Sion (Sitten) 11/2021

  • 20.11.2021
  • FC Sion – FC Zürich 0:1
  • Super League (I)
  • Stade de Tourbillon (Att: 8.750)

Freunde von mir hatten Ende Oktober eine Europapokalwoche im Alpenraum geplant. Da auch YB gegen Villareal auf ihrer Agenda stand, wurde ich gefragt, ob ich wen in Bern kenne, der bei der Kartenbeschaffung für diese Partie der UEFA Champions League helfen könnte. Hm, da hatte ich in der Tat jemanden im Telefonbuch. Zwar zerschlug sich der Abstecher meiner Freunde nach Bern wieder, aber nun dachte ich höchstselbst über einen Besuch des Stadion Wankdorf nach. Das vielversprechende Ligaspiel Young Boys Bern vs. FC Basel am 20.November fiel mir ins Auge. Dafür, dass von meinem Wohnort in die Hauptstadt der Schweiz knapp 800 km überwunden werden müssen, ist die Zugverbindung gar nicht mal so schlecht. Dazu verlangte die DB fünf Wochen vor meiner Abreise gerade mal 20,35 € für die Hinfahrt und 24,65 € für die Rückfahrt. Supersparpreis Europa Spezial oder so.

Der BSC Young Boys hat zur Kenntnis genommen, dass das Polizeiinspektorat der Stadt Bern verfügt hat, die Bewilligung für die Durchführung des Credit-Suisse-Super-League-Spiels YB – Basel vom Samstag, 20. November (20:30 Uhr), zu entziehen. Weil an besagtem Wochenende wegen einer Grossbaustelle der SBB die Kapazitäten für die An- und Abreise der Zuschauerinnen und Zuschauer im S-Bahnhof Bern-Wankdorf stark eingeschränkt wären, kann die Sicherheit nicht gewährleistet werden.

bscyb.ch

Plötzlich wieder angefixt von der Schweiz als Destination, stellte ich meiner Bernreise sogar noch einen Trip nach Zug und Luzern Anfang November voran. Weniger schön als mein erster Schweizbesuch am 6.November war dagegen die fast zeitgleiche Meldung, dass YB gegen FCB aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht am 20.November stattfinden darf. Da mein gebuchtes Hotel, ebenso wie das Zugticket, nicht mehr stornierbar war, schlug mein Wahlberner Kompagnon Simon vor, dass wir gemeinsam zum anderen Match der Super League an diesem Tag fahren. Um 18 Uhr sollte der FC Sion den FC Zürich im Stade de Tourbillon empfangen. Das war zeitlich machbar und vielleicht besser, als auf irgend ein Amateurspiel im Großraum Bern auszuweichen. Wochenende gerettet!

Bahnhof Basel SBB

Wie schon 14 Tage zuvor, bestieg ich wieder um 7:41 Uhr den ICE 71 mit der Destination Chur am hannoverschen Hauptbahnhof. Ich saß abermals im Ruhebereich und diesmal benahmen sich tatsächlich alle Mitreisenden wie Kartäusermönche. Heute verließ ich den Zug bereits in Basel, um von dort nach einer guten halben Stunde Aufenthalt mit einem InterCity weiter nach Bern zu reisen. Die Kapitale der Schweiz erreichte ich schließlich um 14:26 Uhr und wurde vom aus Hannover stammenden Expat Simon am Bahnsteig in Empfang genommen. Da ich ein Hotel ohne 24h-Rezeption gebucht hatte, musste ich zunächst fix zu meiner Unterkunft zum Check-in. Das gebuchte Sorell Hotel Arabelle (***) war zum Glück nur 600 Meter vom Berner Hauptbahnhof entfernt, so dass dieses Unterfangen binnen weniger Minuten erledigt war. Das Einzelzimmer mit Frühstück kostete übrigens 85 €. Außerdem gab es, wie schon vor zwei Wochen in Luzern, ein Nahverkehrsticket für die Dauer des Aufenthalts im Hotel ausgehändigt. Das scheint gute Sitte in der Eidgenossenschaft zu sein.

