Wetzlar & Gießen 07/2023

  • 15.07.2023
  • FSV Braunfels – Eintracht Frankfurt 1:15
  • Friendly (VII / I)
  • Stadion Wetzlar (Att: 6.500)

Die ersten zwei Wochenenden der neuen Spielzeit 2023/24 wurden u. a. mit einem Festivalbesuch vor der eigenen Haustür (Hildesheimer Wallungen) und einer Nachtwanderung auf den Brocken fußballfrei, aber dennoch sehr sinnstiftend gestaltet. Am dritten Juli-Wochenende stand jedoch nichts im Terminkalender und das Deutschlandticket für den ÖPNV macht bekanntlich jederzeit einen kostengünstigen Kurztrip innerhalb der bundesdeutschen Grenzen möglich. Jetzt durfte auch gerne wieder der Ball rollen und beim Studium der Ansetzungen fielen mir zwei Kicks in Mittelhessen ins Auge.

Sonnenaufgang auf dem Brockenplateau

Am Samstag wollte Eintracht Frankfurt in Wetzlar weilen und am Sonntag gedachte der SV Darmstadt 98 in Gießen zu gastieren. Diese hessischen Testspielfestspiele nahm ich zum Anlass endlich mal die beiden größten Stadien der Nachbarstädte Wetzlar und Gießen zu besuchen und startete den entsprechenden Wochenendtrip am Samstagmorgen um 7:37 Uhr in Hildesheim. Mit Umstiegen in Elze, Göttingen und Kassel ging es binnen vier Stunden zunächst bis Gießen.

Das Kaiserliches Postamt Gießen von 1888

Wie eingangs erwähnt, stand jene Stadt eigentlich erst für Sonntag auf meiner Liste. Doch mir war bei der Vorabrecherche das Restaurant Justus für ein Mittagessen ins Auge gefallen. Das ist nur einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt und bietet von Montag bis Samstags einen preiswerten Mittagstisch. Weil tagsüber eh alle 10 bis 15 Minuten Züge von Gießen nach Wetzlar verkehren, war dieser Zwischenstopp zeitunkritisch und gegen 12 Uhr gab es nun ein kleines Schnitzel mit Käsesauce, Schupfnudeln und Salat (10 €), sowie eine hausgemachte Orangenlimonade (4,20 €) im besagten Justus.

Mittagessen bei Justus

Nachdem das mundende Mahl verzehrt und bezahlt war, spazierte ich schließlich gemütlich zurück zum Bahnhof. 13:09 Uhr fuhr der nächstbeste Zug nach Wetzlar und transportierte mich binnen 10 Minuten in Gießens von ca. 54.000 Menschen bewohnte Nachbarstadt. Ich hatte immer noch gute zwei Stunden bis zum Anpfiff der heutigen Fußballpartie zu überbrücken und nutzte dieses Zeitfenster für einen ersten Stadtspaziergang. Dabei fiel mir eine Burgruine oberhalb des Stadions auf und weil das Zeitpolster ausreichend war, wurde der bisher gemütliche Spaziergang doch noch etwas schweißtreibend.

Die Ruine Karlsmunt von der Lahnbrücke aus erspäht

War ein kurzer, aber knackiger Anstieg zur Ruine der Burg Karlsmunt. Allerdings gab es zur Belohnung eine schöne Aussicht und zugleich erste Informationen zur Stadtgeschichte. Denn jene Burg wurde vermutlich um 1180 auf Geheiß des römisch-deutschen Kaisers Friedrich I. (Barbarossa) als Reichsburg oberhalb der Lahn erbaut und ebenfalls 1180 schuf der rotbärtige Kaiser hier eine Reichsvogtei. Wetzlar wurde dadurch wie das nahe Frankfurt zur Reichsstadt und sollte diesen Status bis 1806 behalten. Die Burg Karlsmunt war da schon längst dem Verfall preisgegeben. Allerdings machte man sich im 19.Jahrhundert aus romantischen Motiven an den Erhalt der Ruinen und bis heute sind die Überreste der Burg ein beliebtes Ausflugsziel.

