Wrocław (Breslau) 07/2023

  • 29.07.2023
  • WKS Śląsk Wrocław – KGHM Zagłębie Lubin 1:2
  • Ekstraklasa (I)
  • Stadion Miejski (Att: 16.928)

Am 2.Spieltag der Ekstraklasa fiel mir das Derby Dolnego Śląska zwischen Śląsk Wrocław und Zagłębie Lubin ins Auge. Das wurde auf Samstagabend 20 Uhr terminiert, was theoretisch eine Low-Budget-Anreise ermöglichte. Bis zur Grenze käme ich kostenneutral mit meinem Deutschlandticket und nach dem Verlassen des deutschen Bodens würde mich der polnische ÖPNV für unter 10 € bis Wrocław (Breslau) transportieren. Im Optimalfall wäre ich 6:14 Uhr in Hildesheim gestartet und 16:28 Uhr in Wrocław angekommen. Aber mal abgesehen davon, dass bei sieben Umstiegen wahrscheinlich irgend ein Anschluss nicht geklappt hätte, reizte am Ende doch die Komfortvariante etwas mehr. Zumindest bis Dresden buchte ich einen Platz im InterCity für 20,90 € (Abfahrt in Hannover um 6:36 Uhr). Von Dresden ging es dann mit dem Deutschlandticket bis zur Grenze und von dort kostete die Weiterfahrt nach Wrocław 38,80 Złoty (ca. 8,80 €).

St. Maria auf dem Sande (14.Jahrhundert)

Ich erreichte die Hauptstadt der Województwo dolnośląskie (Woiwodschaft Niederschlesien) mit meiner gewählten Verbindung um 14:45 Uhr. In den nächsten Stunden wollte ich mir die über tausendjährige Geschichte der Stadt erschließen und suchte dafür zunächst die durch Wrocław fließende Odra (Oder) mit der Wyspa Piasek (Sandinsel) und der Ostrów Tumski (Dominsel) auf. Der slawische Stamm der Slezanen hatte auf letzterer Flussinsel im Frühmittelalter eine erste befestigte Siedlung errichtet. Im späten 10.Jahrhundert eroberte das polnische Adelsgeschlecht der Piasten die Region und im Jahre 1000 gründete deren Herzog Bolesław I Chrobry (Boleslaus der Tapfere) die Dioecesis Wratislaviensis (Diözese Breslau) als Suffraganbistum der zeitgleich errichteten polnischen Archidioecesis Gnesnensis (Erzdiözese Gnesen).

Der Dom (der im 13.Jahrhundert seine gotische Gestalt bekam)

Nach der Bistumsgründung begann der Bau des ersten Doms und wenig später kamen auch deutsche Siedler in die Stadt. Nachdem die Mongolen jenes Wratislavia im Jahre 1241 zerstört hatten, zeichnete sich insbesondere die deutsche Gemeinschaft beim Wiederaufbau aus und die “neue” Stadt bekam wie so viele Städte im östlichen Mitteleuropa das Magdeburger Recht als Stadtrecht. Aus den deutschen Kaufleuten entwickelte sich nun auch das Patriziat der Stadt, welches in der Folgezeit einige Privilegien vom Herzog verliehen bekam und im Rathaus zum bestimmenden politischen Faktor aufstieg. Vom einstigen Reichtum und Status künden noch heute jenes Rathaus (spätes 13.Jahrhundert) und die Bürgerhäuser am Rynek (Großer Ring). Mit einer Fläche von 3,7 Hektar übrigens einer der größten Marktplätze Europas.

Nepomukstatue auf der Dominsel

Unter den Piasten zerfiel das ursprünglich einige Herzogtum Schlesien unterdessen bei Erbteilungen in zahlreiche kleinere Herzogtümer. 1335 kamen diese schlesischen Herzogtümer mitsamt Breslau durch den Vertrag von Trentschin zunächst unter böhmische Herrschaft. Das geschäftige Breslau stieg nun nach Prag zur zweitreichsten und zweitgrößten Stadt des Königreichs Böhmen auf. Doch mit dem Tod des seinerzeit über Ungarn und Böhmen in Personalunion herrschenden Königs Ludwig II. in der Schlacht bei Mohács (1526), fielen das Königreich Ungarn und die Länder der böhmischen Krone gemäß eines auf dem Wiener Fürstentag im Jahre 1515 geschlossenen Erbvertrags an die Habsburger.