Mein Hotelzimmer in Bern

15:07 Uhr ging es weiter nach Sion (Sitten), wofür Simon uns Tickets organisiert hatte. Ich stellte fest, dass Bahn fahren in der Schweiz nicht unbedingt preiswert ist. Die günstigste Option wäre eigentlich eine Sparpreis-Tageskarte der SBB zum Frühbucherpreis von 79 CHF gewesen (bei kurzfristigem Ticketkauf wären sogar über 100 CHF pro Person aufgerufen worden). Aber Simons Gemeinde macht immerhin Sinnvolles mit ihrem Budget und subventioniert den Einwohnern das SBB-Tagesticket, so dass am Gemeindeschalter nur 45 CHF zu entrichten sind. Ergo hatte er zwei dieser Tickets dabei und ich möchte an dieser Stelle der Gemeinde Huttwil und ihren Steuerzahlern meinen Dank aussprechen. Ferner nahmen die Tickets in Simons Tasche nicht viel Platz ein, so dass er auch ausreichend Bier für uns dabei hatte.

Bahn fahren und Bier, das lob ich mir

Bei ein paar leckeren Feldschlößchen aus dem schweizerischen Rheinfelden hatten wir uns viel zu erzählen (da Simon bereits seit 6,5 Jahren in der Schweiz lebt, lag die letzte Begegnung schon etwas zurück). Außerdem erreichte uns die Breaking News, dass sich ein Anfangsverdacht gegen Werder Bremens Trainer erhärtet hatte. Die Zusammenarbeit wurde am heutigen Morgen beendet, da der Bremer Chefcoach mit einem gefälschten Impfpass betrogen haben soll. Ansonsten genossen wir die reizvolle Aussicht auf der NEAT (Neue Eisenbahn-Alpentransversale) und für einen Nerd wie mich war mein erstmaliges Durchqueren des Lötschberg-Basistunnels fast noch besser als das Bergpanorama. Mit 34,6 km ist es der fünftlängste Eisenbahntunnel der Welt und in jenem Tunnel passierte unser Zug nebenbei auch den imaginären Röstigraben, der die deutschsprachige von der französischsprachigen Schweiz trennt. Am Tunnelende sahen wir also bereits den Himmel über dem Canton du Valais (Kanton Wallis). Allerdings ist das Wallis, anders als z. B. die Kantone Vaud (Waadt) oder Genève (Genf), zweisprachig. Während circa 63 % das Französische als Umgangssprache pflegen, sind rund 28 % der Bürger deutsche Muttersprachler. So ist auch Visp, wo wir den Zug für einen Umstieg verlassen mussten, mehrheitlich deutschsprachig.

Das „Grand Conseil“ des Kantons in Sions Altstadt

In Visp stand auf dem Nachbarperron schon unser Zug nach Sion bereit und ca. 20 Minuten später hatten wir unseren Zielort erreicht. Nun hatten wir noch 90 Minuten bis zum Anpfiff und nutzten dieses Zeitfenster für einen Stadtspaziergang. Sion mit seinen ca. 35.000 Einwohnern ist Hauptort des Kantons Wallis und liegt auf über 500 Metern ü. NN am Lauf der Rhône. Nördlich des Flusses haben in diesem Tal schon die Kelten (Stamm der Seduner) gesiedelt, ehe 15 v. Chr. die Römer die Region unterwarfen. Das Römische Reich wollte so die Kontrolle über die Alpenpässe wie den Grossen Sankt Bernhard erlangen. Nicht, dass nochmal irgendwelche antiken „Nafris“ ungestört mit Elefanten rüberkommen oder diese ungepflegten germanischen Zottel plötzlich den kürzesten Weg zur sonnigen Südseite der Alpen für sich entdecken…

Unterwegs in den Altstadtgassen von Sion

Stattdessen folgte nun eine Romanisierung des wilden Wallis. Mitte des 1.Jahrhunderts n. Chr. erhob Kaiser Claudius die Region zur eigenen Provinz Vallis Poenina und die Bewohner erhielten das römische Bürgerrecht. Im Jahre 377 bekannte sich der Provinzstatthalter Pontius Asclepiodotus offen zum Christentum und stiftete ein erstes Gotteshaus in Sedunum (heute Sion bzw. Sitten). In den folgenden zwei Jahrhunderten setzte sich der Jesuskult allmählich gegen die gallo-römischen Religionen durch und 580 n. Chr. wurde Sedunum Bischofssitz der Dioecesis Sedunensis (Bistum Sitten). Es stieg damit zum wichtigsten Ort des Wallis auf. Von hier wurden im 7.Jahrhundert nun auch die entlegenen Hochtäler im Oberwallis christianisiert und zugleich kam die Region nach dem Untergang des Römischen Reichs unter fränkischen Einfluss.

