Getränken zu laben. Im Bewusstsein der drohenden Völlerei hatte ich seit dem Frühstück gefastet und stürzte mich nun mit Verve auf die Vorspeisen. Wursthappen vom Mangalica-Schwein, geräucherter Speck, Griebenschmalz, Grützwurst und eine reichhaltige Käseauswahl standen bereit. Die kalte Kirschsuppe war mir jedoch als Intermezzo zu den Hauptgängen etwas suspekt und daher ließ ich mir lieber Hähnchenstreifen in Honig-Senf-Marinade und gebackenen Camembert mit Salatbouquet servieren.

Willkommen im Häppchenparadies

Dann ging es an die Hauptgänge, von denen ich wenigstens drei probieren wollte (insgesamt waren es fünf Optionen). Beim ersten Gang gab es ein pikantes Ragout (mit sehr feiner Estragonnote) aus zarten Hühnerkaumägen mit Eiernockerln und Roter Beete als Beilage. Danach folgte ein Schweinebraten mit geschmortem Rotkohl und Kartoffelpüree. Auch das Truthahngeschnetzelte nach Brasover Art mit leckeren Röstkartoffelecken wollte ich unbedingt probieren und bereute es nicht. Für die mit Frischkäse und Kräutern gefüllten Hähnchenschenkel (mit Risi Bisi) sah ich dann vorerst keinen Platz mehr im Magen und die Pasta in Käsesauce wollte ich den Vegetariern lassen (gewisse kulinarische Identitäten scheinen es ähnlich schwer wie bestimmte sexuelle Orientierungen in Ungarn zu haben).

Für ein Dessert war eigentlich auch kein Platz mehr, aber der gezupfte Hefeknödel mit Vanillesoße fand irgendwie doch noch den Weg an meinen Tisch. Anschließend knöpfte ich lieber mein Sakko auf. Nicht, dass beim Setzen auf den Stadionsitz noch ein Knopf abfliegt und als gemeingefährliches Geschoss den Linienrichter erwischt. Der Gedanke, dass dann analog zur DFB-Willkür der VIP-Bereich von Ferencváros für drei Spiele gesperrt wird, war zwar charmant, aber für Spielabbrüche war in diesem Stadion ein anderes Klientel zuständig. Den Ruf des Fradi-Anhangs oder der ungarischen Szene allgemein, brauche ich wohl nicht extra ausführen.

Ein Dessert ging irgendwie auch noch rein

Wobei sich Green Monsters, B-Közép 1928 & Co zunächst einmal von der empathischen Seite zeigten. Nachdem ein Falkner einen Adler durch das Stadion kreisen ließ, wurde auf den Rängen mittels großer Choreografie an den vor 20 Jahren verstorbenen Ex-Spieler Tibor Simon erinnert. Der hatte zwischen 1985 und 1999 für den Ferencvarósi TC die Stiefel geschnürt und schied bereits 36jährig auf tragische Weise aus dem Leben. Vier Türsteher hatten ihn damals vor einer Budapester Bar totgeprügelt und die Fans haben diesen verdienten Mann natürlich nicht vergessen.

Der Anhang von Újpest fackelte derweil erstmalig etwas Pyrotechnik ab und konnte diese Beschäftigung in der 6.Minute nochmal intensivieren. Der Schiedsrichter hatte kurz zuvor auf den Punkt gezeigt und der georgische Mittelstürmer Budu Zivzivade hatte die Gäste aus dem Norden von Pest früh in Führung gebracht. Als er und seine Mitspieler zum Gästeblock liefen, brannte dieser natürlich lichterloh. Es blieb äußerst stimmungsvoll auf den Rängen und die Mannschaft in den grün-weißen Dressen drängte auf den Ausgleich. Zu sehr war man gewillt die im Prinzip feststehende Meisterschaft hier und heute im großen Derby fix zu machen.