Das fünfteilige Wappenschild

Wenig später (1530) verlieh Kaiser Karl V. der Stadt ihr fünfteiliges Wappen, welches den böhmischen Löwen (links oben), den schlesischen Adler (rechts oben), ein W für Wratislawia (links unten) und die Häupter des Evangelisten Johannes (rechts unten) und des Täufers Johannes (Wappenmitte) zeigt. Breslau wäre damals auch gerne Freie Stadt bzw. Reichsstadt wie beispielsweise Lübeck oder Wetzlar geworden, konnte dieses Privileg jedoch nicht erfolgreich erwirken. Also musste man sich mit den Habsburgern arrangieren und die zeichneten sich bald durch rege Bautätigkeit aus, was das Stadtbild in Teilen barockisierte. Außerdem stiftete Kaiser Leopold I. der Stadt 1702 eine Universität. Die Aula jener Leopoldina gilt als eines der größten barocken Meisterwerke nördlich der Alpen.

Die Nordostseite des Rynek

1740 erfolgte allerdings die nächste Zäsur in der Stadtgeschichte. Denn in jenem Jahr erneuerten die Preußen alte Ansprüche auf Schlesien mit Waffengewalt und der Erste Schlesische Krieg zwischen Preußen und Österreich brach aus. Die Armee des preußischen Königs Friedrich II. (Friedrich der Große) war siegreich und am 11.Juni 1742 wurde in Breslau ein Präliminarfrieden geschlossen, der sechs Wochen später nochmal von Preußen und Österreich in Berlin bestätigt wurde. Erzherzogin Maria Theresia übergab nun den größten Teil des Herzogtums Schlesien als souveränen Besitz an den preußischen König Friedrich II., während ein kleiner Teil als Österreichisch-Schlesien im Habsburgerreich verbleiben durfte (Vgl. Opava & Cieszyn 10/2022).

Süd- und Westfassade des Rathauses

Friedrich II. machte Breslau zur dritten Residenzstadt seines Königreichs (neben Berlin und Königsberg) und wirtschaftlich war die preußische Hoheit für Breslau auch nicht schlecht. Es erleichterte den Handel mit den nahen preußischen Städten und während der Industrialisierung siedelten sich zahlreiche Fabrikanten in Breslau an. Im 1871 unter Preußens Führung gegründeten Deutschen Kaiserreich war es seinerzeit fast einer mit Viertelmillion Einwohnern die drittgrößte Stadt nach Berlin und Hamburg. Auch das jüdische Leben in Breslau erfuhr eine neue Blüte und eine größere jüdische Gemeinde konnte im Reich lediglich Berlin vorweisen.

Das barocke Hauptgebäude der Universität (18.Jahrhundert) mit dem Fechterbrunnen von 1904

Doch 200 Jahre nachdem Friedrich II. Schlesien an sich gerissen hatte, steuerte Breslau auf die größte Katastrophe seiner rund tausendjährigen Geschichte zu. Das Deutsche Reich war mittlerweile eine nationalsozialistische Diktatur und hatte Europa mit einem neuen Krieg überzogen. Zugleich verübten die Nationalsozialisten in ihrem Rassenwahn einen Völkermord an den Juden Europas. So wurden auch die rund 23.000 Juden, die 1939 am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in Breslau gelebt haben, fast ausnahmslos ermordet. Doch während die deutsche Mordmaschinerie an der so genannten Endlösung der Judenfrage arbeitete, befand sich die deutsche Armee ab 1943 an allen Fronten auf dem Rückzug. Im Frühjahr 1945 rückte die Armee der Sowjetunion schließlich auf Breslau vor und in den Kämpfen um die von den Nazis zur Festung erklärten Stadt wurde ca. 70 % der Bausubtanz zerstört.

Die Dombrücke von 1888

Nach dem Krieg musste Deutschland Schlesien im Rahmen der von der Sowjetunion initiierten polnischen Westschiebung fast vollständig an Polen abtreten. Die deutsche Bevölkerung wurde binnen weniger Jahre vertrieben. Stattdessen kamen aus den von der Sowjetunion annektierten polnischen Ostgebieten wie Galizien und Wolhynien vertriebene Polen in die ehemals deutschen Städte und Dörfer östlich der Oder und Neiße. Nichtsdestotrotz bauten die Polen das zerstörte Breslau teilweise originalgetreu wieder auf, betonten im Geschichtsverständnis jedoch die polnische Wurzel der Stadt und beseitigten weitgehend die konkreten deutschen Spuren im Stadtbild. Aus Breslau wurde Wrocław und im neuen Stadtwappen teilten sich fortan ein halber schlesischer und ein halber polnischen Adler das Schild (was der 1947 gegründete WKS Śląsk leicht abgeändert bis heute als Vereinswappen nutzt).