Hinauf zu den Burghügeln Sions

Im 9. und 10. Jahrhundert wanderten dann allmählich die Alemannen aus dem Berner Oberland ins Oberwallis ein, wodurch die bereits erwähnte Zweisprachigkeit des Kantons entstanden ist. Die Sprachgrenze zwischen dem französischsprachigen Unterwallis und dem deutschsprachigen Oberwallis verläuft nur wenige Kilometer östlich von Sion. Die höchstalemannischen Dialekte des Deutschen, die im Oberwallis gesprochen werden, sind übrigens ein Fest für Linguisten. Da sie über Jahrhunderte sehr isoliert blieben, haben sie sich größtenteils die Grammatik des Althochdeutschen erhalten und sind auch in Sachen Vokabular sehr speziell. Für jemanden, der nur reinstes Hochdeutsch gewohnt ist, dürfte das wie eine Fremdsprache klingen.

Ausblick in Richtung Oberwallis

Als das antike Römische Reich und die Zeit der Völkerwanderungen überwunden waren, wurde im Jahr 999 das so genannte Fürstbistum Sitten geschaffen. Dieses wurde 1032 Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (HRR) und der Bischof war fortan zugleich ein weltlicher Reichsfürst. 1049 wurden erstmals die Burg und die Basilika von Valeria (Basilique de Valère) urkundlich erwähnt, die bis heute als Wahrzeichen über der Altstadt von Sion thronen. Klar, dass Simon und ich den Valeriahügel erklommen, um uns die hochromanische Basilika und ihre Befestigungsmauern mal aus der Nähe anzuschauen. Zugleich gab es oben eine tolle Panoramasicht mit Gipfeln wie dem 2.969 Meter hohen Haut de Cry.

Château de Tourbillon

Residieren tat der Fürstbischof allerdings ab 1373 (und bis 1798) im Château de Tourbillon, welches im 13.Jahrhundert auf dem Nachbarhügel errichtet wurde und zugleich der Namenspatron des hiesigen Fußballstadions ist. Jenes Stade de Tourbillon lag nun hell erleuchtet zu unseren Füßen und die ersten Zuschauer auf den Rängen erinnerten uns daran, dass bald Anstoß sein würde und die Zeit leider nicht mehr für den Besuch der Burgruine Tourbillon reicht. Aber weil es auch für die sozio-politische Entwicklung der Schweiz von Relevanz ist, erwähne ich gerne noch, dass der Fürstbischof seine Residenz 1798 nicht freiwillig aufgab, sondern die Französische Revolution seinerzeit auf das Territorium der heutigen Schweiz übergriff und im Wallis ein weltliches Regime errichtet wurde. Zunächst wurde aus dem Fürstbistum die unabhängige Republik Wallis, welche Napoleon Bonaparte jedoch schon 1810 als Département du Simplon in sein Franzosenreich eingliederte.

Basilique de Valère

Nach dem Zusammenbruch des kurzlebigen napoleonischen Imperiums wurde auf dem die Nachkriegsordnung prägenden Wiener Kongress (1814/15) beschlossen, dass das Wallis der Schweizer Eidgenossenschaft als 22.Kanton beitreten soll. Die Zugehörigkeit zur Schweiz ist bekanntlich bis heute der Status Quo, allerdings gab es 1847 tatsächlich nochmal einen Bürgerkrieg (Sonderbundskrieg) mit Walliser Beteiligung, der drohte die Eidgenossenschaft zu spalten. Im Sonderbund hatten sich 1845 die konservativen und katholisch gebliebenen Kantone Luzern, Schwyz, Uri, Zug, Ob- und Nidwalden, Fribourg und Wallis zusammengeschlossen. Sie wollten die von den mehrheitlich liberalen und reformierten Kantonen (u. a. Bern und Zürich) angestrebte Verfassungsänderung verhindern, die den bisherigen Staatenbund (alle Kantone waren immer noch vollsouveräne Staatssubjekte) in einen Bundesstaat mit nur noch teilsouveränen Gliedstaaten umwandeln sollte.