Überreste der einstigen Reichsburg

Die erwähnte regionale Nähe zu Frankfurt am Main war nebenbei Schuld, dass zu Füßen der Ruine am heutigen Nachmittag hektische Betriebsamkeit herrschte. Unter dem Motto Eintracht in der Region zeigt sich Hessens erfolgreichster Fußballverein in seinem Einzugsgebiet regelmäßig zum Anfassen. Denn trotz der europäischen Höhenflüge der jüngeren Vergangenheit, will man die hessischen Kernlande natürlich nicht vernachlässigen. Hier in Wetzlar – und in ein paar Tagen auch in Fulda – sollen die hiesigen Fans und Fanclubs ein familiäres Spielchen vor ihrer Haustür serviert bekommen und zugleich soll der lokale Nachwuchs für die Eintracht gewonnen werden.

Ausblick von der Burgruine

Wetzlar und Umgebung nahmen das Angebot der Adler dankend an und sorgten mit 6.500 Zuschauern für ein ausverkauftes Haus. Offizieller Gastgeber und Profiteur der heutigen Erlöse war unterdessen der FSV Braunfels. Ein ehemaliger Ober- und heutiger Gruppenligist (7.Liga) aus einer 10 km von Wetzlar entfernten Kleinstadt. Nachdem ein Stadionprogramm wie vor Pflichtspielen im Waldstadion mit allen musikalischen Klassikern und der Mannschaftsaufstellung zelebriert war, blieb den Braunfelsern allerdings auch nur noch die Freude über die monetären Erlöse. Denn Geschenke gedachte die Eintracht vom Main nur neben, aber nicht auf dem Platz zu verteilen.

Die Fans freuen sich auf ihre Eintracht

Auch wenn einige Stars noch Sonderurlaub hatten oder verletzt fehlten, zeigte sich der Bundesligist im ersten Test der Saison 2023/24 konzentriert und spielfreudig. Tore waren deshalb nur eine Frage der Zeit und erstmals klingelte es in der 7.Minute im Braunfelser Kasten. Bis zum Anpfiff sollte noch vierzehn weitere Male die Ouvertüre aus Franz von Suppés Operette Leichte Kavallerie erklingen (Eintrachts traditionelle Tormusik im Waldstadion). Dabei zeichneten sich mit Igor Matanovic (7. / 37.), Jens Petter Hauge (11. / 45.), Ragnar Ache (59. / 84.) und Junior Dina Ebimbe (71. / 90.) gleich vier Doppelpacker und mit Paxten Aaronson (54. / 66. / 79./ 88.) gar ein Viererpacker besonders aus.

Ausverkaufte Hütte mit 6.500 zahlenden Zuschauern

Bei so klaren Verhältnissen gönnten die Eintracht-Fans den überforderten Braunfelsern natürlich jede gute Szene und bejubelten auch brav den Ehrentreffer durch Davide Luciani in der 34.Minute. Selbst zwischenzeitliche Regengüsse vermiesten niemandem die gute Laune und am Ende durften sich, wie üblich bei derlei Spielen, die Jüngsten auf Autogramme der Stars freuen. Damit es jedoch nicht zu einer Pitch Invasion kam, hatte man clevererweise eine Art Kinderzone mit Flatterband auf der Tartanbahn abgesteckt. Kurz vor Abpfiff gab sich da bereits die Eintracht-Elf aus der 1.Halbzeit die Ehre (der neue Coach Dino Toppmöller hatte in der Pause erwartungsgemäß komplett gewechselt), während der Rest nach Abpfiff für glückliche Kinderaugen am Flatterband sorgte.