In den 1980er Jahren stellte eine Oppositionsgruppe einen gusseisernen Zwerg in der Altstadt auf (mittlerweile sind es über 600 und eine große Touristenattraktion)

Doch die polnischen Vertriebenen dürften lange mit der neuen Heimat gefremdelt haben. Obendrein lebte man nicht in Freiheit, sondern musste sich mit einer von Sowjetunion installierten und protegierten sozialistischen Diktatur arrangieren. Erst als die Bürgerbewegung der 1980er Jahre die Polska Rzeczpospolita Ludowa (Volksrepublik Polen) beseitigte, wurde ab 1990 ein neues Kapitel der Stadtgeschichte aufgeschlagen. In der nun westlich-kapitalistisch orientierten Demokratie der III Rzeczpospolita Polska (Dritte Polnische Republik), welche 1999 der NATO und 2004 der EU beitrat, eröffneten sich neue Perspektiven für Wrocław. Man geht mittlerweile offener mit der deutschen Vergangenheit um, besann sich wieder auf das historische Stadtwappen von 1530 und präsentiert sich seit der politischen Wende als weltoffene Kultur- und Wissenschaftsstadt. Für ein junges und lebendiges Stadtbild sorgen dabei auch rund 145.000 Studenten unter den annähernd 675.000 Einwohnern.

Streifzug durch Nadodrze

Inzwischen lernen auch jedes Jahr Millionen von Touristen die geschichtsträchtige und zugleich sehr lebendige Stadt kennen (allein im Vorjahr wurden 5,8 Mio Gäste gezählt). Das Selbstverständnis einer jungen Stadt mit alter Geschichte wurde mir am späten Nachmittag nochmal besonders bei einem Streifzug durch das Viertel Nadodrze (Odertor) vermittelt. Einerseits überstand die hiesige Altbausubstanz aus der Gründerzeit den Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet und die Fassaden mit deutscher Beschriftung wurden einfach nur überputzt. Als das Viertel in den kommenden Jahrzehnten vernachlässigt wurde, bröckelte der Putz und die Spuren der deutschen Vorbesitzer wurden wieder sichtbar. Andererseits war Nadodrze als zentrumsnahem, aber ziemlich heruntergekommenem Stadtteil beinahe schon zwangsläufig die Metamorphose zum Szeneviertel vorbestimmt. Hier gibt es entsprechend viel Streetart, wie auch angesagte Gastronomie zu entdecken.

Deutsche Spuren in Nadodrze

Der Blick auf die Uhr ließ der Kulinarik von Nadodrze allerdings keine Chance. 18 Uhr war schon längst durch und aus Zeitgründen setzte ich doch sicherheitshalber auf Fast Food, ehe es gegen 18:30 Uhr mit der Tram zum rund 30 Minuten entfernten Stadion ging. Doch bevor ich die Sportstätte betrat, checkte noch fix in mein Hotel ein und brachte mein Kleinstreisegepäck auf’s Zimmer. Ich hatte mich nämlich praktischerweise für 44 € eine Nacht inklusive Frühstück im Ibis Budget Wrocław Stadion (*) eingebucht. War nicht nur erheblich günstiger als vergleichbare Unterkünfte im Stadtzentrum, sondern hatte auch den Vorteil, dass ich nach Spielende direkt ins Bett fallen konnte. Außerdem konnte ich am kommenden Morgen die Rückreise bequem vom nahen Stadionbahnhof antreten.