Panorama mit dem Haut de Cry im Hintergrund

Zürich forderte auf der Tagsatzung der Eidgenossenschaft – so hieß die parlamentarische Versammlung der Abgesandten der Kantone – die Auflösung des Sonderbunds und gewann für den Antrag im Laufe des Jahres 1847 eine Mehrheit der Kantone. Doch der Sonderbund lenkte nicht ein und war bereit die Souveränität seiner Kantone notfalls mit Waffengewalt gegen die liberale Mehrheit zu verteidigen. Am 30.Oktober 1847 beschloss die Tagsatzung zu Bern die Mobilisierung der Truppen der Kantone, um den Sonderbund gewaltsam aufzulösen. Am 3.November begannen die Kampfhandlungen, in denen auf beiden Seiten insgesamt ca. 150 Soldaten ihr Leben ließen. Als am 29.November 1847 mit dem Wallis auch der letzte Kanton des Sonderbunds zur Kapitulation bewegt werden konnte, endeten die bis dato letzten kriegerischen Handlungen auf Schweizer Boden.

Das Sioner „Château de la Majorie“ in der Blauen Stunde

Als Kriegsfolge bekamen auch die besiegten Kantone liberale Regierungen und Verfassungen, womit der Weg für die Schweizer Bundesverfassung im Jahre 1848 geebnet war. Allerdings wurde 1848 nur eine moderate Zentralisierung vorgenommen und die Befugnisse des Bundesstaats blieben auch mit dieser Verfassung in engen Grenzen. Sie beschränkten sich weitgehend auf außenpolitische Fragen und umfassten ansonsten erstmal nur das Zoll-, Münz- und Postwesen und die Festlegung von Maßen und Gewichten. Die Kantone behielten ihre Hoheit über das Zivilrecht, das Strafrecht, das Prozessrecht und die Polizeigewalt. Ebenso blieben sie u. a. verantwortlich für das Schulwesen, den Verkehr und die Wirtschaftspolitik. Im Laufe der letzten knapp 175 Jahre wurde die föderale Schweiz durch Verfassungsreformen natürlich noch etwas zentralistischer, aber damit beschäftigen wir uns mal wann anders. Denn wie bereits erwähnt, das Stadion zu unseren Füßen füllte sich so langsam…

Das Stadion ruft

15 Minuten vor Anpfiff erreichten wir schließlich das Stade de Tourbillon und hatten erstmal einiges zu meckern. Der Einlass ging zwar trotz zusätzlicher Zertifikats- und Ausweiskontrolle flott, doch beim Catering wurden wir enttäuscht. Ich meinte irgendwann mal gelesen zu haben, dass es in Sion Raclette im Stadion gibt und war voller Vorfreude auf dieses käsige Vergnügen. Aber ich irrte. Stattdessen wurden nur Hot Dogs und Süßkram offeriert, was weder Simon, noch mich kulinarisch abholen konnte. Auch mit dem Bier haderten wir zunächst. Es gab nur Heineken (33 cl für 4 CHF), doch trocken bleiben war natürlich auch keine Option. Deshalb ging es mit der ersten von insgesamt vier Runden Bier auf die Tribüne.

Willkommen und viel Spaß… Danke, hab ich!

Im Block wurden wir dann vom zahlreichen Publikum überrascht. War die Gegengerade bei meinem Ticketkauf vor zehn Tagen noch nahezu komplett frei, saßen heute hunderte, wenn nicht gar tausende kleine Kinder in den dortigen Blöcken. Wahrscheinlich gab es Sonderangebote oder Freikarten für die kleinen Bälger. Ich hatte dagegen je Ticket 45 CHF an den FC Sion transferiert. Selbst für Schweizer Verhältnisse ein ambitionierter Preis. Aber immerhin ließ er sich exakt mit dem SBB-Tagesticket verrechnen, so dass Simon und ich diesbezüglich quitt waren. Als wir irgendwann gute freie Plätze mit ca. 1,5 Metern Abstand zu den umliegenden Grundschülern ausgemacht hatten, wurde der Fußballabend außerdem richtig gut.