Altstadtspaziergang am Abend

Mich zog es derweil zurück in die Altstadt. Zunächst sollte der Dom Unserer Lieben Frau inspiziert werden und anschließend wollte ich lokale kulinarische Spezialitäten testen. Doch weil die dunklen Wolken über Wetzlar einfach nicht weiterziehen wollten, wurde es ein regelrechtes Kirchenasyl für mich. Kaum hatte ich den Dom erreicht, goss es nochmal wie uns Kübeln und obendrein blitzte und donnerte es gewaltig.

Der Dom zu Wetzlar (am Sonntag bei schönem Wetter geknipst)

So blieb zwangsläufig genügend Zeit, um das Innere der gemeinsam von Katholiken und Protestanten genutzten Kirche zu erkunden. Doch auf die regelrecht spannende Fassade mit ihren Zeugnissen der einzelnen Bauphasen, folgte ein ziemlich unspektakuläres Interieur. Denn während die Altstadt von Wetzlar ansonsten nahezu vom Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs (1939 – 1945) verschont blieb, wurde ausgerechnet der Dom im März 1945 ausgebombt (eigentlich konzentrierten sich die Abwürfe nur auf die Industriequartiere der Stadt). Einiges an Kunstschätzen ging verloren und das Kircheninnere wirkt seit dem Wiederaufbau deutlich schmuckloser als vor dem Krieg.

Die teuerste Sauce der Welt

Als die Schlechtwetterfront sich gegen 18:30 Uhr weitgehend verzogen hatte, huschte ich schließlich bei nur noch leichtem Regenschauer rüber zum nahen Restaurant Ratsschänke. Man warb mit regionaler Küche und eigentlich hatte ich Bock auf das Frankfurter Schnitzel mit Grie Soß (Grüner Soße) und Bratkartoffeln für 18,50 €. Aber erst- und hoffentlich einmalig, hatte ich einen spontanen Impuls, der zweimal Schnitzel am Tag als kulinarisches Konzept in Frage stellte. Also wurde außer einer Spezi (3,70 €) die hausgemachte Grie Soß lieber mit Ei und Bratkartoffeln geordert (13,50 €). War durchaus lecker, aber ich glaube bei der Schnitzelvariante hätte ich das bessere Preis-Leistungs-Verhältnis gehabt. Die aufgerufenen 13,50 € für eine Kräutersauce, Bratkartoffeln und ein mickriges gekochtes Ei waren mir selbst bei der gegenwärtigen Inflation zu happig.

Mein Zimmer für eine Nacht

Nach dem Essen ging es mit dem Bus in meine ca. 3.000 Meter von der Altstadt entfernte Unterkunft. Ich hatte mich für eine Nacht ins Vienna House by Wyndham Ernst Leitz (****) eingebucht. Kostete inklusive Frühstück 75 € und darüber hinaus konnte ich diese Übernachtung perfekt mit einem Besuch der Wetzlarer Leica Welt im Leitz-Park verbinden. Am kommenden Morgen sollte es nämlich nach einem gewohnt opulenten Frühstück um 10 Uhr, sprich pünktlich zur Öffnung, ins Ernst Leitz Museum gehen (11 €).

Hotelfrühstück am Sonntagmorgen

Das 2019 eröffnete Museum widmet sich nicht nur der Unternehmensgeschichte von Leitz und Leica und dessen zentralen Personen wie Oskar Barnack (Erfinder der Leica-Kamera), sondern vermittelt auch viel Wissen über Fotografie und Kameratechnik. Das menschliche Auge darf sich dabei zunächst mit einigen optischen Phänomenen vertraut machen, was die Bildwahrnehmung und Kreativität fördern soll. Nachdem man anschließend in die Unternehmensgeschichte abtaucht und zahlreiche Exponate aus dem Leica-Universum begutachten darf, wird es besonders interaktiv. Man kann an unterschiedlichen Stationen selbst als Fotograf, Fotomodell oder Fotoentwickler fungieren. Die mit den installierten Leicas geknipsten Bilder können nebenbei per Begleit-App des Leitz-Parks auf das eigene Smartphone übertragen werden.