Für den Maestro Bacon & Cheddar im Menü durfte eine global agierende Schnellrestaurantkette meine Kreditkarte mit 37,90 Złoty (ca. 8,60 €) belasten

Am 96 Meter vom Hotel entfernten Stadion trafen mit mir zusammen ein paar Busse mit Gästefans ein. Das war nicht selbstverständlich, da der niederschlesische Woiwode Jarosław Obremski regelrecht inflationär Gästeverbote in seiner Woiwodschaft verhängt. Im Frühjahr schloss er gar den Gästesektor in Wrocław pauschal bis Saisonende, nachdem die Anhänger von Lech und Legia bei ihren Gastspielen gezündet hatten. Er hatte obendrein mit kompletten Geisterspielen gedroht, sollte es bei WKS Śląsk in der Heimkurve oder in anderen Stadionbereichen zu weiteren sicherheitsrelevanten Zwischenfällen kommen. Eigentümer von WKS Śląsk ist übrigens die Stadt Wrocław und die wird von eher liberalen Politikern regiert, die in Opposition zur gegenwärtig in Polen regierenden nationalkonservativen und rechtspopulistischen PiS stehen. Obremski wiederum ist ein Mann der PiS. Aber Unterstellungen, dass sein hartes Vorgehen parteipolitisch oder ideologisch motiviert ist, weist er selbstverständlich weit von sich. Es ginge ihm ausschließlich um die Sicherheit der Bürger, die durch mangelhaften Ordnungsdienst bei WKS Śląsk akut gefährdet sei.

Die Gästefans treffen ein

Weil die Bürger in den letzten Saisonspielen von WKS Śląsk keinerlei Gefahren ausgesetzt waren, hatte der Verein immerhin vorerst keine Auflagen vom Woiwoden für die neue Saison. Dass die Spielplangestalter für’s erste Heimspiel nun ausgerechnet ein Derby angesetzt hatten, ermöglichte den Fans aus dem rund 100 km entfernten Lubin (Lüben) erstmals seit vier Jahren wieder eine Reise nach Wrocław. Ich zählte 1.312 von ihnen, unterstützt auch von zwei Busladungen aus der befreundeten Fanszene von Odra Opole (+ vereinzelt Zawisza Bydgoszcz und Arka Gdynia). Da Odra den WKS Śląsk ebenfalls hasst, ist das sicher eine sinnige Waffenbrüderschaft. Im Heimbereich waren unterdessen Gäste aus der Szene von Miedz Legnica auszumachen, die mit Śląsk den Hass auf Zagłębie Lubin teilen (Vgl. Legnica 09/2018). Auch von Lechia Gdańsk und Motor Lublin waren erwartungsgemäß Abordnungen zur Freundschaftspflege nach Wrocław gereist und platzierten ihre Banner in der Heimkurve.

Die Gäste im Stadion

Mit knapp 17.000 Zuschauern war das Spiel heute überdurchschnittlich gut besucht (letzte Saison lag der Schnitt bei 10.365). Allerdings ist und bleibt das für die EM 2012 errichtete Stadion Miejski mit seinen 45.000 Plätzen hoffnungslos überdimensioniert für den zweifachen polnischen Meister WKS Śląsk (1977 & 2012). Ich mein; selbst als der ruhmreiche Hannoversche Sportverein von 1896 im August 2012 zu Gast war, zählte man nur rund 25.000 Zuschauer. Wie soll das Stadion also überhaupt mal voll werden?

Die Heimkurve freut sich über das 1:0

Laut war es heute natürlich trotzdem. Erst recht nach dem 1:0 durch Erik Expósito per Strafstoß in der 24.Minute. Der Wrocławski Klub Sportowy dominierte die 1.Halbzeit weitgehend und hätte durchaus auch höher in Führung gehen können. Stattdessen gab man die Partie nach dem Seitenwechsel aus der Hand. Dawid Kuminowski (53.) und Damjan Bohar (57.) sorgten mit ihren Treffern für Ekstase in der Gästekurve. Der Anhang des ebenfalls zweifachen Meisters (1991 & 2007) war sowieso ganz gut aufgelegt. Dazu machte der unifarbene Auftritt in orange auch was her. Ergänzend hatten sie alle einen Mottoschal in der Optik einer legendären Zagłębie-Zaunfahne: „Gdzie nogę postawię, na wyprawie tam się bawię“ (sinngemäß: Wo immer ich meinen Fuß hinsetze, auf Tour habe ich Spaß).