Andere Länder, andere Sitten

Kaum am Platz, musste ich sofort das Bier abstellen und mein Smartphone zücken. Denn der Heimfanblock zündete bereits fünf Minuten vor Spielbeginn etliche Bengalische Fackeln, die alsbald von Rauchtöpfen in den Vereinsfarben abgelöst wurden. Zum Anpfiff wurde der sehr gut gefüllte Gästeblock ebenfalls optisch aktiv. Sie hatten ein großes Banner mit “FC Zürich”-Schriftzug am Zaun befestigt und im Block waren etliche Fahnen, Doppelhalter und Luftballons im Einsatz. Dazu wurden auf Kommando noch Kassenrollen in blau, weiß und gelb geworfen. Anschließend gingen auch hier zahlreiche Leuchtfeuer an. Ein sehr gelungenes Gesamtkunstwerk!

“Einmal alles bitte” beim FCZ

Stundelangi Fahrt

Nume zum oi spille gseeh

Es isch soo wunderbaar

Drum singemer Züri allez,

Züri allez, allez,

Züri allez, allez, allez,

Züri allez, allez,

Züri allez, allez, allez…

Die Fans des FC Zürich
Auch hier galt „Feuer frei“

Allerdings sind es wohl auch die pyrotechnischen Untermalungen solcher Kunstwerke, welche die Regierungskonferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektionen (KKJPD) just einen Tag zuvor dazu bewegt hatte, dass ab der Saison 2022/23 nur noch personalisierte Tickets für die Begegnungen der Schweizer Super League ausgegeben werden dürfen. Das hatte sich leider bereits abgezeichnet. Mit „KKJPD-Präsident Fässler will härter gegen Fussball-Chaoten vorgehen“ waren einige der Meldungen in den vergangenen Wochen überschrieben. Jüngst gab es besonders beim Zürcher Derby und beim Duell Luzern gegen St. Gallen schlagzeilenträchtige Scharmützel und die Hardliner forderten sogar ein sofortiges Gästefanverbot im Schweizer Profifußball, welches jedoch vorerst vom Tisch ist.

Bilder wie diese, will die Exekutive nicht mehr sehen

Möglich macht derlei Eingriffe das so genannte Hooligan-Konkordat von 2007, welches der Polizei kantonsübergreifende Befugnisse im Rahmen von Sportveranstaltungen einräumt. Mit dem Konkordat wurde außerdem eine zentrale Hooligandatei namens HOOGAN ins Leben gerufen, die vom Berner Bundesamt für Polizei (fedpol) geführt wird. Wie beim deutschen Pendant wird bei der Datensammlung anscheinend hauptsächlich auf Quantität anstatt Qualität gesetzt. Im Juni 2021 waren 1.343 Personen in der Datei als Gewalttäter Sport registriert und gegen 431 davon waren seinerzeit aktive Maßnahmen wie Stadion- oder Bereichsbetretungsverbote (Rayonverbote) oder Meldeauflagen verhängt. Die Aufnahme in die Datei erfolgt wie in Deutschland niedrigschwellig und trotz allem hat die Zahl der Delikte bei Sportveranstaltungen in der Schweiz weiter zugenommen. Also zumindest präventiv scheinen das Konkordat und HOOGAN keine Erfolgsgeschichte zu sein.

Viele Fackeln und eine Protestbanderolle

Fraglich ob personalisierte Tickets jetzt die Lösung sind. Die Fanszenen der Schweiz stehen dem KKJPD-Beschluss selbstredend ablehnend gegenüber und am heutigen Abend hatten die Fans aus Zürich und Sion sogleich Protesttapeten gepinselt. Von fast schon philosophisch („Eure Lösung schafft nur neue Probleme“) bis hin zu vulgär („FUCK KKJPD“). Aber auch die Vereine dürften nicht begeistert sein. Die Fankurven werden die Maßnahme nicht mittragen und wohl relativ leer bleiben. Ohne Atmosphäre bleiben aber auch Teile des Haupttribünenpublikums fern und den Clubs entgehen insgesamt erhebliche Zuschauereinnahmen. Die sind in der Schweiz noch wesentlich wichtiger für den Etat, als beispielsweise im deutschen Profifußball. Der heute gastgebende FC Sion hat es in dieser Saison bereits auf eigene Faust mit personalisierten Tickets versucht und obendrein den Gästeblock gesperrt. Der Zuschauerzuspruch halbierte sich und vor wenigen Wochen lenkte FCS-Präsident Christian Constantin ein. Ohne diese Auflagen strömen nun wieder über 8.000 Fans zu den Spielen, anstatt 4.000 oder weniger, wie zu Saisonbeginn.