In der nahezu ausverkauften Arena ließ Tokmac Chol Nguen – ein Norweger mit südsudanesischen Wurzeln – den Mob von Fradi in der 19.Minute erstmals jubeln. Erste Fackeln untermalten den verbalen Ausdruck der Freude. Jetzt bekam der Favorit auch die nötige Sicherheit und das nächste Tor schien nur eine Frage der Zeit. 20 Minuten später war es dann soweit; Bálint Vécsei provozierte weitere Leuchtfeuer und Rauchschwaden in grün und weiß. Mit der Führung konnte die von Stanislaw Salamowitsch Tschertschessow trainierte Meistermannschaft in spe entspannt zum Pausentee schreiten.

Auch mich zog es wieder an die Bar. Für die Very Important Persons war nun eine Halbzeitjause mit süßem Hefegebäck, drei Sorten Brezeln und dem Fradi Hotdog vorbereitet. Eigentlich war ich noch satt, aber so ein mäßig zu empfehlendes heißes Würstchen im weichen Weizenbrötchen ging letztlich doch noch auf Fradis Nacken. Um hier in der Business Area richtig connecten zu können, machte ich mir mit Bier außerdem alle Lampen von meinem Router an. Schnell zwei Becher Gerstensaft binnen 15 Minuten genascht und zwei weitere mit auf die Tribüne genommen. Ich war nun bereit weiterhin starke Signale aus den Fanblöcken zu empfangen und sollte nicht enttäuscht werden.

Green Monsters‘ Smoke

Zur zweiten Halbzeit begrüßten die Ultras von Ferencváros die Mannschaften mit grünen Rauchgranaten zurück und aufgrund der nur langsam abziehenden Nebelwolke musste Schiedsrichter Ferenc Karakó das Spiel für einige Minuten unterbrechen. Wenig gab es dann auch bei Újpest einen choreographischen Nachruf. Erst vor wenigen Tagen war András Altsach mit 53 Jahren nach langer Krankheit gestorben. Altsach, von allen Szöke (der Blonde) genannt, war über Jahrzehnte eine der prägenden Figuren in der Szene von Újpest. Schwarze Papptafeln umrahmten ein Bild des Verstorbenen und aus Bengalischen Feuern wurde ein Kreuz gebildet. Auch die Kurve gegenüber zeigte sich respektvoll vor der Lebensleistung eines Capos ihres Erzrivalen.

Eine Rivalität, die in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts übrigens noch nicht sonderlich ausgeprägt war. Újpest (Neu-Pest) war damals noch ein Vorort von Budapest und innerhalb der Stadtgrenzen rangen MTK und Ferencvàros um die fußballerische Vorherrschaft. Deshalb wird deren Derby auch bis heute als Örökrangadó (ewiges Derby) bezeichnet, wenngleich MTK seit geraumer Zeit weder sportlich, noch fantechnisch ernste Konkurrenz für Fradi darstellen kann. 1950 wurde jedoch Újpest nach Budapest eingemeindet und der 1885 gegründete Traditionsverein Újpesti Torna Egylet (UTE) dem Innenministerium der Volksrepublik Ungarn unterstellt. Wie bei den artverwandten Clubs in den sozialistischen Bruderstaaten bekam das Emblem nun ein „D“. Allerdings stand es hier nicht für Dynamo oder Dinamo, sondern für György Dózsa, den Anführer des ungarischen Bauernaufstandes von 1514. Ferencváros wurde unterdessen zwar systembedingt mit der Lebensmittelindustrie verquickt, blieb aber im Prinzip der bürgerliche Verein aus der Vorkriegszeit. Daher zog man weiterhin tendenziell systemkritische Menschen aus der bürgerlichen Mitte an, während die Fans in Újpest typischerweise der Arbeiterklasse ihres industriell geprägten Stadtbezirks angehörten.

Schalparade bei Fradi

Die sportliche Rivilität gedieh schließlich ab Ende der 1960er Jahre, als das Innenministerium gezielt seinen Polizeisportverein aus Újpest förderte und die Violettweißen bis zum Systemwechsel meist mit Ferencváros um die Meisterschaft konkurrierten. In diesem Vierteljahrhundert war die Derbybilanz entsprechend sehr ausgeglichen (20 Siege UTE, 15 Siege FTC und 15 Unentschieden bei einem Torverhältnis von 99:96). Insgesamt hat Ferencváros jedoch deutlich die Nase vorn. Bei den bisherigen 234 Duellen konnte Fradi 111 mal als Sieger vom Platz gehen, während Újpest nur 61 mal erfolgreich war (62 Aufeinandertreffen endeten ohne Sieger).