Spiegelkabinett im Ernst Leitz Museum

Als bisher ziemlich talentfreier Hobbyfotograf, tobte ich mich natürlich ausgiebig an den Stationen aus und spielte mit Licht, Schatten, Wind, Bewegung und Perspektiven. Anschließend ging es noch in den Museumsbereich mit den ständig wechselnden Sonderausstellungen. Zur Zeit werden dort ausgewählte Werke des schottischen Mode- und Porträtfotografen John Rankin Wadell ausgestellt.

Der Wetzlarer Säuturm

Gegen 12 Uhr war ich mit dem Museum durch und orientierte mich bei strahlender Sonne zu Fuß ins Stadtzentrum. Ich wollte die malerische Altstadt nochmal bei besserem Wetter als gestern erkunden und möglicherweise auch schönere Fotos als am Vortag knipsen. Erste Landmarke aus meiner Richtung war dabei der Säuturm (Wetzlars letzter erhaltener Turm der mittelalterlichen Stadtbefestigung). Als dieser passiert war, befand ich mich wieder im pittoresken Meer von Fachwerkhäusern. Bald öffnete sich mir die Platzanlage des Kornmarkts, wo Johann Wolfgang Goethe 1772 einer der Anwohner war. Auch wenn der Dichterfürst seinerzeit nur vier Monate in Wetzlar weilte, ist sein Name doch besonders mit dieser Stadt verbunden.

Fachwerk am Kornmarkt

Der damals 22jährige Goethe machte auf Wunsch seines Vaters am seit 1689 in Wetzlar beheimateten Reichskammergericht ein Rechtspraktikum. Anstatt mit der Juristerei, beschäftigte Goethe sich jedoch lieber mit seinen literarischen Neigungen und obendrein verliebte er sich in Charlotte Buff. Um die hatte jedoch bereits der ebenfalls in Wetzlar weilende hannoversche Jurist Johann Christian Kestner erfolgreich geworben. Die anmutige Lotte vermochte dem jungen Dichter daher nicht mehr als ihre Freundschaft anbieten und der nun von Liebeskummer anheimgefallene Goethe verließ Wetzlar regelrecht fluchtartig.

Hier lebte Charlotte Buff mit ihrer Familie

Seine unglückliche Liebe zu Lotte und zugleich den am 31.Oktober 1772 in Wetzlar begangenen Suizid seines ebenfalls von Liebeskummer geplagten Weggefährten Karl Wilhelm Jerusalem, sollte Goethe wenig später im 1774 veröffentlichten Briefroman Die Leiden des jungen Werthers verarbeiten. Mit diesem Werk gelang Goethe der internationale Durchbruch und Wetzlar kann bis heute den Kurzaufenthalt des Literaten touristisch vermarkten.

Das Jerusalemhaus am Schillerplatz

Mein Rundgang führte mich daher nicht nur zu Goethes temporärer Unterkunft, sondern auch zu den ehemaligen Wohnhäusern von Charlotte Buff und Karl Wilhelm Jerusalem. Auch am ehemaligen Reichskammergericht führte im Prinzip kein Weg vorbei. Dieses hatte allerdings auch ganz ohne Goethes Zutun eine große Bedeutung für Wetzlar. Denn nachdem die im Mittelalter noch ziemlich bedeutende und wohlhabende Reichsstadt in der Frühen Neuzeit verarmt war, sorgte dessen Ansiedlung für neuen Aufschwung. Hunderte Juristen und Gerichtsdiener kamen ab 1689 mitsamt ihren Familien nach Wetzlar, was wiederum das lokale Gewerbe ankurbelte.