Das Stade de Torubillon wurde 1968 eröffnet und bietet ca. 14.000 Zuschauern Platz

Christian Constantin, den alle nur CC nennen, ist sowieso ein ganz spezieller Charakter im Schweizer Fußball. Er bestimmt seit 2003 ununterbrochen als exzentrischer Alleinentscheider die Geschicke des Clubs (zuvor war bereits von 1992 bis 1997 Präsident des FC Sion). Mittlerweile hat CC bereits über 50 Trainer verschlissen. Zuletzt den Schweizer Ex-Nationalspieler und Ex-Bundesligaprofi Marco Walker, der am 14.10.2021 von Christian Tramezzani ersetzt wurde. Es ist derweil Tramezzanis drittes Engagement unter CC beim FC Sion. Bei seiner Premiere (2017) blieb er vier Monate als Cheftrainer in Amt und Würden, beim zweiten Mal (2020) lediglich drei Monate. Immerhin wird Tramezzani aus Erfahrung wissen, dass er es sich nicht allzu zu häuslich im Wallis einrichten braucht.

Hinter der Heimkurve erheben sich die Burghügel von Sion

Übrigens ist Christian Constantin schon dreimal höchstselbst nach einer Trainerentlassung als Interimscoach eingesprungen. Allerdings fehlt ihm die nötige Lizenz, um diese Aufgabe dauerhaft zu übernehmen. Auf der Position des Managers / Sportdirektors war die Fluktuation ebenfalls viele Jahre hoch. Das endete aber, als CC im Dezember 2014 seinen damals 20jährigen Sohn Barthélémy Constantin auf diesen Stuhl setzte. Da die letzten Jahre allerdings nicht unbedingt eine sportliche Erfolgsgeschichte waren, hat CC diesen Sommer den beim FC Sion groß gewordenen Ex-Nationalspieler Gelson Fernandes zum Vizepräsidenten ernannt und außerdem Massimo Cosentini (vormals Generalsekretär bei Inter) als Geschäftsführer installiert. Soll hier etwa langsam Verantwortung abgegeben werden? Oder wird sich das neue Duo im Kompetenzgerangel mit den Constantins schnell aufreiben?

Der 1909 gegründete FC Sion wurde zweimal Meister (zuletzt 1997) und ist dreizehnfacher Pokalsieger (zuletzt 2015)

Als in der Fanszene von Hannover 96 sozialisierter Fußballfan, denkt man bei Alleinherrschern mit dynastischem Anspruch natürlich sofort an Martin Kind (der übrigens ebenfalls die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzt und damit sozusagen Landsmann von Christian Constantin ist). Aber wir wollen CC nicht Unrecht tun. CC, der früher selbst Fußballprofi gewesen ist, hat a) einen gewissen Fußballsachverstand, b) liegt ihm der FC Sion wahrscheinlich wirklich am Herzen und c) hat er tatsächlich etliche Millionen in seinen Fußballclub gesteckt. Man munkelt, dass insgesamt rund 100 Mio CHF aus dem Privat- und Geschäftsvermögen des Immobilienunternehmers in den Club geflossen sind. In Hannover wurde dagegen immer nur der Schein erweckt, als würde Kind dort Millionen investieren. Aber das ist ein anderes Thema…

Freude schöner Fackelfunken, Ultras des FC Sion, wir betreten feuertrunken, das Sionsche Heiligtum…