Niederschlesische Nackedeis

Was die Optik und Lautstärke anging, enttäuschte die Heimkurve ebenfalls nicht. Obendrein präsentierten sie Mitte der 2.Halbzeit noch eine große und vor allem kontroverse Fanaktion. Wołyń ’43 stand in blutroter Schrift auf einer großen schwarzen Blockfahne geschrieben, die von etlichen Signalfackeln begleitet wurde. Ferner war zu lesen: „80 lat haniebnego milczenia za nami – Przemilczane ludobójstwo, bo ofiary były Polakami“ (80 Jahre beschämendes Schweigen liegen hinter uns – Der unausgesprochene Völkermord, weil die Opfer Polen waren). Das sollte an die Rzeź wołyńska (Wolhynien-Massakern) im Jahre 1943 erinnern, bei denen die Orhanizatsiya ukrayins’kykh natsionalistiv (OUN; Organisation Ukrainischer Nationalisten) bzw. deren militärischer Arm Ukrayins’ka Povstans’ka Armiia (UPA; Ukrainische Aufständische Armee) in Galizien und Wolhynien (heutige Westukraine) wahrscheinlich zwischen 50.000 und 100.000 dort lebende Polen ermordet hat. Höhepunkt dieser genozidalen Verbrechen war der so genannte Krwawa niedziela (Blutsonntag) am 11. Juli 1943. An jenem Tag wurden über 100 Orte ethnisch gesäubert. Die UPA mobilisierte dazu auch ukrainische Zivilisten in den Dörfern, die mit Sensen, Hacken und Äxten ihre polnischen Nachbarn buchstäblich massakrierten und deren Höfe in Brand steckten.

Lubiner Lebensfreude

Die zwischen 1945 und 1990 aus politischen Gründen tatsächlich tabuisierten ukrainischen Verbrechen, sind in Polen mittlerweile historisch aufgearbeitet und vom Senat und Parlament 2016 als Genozid eingestuft worden. Im Nachbarland werden OUN, UPA und ihre Führer wie Stepan Bandera oder Dmytro Kljatschkiwskyj bis heute – insbesondere in der Westukraine – jedoch als Nationalhelden verehrt. Ihre Verbrechen werden dagegen unzureichend thematisiert. In der Ukraine leugnet man diese zwar nicht, allerdings wehrt man sich gegen die Einordnung der Ereignisse als Genozid. Stattdessen sieht man die ethnischen Säuberungen von 1943 als eine von vielen Tragödien im Kontext des Krieges, bei der neben den polnischen Opfern auch die ukrainischen Opfer polnischer Vergeltungsaktionen nicht unter den Tisch fallen dürfen (schätzungsweise 10.000 bis 15.000 Tote). Ebenso verweist man auf die Vertreibung nahezu aller Ukrainer aus Polen bei der Akcja Wisła (Aktion Weichsel) im Jahre 1947. Damals wurden über 150.000 Ukrainer aus ihrer Heimat im heutigen Südostpolen vertrieben.

Choreo der WKS-Fanatiker

Man sieht, dass Verhältnis zwischen Polen und Ukrainern ist wechselseitig belastet und weitere gemeinsame Aufarbeitung ist dringend geboten. Allerdings lässt der Überfall Russlands auf die Ukraine diese Aufgabe vorerst in der bilateralen Prioritätenliste nach hinten rücken und Polen hat sich trotz der schwierigen Vergangenheit als sehr großer militärischer und politischer Unterstützer der Ukraine profiliert. Obendrein hat man zwischenzeitlich über 1,5 Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge in Polen aufgenommen. Aber da sind wir vielleicht auch bei einem der Gründe, warum in Wrocławs Fanszene so prominent den Rzeź wołyńska gedacht wurde. Denn in Wrocław lebten bereits vor der Flüchtlingswelle ca. 80.000 Ukrainer, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Polen emigriert sind. Weil dort Verwandte leben, kamen nun proportional die meisten ukrainischen Flüchtlinge nach Wrocław (wahrscheinlich ist zur Zeit annähernd jede fünfte Bewohner der Stadt ukrainischer Staatsbürger).

„Wir dürfen nicht schweigen, wir müssen uns an sie erinnern,. An die Opfer, die aus den Gräbern rufen…“

Doch längst nicht alle Polen teilen den Kurs der Regierung und die Solidarität ihrer Mitbürger. Es kommt immer wieder zu Übergriffen gegen Ukrainer und polnische Nationalisten forderten auf ihren Märschen am polnischen Nationalfeiertag letztes Jahr ein Ende der „Ukrainisierung Polens“ und der „Verbrüderung mit den Ukrainern“. Dabei wurde in Warszawa, Wrocław und anderswo immer wieder auf die historischen Verbrechen der Ukrainer hingewiesen, deren Täter in der Ukraine bis heute als Helden verehrt werden. In Wrocław kommt dabei hinzu, dass der Großteil der Bevölkerung und damit natürlich auch der hiesigen Nationalisten von aus der heutigen Westukraine vertriebenen Polen abstammt und die Opfer der Rzeź wołyńska zu ihren direkten Vorfahren zählen.