Das Alte Rathaus wurde zur Kanzlei des Reichskammergerichts umgewidmet

Zusammen mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (HRR) wurde 1806 allerdings auch das Reichskammergericht aufgelöst und gleichsam war Wetzlar ohne das entsprechende Reich auch keine Reichsstadt mehr. Nach dem Wiener Kongress fiel Wetzlar schließlich 1815 an das Königreich Preußen. Ohne das Reichskammergericht sanken Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts rapide und erst die ab 1850 in Wetzlar einsetzende Industrialisierung vermochte eine Trendwende einzuleiten. In jenem Jahr war die Lahn durch den Bau mehrerer Schleusen schiffbar gemacht worden und zwölf Jahre später bekam die Stadt außerdem den ersehnten Eisenbahnanschluss.

Am Wetzlarer Mühlgraben

Insbesondere Eisenverhüttung und -verarbeitung (u. a. Buderus) und die optische Industrie (u. a. Leitz / Leica, Hensoldt und Minox) sorgten für neues Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum. Doch weil ich mich mit der Industriegeschichte bereits partiell am Vormittag im Ernst Leitz Museum auseinander gesetzt hatte, warf ich beim finalen Streifzug durch Wetzlar lieber noch einen Blick auf das gegenwärtige Kleingewerbe. Ich gucke in fremden Städten schließlich immer gerne, was es so gibt und vor allem, wie kreativ die Kleingewerbetreibenden sich bei Namenswahl ausgetobt haben.

Von diesem Punkt wurde 1914 das erste Foto mit einer Leica geknipst

Normal ist das Friseurhandwerk diesbezüglich immer eine sichere Bank. In Wetzlar geben sich die Barbiere jedoch auffallend unauffällige Namen wie Friseur am Schillerplatz, Salon Doris oder Haarstudio Yildirim. Stattdessen wird es hier bei den Tattoostudios und den Augenoptikern mitunter wild. Bei Inklorious Bastards ist der Name jedenfalls schmerzhafter als jeder Nadelstich und beim Optiker Neusehland kann man mit der neuen Brille sogleich einen Blick in den Schlund der Wortspielhölle werfen.

  • 16.07.2023
  • FC Gießen – SV Darmstadt 98 2:0
  • Friendly (V / I)
  • Waldstadion Gießen (Att: 2.346)

In der gegen 14 Uhr von mir aufgesuchten Nachbarstadt Gießen (ca. 94.000 Einwohner) knüpften der Friseur Hauptsache und der Burgergrill Gutburgerlich in Sachen Kreativität nahtlos an. Was ich in Gießen allerdings weitgehend vermisste, war historische Bausubtanz. Hier hatten die alliierten Bomberverbände offenbar keine halben Sachen wie in Wetzlar gemacht. 1945 waren im Stadtzentrum 90 % der historischen Bausubstanz zerstört und ca. 30.000 Gießener obdachlos geworden. Der Wiederaufbau musste schnell und zweckmäßig erfolgen, so dass Gießen leider in die Kategorie Hässliches Hessen einsortiert werden muss.

Der Gießener Kirchenplatz mit dem Turm der früheren Stadtkirche

Beinahe hätte man sich 1977 durch die Hintertür aus der Gesellschaft von Hanau, Offenbach und Kassel verabschieden können. Denn man fusionierte am ersten Jänner jenes Jahres mit Wetzlar (zweifellos Kategorie Hübsches Hessen) zur Stadt Lahn. Der aus Gießen stammende damalige hessische Ministerpräsident Albert Osswald (SPD) hatte sich diesen Coup ersonnen und seine jeweils in Wetzlar und Gießen kommunal regierenden Parteigenossen trugen das Projekt mit. Allerdings hatte er nicht mit dem Widerstand der Bürger in sowohl Wetzlar, als auch Gießen gerechnet. Unter dem Motto „Wenn ich Lahn seh‘, krieg‘ ich Zahnweh“ wurde mobilisiert und bei der nächsten Kommunalwahl im Herbst 1977 feierte die CDU – die natürlich ihren Wahlkampf auf dieses Thema zugeschnitten hatte – einen Erdrutschsieg. Wenig später setzte man den klaren Wählerauftrag um und bereits 31 Monate nach ihrer Gründung war die Stadt Lahn wieder Geschichte.