Kurze Torfreude im Gästeblock

Heute blieb der Ausgang lange offen und in der Nachspielzeit schien UTE die Meisterfeier des Rivalen tatsächlich noch vertagen zu können. Yohan Croizet traf und brachte den Gästeblock zum Beben. Doch den Ultra Viola Bulldogs, Viola Fidelity & Co war dieser kleine Triumph nicht vergönnt. Bei der Ballannahme von Croizet kam es wohl zu einem Handspiel und nach zwei Minuten Videostudium des Schiedsrichters wechselte der Spielstand auf der Anzeigetafel wieder von 2:2 auf 2:1. Da wenig später der Schlusspfiff ertönte, konnte der Heimanhang gleich durchfeiern. Die Mission „Meisterschaft im Derby“ ist geglückt und der Ferencvárosi Torna Club durfte den insgesamt 33sten Meistertitel der Vereinsgeschichte mit seinen Fans zelebrieren.

Ein paar „Grüne Monster“ wollen auf dem Platz feiern

Nach einer Viertelstunde Ehrenrunde und Feierlichkeiten, verzog sich die Mannschaft erstmal in die Katakomben und ich erfrischte mich nochmal an einer der Bars der Business Area. Dabei lauschte ich der Pressekonferenz. Ich hatte Angst nichts zu verstehen, aber Újpests serbischer Cheftrainer Miloš Kruščić grübelte in englischer Sprache darüber, woran es gelegen hat und Meistertrainer Tschertschessow hatte sich auf seinen Stationen in Deutschland und Österreich ein exzellentes Deutsch mit russischem Akzent angewöhnt, in welchem er nun dozierte. Erkenntnisgewinn bei dem Feuerwerk der Floskelsalven für mich trotzdem gleich null. Aber das gilt irgendwie fast immer für Pressekonferenzen direkt nach Abpfiff.

Meisterfoto vor der Fankurve

Ohne dokumentationswürdige O-Töne, aber weiterhin mit gesundem Durst, wandelte ich anschließend noch ein wenig durch den VIP-Bereich. An so ein VIP-Dasein kann man sich schon gewöhnen. Habe auch gerade gehört, dass bei 96 zur neuen Saison eine Loge frei wird. Vielleicht kann ich meine durch Aktienspekulation und / oder erfolgreiche Sportwetten an der Schwelle zum Millionär stehenden Freunde Abto, Berger, Johnny und Kräftchen überzeugen, dass wir gemeinsam die honorigen Herren Schröder, Meine, Samii, Wiese und Papenburg beerben. Wenn wir die Sommerpause über schön lüften, wird ein Wind of Change bestimmt auch den Mief der Vormieter beseitigen.

Dieses Adlerauge hatte auch gesehen, dass es Handspiel war

Gegen 20:30 Uhr machte ich mich wieder zum Hotel auf. Am nächsten Morgen sollte mein Zug gen Westen um 7:40 Uhr rollen. Weil ich natürlich vorher noch frühstücken wollte, war es ganz gut bereits um 21 Uhr im Bett zu liegen und ein, zwei Stunden später auch tatsächlich im Land der Träume zu sein. Am nächsten Morgen stürmte ich um 6:30 Uhr das frisch eröffnete Frühstücksbuffet und naschte im Prinzip das gleiche Programm wie am Vortag. 3.000 Sekunden und 4.000 Kilojoule später spazierte ich gut gelaunt zum 1.000 Meter entfernten Bahnhof Budapest-Keleti. Mit Umstiegen in Wien und Göttingen wurde es eine lange, aber reibungslose Rückfahrt (obwohl die Pass- und Zollkontrolle in Freilassing meinen Anschluss in München arg gefährdet hatte). Langweilig wurde mir in den rund zwölf Stunden auch nicht, da ich auf solchen langen Bahnfahrten immer sehr produktiv bin. 19:35 Uhr war ich schließlich daheim und kann nun auch das Örökrangadó von meiner Bucket List streichen.

Song of the Tour: Nicht nur der DFB hielt die Village People für stadiontauglich