Antiukrainische Parolen

Neben der vom Verein genehmigten Erinnerungschoreographie, tauchten nun auch aus den nationalistischen Märschen bekannte Parolen in der Kurve auf. „Stop ukranizacji Polski“ (Stoppt die Ukrainisierung Polens), „Ukraińcy mordowali dzieci na Wołyniu“ (Ukrainer ermordeten Kinder in Wolhynien), „Jebać UPA“ (F*ck die UPA) und „Bandera, kurwa Hitlera“ (Bandera, die Hure Hitlers) war auf laut Verein nicht genehmigten Bannern zu lesen. Inhaltlich deckungsgleiche Sprechchöre gab es ebenfalls, in welche sogar die Gäste aus dem niederschlesischen Kupferbecken einstiegen. Aber kein Wunder, trennen die beiden verfeindeten Fanlager zwar die Farben, doch nicht die Biografien und Ideologien.

Die Gäste feierten ihren Derbysieg zunächst mit der Mannschaft und dann alleine im weiten Rund

Die Harmonie war natürlich nur von kurzer Dauer und der Abend klang mit gegenseitigen Provokationen so aus, wie man es erwarten konnte. Die lange Blocksperre ließ die Gäste ihren Triumph noch lange im ansonsten leeren Rund feiern (optimaler Saisonstart mit sechs Punkten aus zwei Spielen), während draußen ein paar heimische Teenager die Polizei mit Wurfgegenständen eindeckten. So richtig gekracht hat es aber nur am Himmel und jenes Gewitter bewog mich zeitnah ins Hotel rüber zu gehen. Denn dem Blitz und Donner begleitenden Starkregen war meine heutige Kleidung nicht wirklich gewachsen.

Nach Abpfiff hat es noch ordentlich gekracht

Am Sonntagmorgen klingelte der Wecker um 6:30 Uhr und keine 30 Minuten später hatte ich ein Brötchen mit Aufschnitt, Sałatka jarzynowa und kleine knackige Kiełbasa śląska mit Sos amerykański vor mir stehen. Anschließend ging’s zum Stadionbahnhof, wo mich um 8:06 Uhr der Regionalzug nach Zielona Góra (Grünberg in Schlesien) aufnehmen durfte. Dort hatte ich ab 10:16 Uhr noch 72 Minuten Aufenthalt, ehe es weiter nach Frankfurt / Oder ging. Gesamtpreis bis zur deutsch-polnischen Grenze: 42,20 Złoty (ca. 9,60 €).

Frühstückszeit

Ab Frankfurt / Oder ermöglichte mir das Deutschlandticket um 12:55 Uhr eine kostenneutrale Weiterfahrt, die vorerst nur bis Fürstenwalde / Spree führen sollte (Ankunft: 13:12 Uhr). Denn ich hatte dort ein Fußballspiel für die Nachmittagsgestaltung erspäht. Um 14 Uhr sollte der FSV Union Fürstenwalde die TSG Neustrelitz zum Saisonauftakt der fünftklassigen NOFV-Oberliga Nord empfangen.

  • 30.07.2023
  • FSV Union Fürstenwalde – TSG Neustrelitz 4:2
  • NOFV-Oberliga Nord (V)
  • Karl-Friedrich-Friesen-Stadion (Att: 271)

Für einen Innenstadtbummel war leider keine Zeit mehr, aber der ca. 1.896 m lange Weg vom Bahnhof zum Stadion war auch ganz nett. Es ging durch einen schönen Park und an einer fürstlichen Schlossruine kam ich auch vorbei. Im angrenzenden Wald findet man schließlich das Karl-Friedrich-Friesen-Stadion. Es wurde 1980 eröffnet und fasst ungefähr 8.000 Zuschauer auf seinen teilweise gut überwucherten Rängen. Zugelassen ist das Stadion allerdings nur 5.000 Zuschauer, wovon theoretisch 2.000 auf der relativ neuen Haupttribüne stehen (1.500) und sitzen (500) können. Deren Dach hat der FSV übrigens vor ein paar Jahren aus der Alten Försterei geerbt. Seitdem fällt es den zahlreichen in Fürstenwalde lebenden Fans von Union Berlin wahrscheinlich noch leichter, auch mal beim Namensvetter vor der eigenen Haustür vorbeizuschauen.