Der Heidenturm des im 14.Jahrhundert erbauten Alten Schlosses

Aus historischer Sicht muss man vielleicht dazu erwähnen, dass Gießen und Wetzlar trotz der Nachbarschaft keine großartige gemeinsame Geschichte hatten. Wetzlar war wie erwähnt jahrhundertelang eine eigenständige Reichsstadt und dann von 1815 bis 1945 preußisch. Das 1197 erstmals urkundlich erwähnte Gießen war dagegen seit dem Mittelalter hessisch. Zunächst gehörte es bis 1567 zur Landgrafschaft Hessen, dann bis 1604 zu Hessen-Marburg und schließlich bis 1945 zu Hessen-Darmstadt bzw. zu dessen Nachfolgestaaten Großherzogtum Hessen (1806 – 1918) und Volksstaat Hessen (1918 – 1945). So gab es also jahrhundertelang eine Grenze und Zölle zwischen Gießen und Wetzlar. Man hatte unterschiedliche Herren, Münzen und Gesetze und entwickelte sich nur nebeneinander, aber nicht miteinander.

Das von den Weltkriegsbomben verschont gebliebene Neue Schloss (16.Jahrhundert)

Den Darmstädtern, respektive dem Landgrafen Ludwig V. von Hessen-Darmstadt, verdankt Gießen nebenbei die Gründung seiner Universität im Jahre 1607. Diese firmierte zunächst zu Ehren ihres Stifters als Ludoviciana, heute trägt sie jedoch den Namen eines ihrer großen Wissenschaftler. Justus Liebig ist sein Name und man kommt in Gießen einfach nicht an ihm vorbei. Liebig wurde 1803 in Darmstadt geboren und promovierte bereits 1822 in Chemie. Zwei Jahre später wurde er auf Empfehlung von Alexander von Humboldt zum außerordentlichen Professor an der Ludoviciana berufen. Dort avanciert er zum wohl bedeutendsten deutschen Chemiker des 19.Jahrhunderts. Liebig war ein experimenteller Chemiker und gilt als Begründer der organischen Chemie. Wir verdanken ihm u. a. den Mineraldünger, das Fleischextrakt und die Säuglingsnahrung.

Ein krosser Rindswurstgriller

In Gießen huldigt nicht nur die Justus-Liebig-Universität dem 1845 in den Adelsstand erhobenen Chemiker. Es gibt auch eine Liebigstraße, ein Geschäftsgebäude namens Liebig-Center, eine Liebigschule, das Liebig-Museum und ein Justus-Liebig-Denkmal. Das gestern von mir besuchte Restaurant Justus würdigt den Chemiker ebenfalls (nicht nur namentlich, sondern auch in Sachen Gestaltung des Gastraums). Ein weiterer Besuch war heute allerdings zeitlich nicht drin und so musste die zweite Nahrungsaufnahme des Tages beim heutigen Fußballspiel erfolgen.

Die Mannschaften laufen auf

Gegen 15:45 Uhr – und somit eine Viertelstunde vor Anpfiff – erreichte ich das Gießener Waldstadion (ca. 5.000 Plätze) und prüfte ich gleich mal das hiesige Angebot an Speisen und Getränken. Gab eine gute Auswahl zu angemessenen Preisen. Während man gestern in Wetzlar für eine Bratwurst im Brötchen und einen halben Liter Bier je 5 € verlangte (und mich damit nicht als Kunden gewinnen konnte), wurden in Gießen für selbiges jeweils 3,50 € aufgerufen. Ferner wurden Schnitzel im Brötchen (4,50 €), Bratcurry (4 €) und Rindswurst in Brötchen (3,50 €) angeboten. Ich nahm letztere Grillspezialität mit auf die Haupttribüne und hatte den krossen Kalorienlieferanten just verzehrt, als Hessens ehemaliger Landesvater Volker Bouffier sich mühte ehrenhalber die Partie in seiner Heimatstadt anzustoßen.

Volker Bouffier wünschte beiden Teams eine erfolgreiche Saison

Insgesamt 2.346 Besuchen waren gekommen, um das Gastspiel des Bundesligaaufsteigers Darmstadt 98 beim Fünftligisten FC Gießen zu schauen. Darunter einige hundert erkennbare Anhänger der Lilien. In Gießen hat zwar die Fanszene von Eintracht Frankfurt den Hut auf, aber weit entfernt ist Darmstadt ja nicht (ca. 96 km). Auf der Tribüne wurde vor Anpfiff noch gefrotzelt („Eure Eintracht hat gestern 15:1 gewonnen, also gewinnen wir heute 16:1“), aber anschließend gab es nichts zu lachen für die Lilien. Der Oberligist bot dem Bundesligisten gut Paroli, ließ kaum Abschlüsse zu und hatte sich so verdient einen Pausenstand von 0:0 erarbeitet.

Der SVD sorgte immerhin für halb gefüllte Ränge beim FCG

Ich gönnte mir nun wie die Personenschützer von Volker Bouffier ein leckeres, aber leicht überteuertes Lilieneis mit Heidelbeergeschmack (125 ml für 3,50 €) und verfolgte wie hauptsächlich Minderjährige beim Halbzeitspiel einer Brauerei um 120 Liter Freibier wetteiferten. Man hatte drei Versuche, um einen Ball in einen stilisierten übergroßen Bierkasten zu lupfen. Am Ende gewann aber doch der einzige volljährige Teilnehmer, so dass es zu keinen ernsthaften Konflikten mit dem Jugendschutzgesetz kam.

Eiszeit zur Halbzeit

Auch dem nach dem Seitenwechsel fehlte es den Darmstädter an Ideen und Spielfreude. So witterte der 2018 aus dem FC Teutonia Watzenborn-Steinberg und der Fußballabteilung des VfB Gießen hervorgegangene FC Gießen langsam die Chance auf eine kleine Sensation. Sie kamen in der 55.Minute zur ersten guten Torgelegenheit nach Wiederanpfiff und fünf Minuten später zappelte das Leder tatsächlich im Gehäuse des Gastes. Jorden Aigboje traf aus kurzer Distanz zum 1:0. Spätestens jetzt war auch das Gießener Publikum euphorisiert und peitsche die Schützlinge von Ex-Eintracht-Profi Daniyel Cimen zu einer Höchstleistung an.

Das Waldstadion wurde 1925 eröffnet und fasste dereinst bis zu 15.000 Besucher

In der 70.Minute erhöhte Leonid Akulinin auf 2:0 und der unsympathische Übungsleiter von Darmstadt 98 mutierte mal wieder zum Rumpelstilzchen. Zwar stemmte sich der Bundesligist in der Schlussphase nochmal gegen die Niederlage, aber die von Ex-Profi Michael Fink organisierte FCG-Abwehr hielt sich weiterhin schadlos. So wurde es ein großer Feiertag für den noch jungen Fusionsverein FC Gießen, der beste Werbung für die kommenden Pflichtspiele im Waldstadion betrieben hatte. Die heute auf ganzer Linie enttäuschenden Lilien waren dagegen wahrscheinlich schon alle mit dem Kopf auf der Insel. Keine Ahnung, ob Kloppo irgendwem in Darmstadt noch was schuldet, aber auf jeden Fall tritt der SV Darmstadt 98 am 7.August in Prestons geschichtsträchtigem Deepdale gegen den Liverpool FC an. Neid!

Song of the Tour: Hessens heimliche Hymne