Blick zur Haupttribüne des Fürstenwalder Friesenstadions

Außerdem weiß hoffentlich jeder Unioner aus Fürstenwalde, dass der 1.FC Union Berlin und der FSV Union Fürstenwalde gemeinsame Wurzeln haben. Denn der hiesige Club entstand 1919 doch tatsächlich als eine Fürstenwalder Abteilung des Berliner Fußballclubs SC Union 06 Oberschöneweide, auf dessen Tradition sich auch der 1.FC Union Berlin beruft. Zu DDR-Zeiten verschwand Union allerdings aus dem Vereinsnamen und zwischen 1971 bis 1990 fungierte man als SG Dynamo Fürstenwalde sogar als eine Art Farmteam des Union-Intimfeinds BFC Dynamo. Die Fürstenwalder übernahmen 1971 den Platz von Dynamo Frankfurt in der zweitklassigen DDR-Liga und fortan wurden ihnen einige vielversprechende Talente zugeteilt, die sie wiederum an den BFC Dynamo heranführen sollten. Das gestiegene Leistungsniveau sorgte dafür, dass die SG Dynamo Fürstenwalde sportlich eine gute Rolle in der DDR-Liga spielte und zwischenzeitlich sogar mal am Aufstieg zur DDR-Oberliga kratzte.

Die Mitgereisten aus Mecklenburg

Nach der Wende firmierte man als SG Union 1919 Fürstenwalde, musste fortan jedoch kleine Brötchen backen. Erst die Fusion mit dem Verbandsligisten FSV Wacker Fürstenwalde zum FSV Union Fürstenwalde im Jahre 2002 sorgte wieder für gehobenes Amateurniveau im Friesenstadion. 2016 feierte man schließlich als Oberligameister den Aufstieg in die Regionalliga Nordost und hielt sich bis 2022 in der 4.Liga. Dann folgte im vorigen Sommer der bedauerliche Abstieg in die Oberliga, in der man insbesondere aus finanziellen Gründen eine turbulente Saison 2022/23 erlebte. Sportlich gelang zwar der Klassenerhalt, aber man überlegte freiwillig in die Verbandsliga runter zu gehen. Letztlich wagte man sich aber doch an die Finanzierung einer weiteren Oberligasaison. Es kam zum großen Kaderumbruch und immerhin etwas über 250 zahlende Zuschauer wollten heute sehen, was die runderneuerte Truppe so kann.

Mein heutiges Mittagessen war eine Stadionwurst im Brötchen (3 €)

Abgesehen von den paar Gästefans aus Neustrelitz, sollte die Mannschaft den Besuchern einen schönen Nachmittag bescheren. Vor allem der kolumbianische Mittelstürmer Yulián Moreno feierte eine gelungene Premiere im Union-Dress. Er besorgte mit Treffern in der 13. und 30.Minute die verdiente Pausenführung für den Gastgeber. Und als Neustrelitz nach dem Seitenwechsel durch Ladwig verkürzen konnte (49.), lieferte Morena mit seinem dritten Tor an diesem Nachmittag schnell die richtige Antwort (53.). Bei seiner Auswechslung nach gut einer Stunde bedachte das Publikum den Mittelstürmer verdientermaßen mit Ovationen.

Der Zahn der Zeit…

Die TSG aus der früheren Residenzstadt mecklenburgischen Herzöge versuchte natürlich nochmal zu verkürzen. Aber ihr zwischenzeitlicher Sturmlauf wurde nicht belohnt. Stattdessen machte Julian Mätzke den Sack in der 88.Minute endgültig zu. Ich verließ nun zur 90.Minute das Stadion, um den RE um 16:13 Uhr nach Magdeburg sicher zu bekommen und verpasste deshalb noch etwas Neustrelitzer Ergebniskosmetik durch Dustin Keil in der 5.Minute der Nachspielzeit. Konnte ich verschmerzen und war froh, dass auch der Rest der Rückfahrt reibungslos ablief. Um 22:02 Uhr war ich wieder in Hildesheim und 15 Minuten später versank mein Kopf zufrieden in den heimischen Kissen. Das Deutschlandticket kann also auch bei internationalen Touren in die Nachbarländer eine tragende Rolle spielen.

Song of the Tour: Gdzie nogę postawię, na wyprawie tam się bawię…