Juillet Mille neuf cent neuf

Notre club mythique naissait

Cent années sont passées

Mais on ne t’a pas lâché

De Kazan à Braga

On a chanté pour toi

Oh magique FC Sion

Notre coeur bat rouge et blanc

Allez, allez, allez…

Les Supporters du FC Sion
Freudenfeuer im Gästeblock nach der Führung

Schreiben wir lieber noch zwei, drei Sätze zum heutigen Kick. Es herrschte wirklich eine mitreißende Atmosphäre und insbesondere der Gästeblock tat sich mit pyrotechnischen Einlagen in kurzen Intervallen hervor. Die mitgereisten Zürcher durften dann auch als einzige Stadionbesucher am heutigen Abend jubeln. Ihr FCZ dominierte die 1.Halbzeit und ging durch ein Traumtor von Adrian Guerrero in der 32.Minute in Führung. Die zweite Hälfte gehörte zwar den Wallisern, erst recht nachdem die Gäste sich in der 73.Minute durch einen Platzverweis dezimiert hatten, aber irgendwie zitterten sich die Blau-Weißen zum knappen Auswärtssieg. Ex-96-Trainer André Breitenreiter übernimmt nun mit dem FCZ vorläufig die Tabellenführung (die Konkurrenz aus Basel und Bern war, wie eingangs erörtert, zum Zuschauen verdammt). Der FC Sion muss dagegen weiter nach unten schauen. Man steht vier Punkte vor Lausanne (Relegationsplatz) und fünf Punkte vor Luzern (direkter Abstiegsplatz). Sollte es nun eng für Tramezzani auf der Trainerbank werden; ich wüsste da jemanden aus zuletzt Bremen, der möglichst weit weg einen Neuanfang wagen muss…

Ein letzter Blick auf das Stade de Tourbillon

Nach dem Spiel hatten wir die circa 2,2 km zum Bahnhof per pedes zu überwinden und mussten außerdem noch neue Biere besorgen, um uns auf der Rückfahrt weiter das Welldach verbiegen zu können. Den angepeilten Zug um 20:27 Uhr verpassten wir nun knapp. Aber gut, die Le Cyriano Bar bot uns für 45 Minuten Obdach. Nachdem ich mein Schulfranzösisch reaktiviert hatte, stellten wir fest, dass wir Brauerzeugnisse aus dem Hause Ittinger in der zweiten Runde nicht mehr berücksichtigen brauchen. Aber vielleicht kam uns das Bier auch nur wegen der ganzen Heineken zuvor so extrem überhopft vor? Als zweite Rutsche gab es jedenfalls mildes Moretti (alle Biere je 4,50 CHF) und dann war auch schon wieder Aufbruch. Der Sonderzug nach Zürich muss wohl gerade abgefahren sein, da begonnen wurde die Absperrungen am Bahnhof abzubauen und die Robocops vom Bahnsteig abzogen. Jetzt lümmelten nur noch junge Walliser mit Ausrüstervertrag bei The North Face am Bahnhof rum, interessierten sich aber nicht für zwei Mittdreißiger mit Plastiktüten voller Dosenbier.

Je voudrais deux Ittinger, s’il vous plaît

Es ging wieder via Visp zurück nach Bern und diesmal hatten wir dort, anders als auf der Hinfahrt, eine Bierlänge Aufenthalt. Im proppevollen Lokal P2 ließen wir uns den entsprechenden Gerstensaft servieren, ehe 22:27 Uhr Abfahrt in die Bundesstadt war. In jenem Zug saßen wir nun eine gute Stunde mit rotzevollen älteren Fans des FC Sion im Abteil. Die tranken Sekt aus Flaschen und lallten ihre frankophonen Lieder, wenn sie nicht gerade in Mitreisende stolperten. Für Kurzweil war also gesorgt, bis sich in Bern die Wege von Simon und mir wieder trennten. Wir holten uns noch Mitternachtssnacks beim Brezelkönig und dann verabschiedete sich Simon nach Huttwil, während ich mir am Nachmittag zum Glück den Fußweg zum Hotel gut eingeprägt hatte.

Noch was Magenfüllendes auf die Faust

Am Sonntagmorgen waren sowohl mein Kopf, als auch der Berner Himmel etwas diesig. Na gut, waren am Ende auch ziemlich exakt fünf Liter Bier gewesen, die ich dem Körper am Vorabend zugeführt hatte. Also hab ich lieber nochmal die Äuglein ruhen lassen und bin etwas länger liegen geblieben. Danach ging es duschen und auf der Suche nach einem Badetuch fand ich im Schrank u. a. eine Yogamatte, eine Bibel und einen Regenschirm. Hm, mache ich jetzt Dhanurasanas auf der Matte und lese dabei in den Korintherbriefen oder gehe ich lieber frühstücken? Schwierige Entscheidung…

Das Ergebnis von einem meiner drei Buffetbesuche

Wenige Sekunden später saß ich im Frühstückssaal und schlemmte mich einmal quer durch’s Programm. Beim Speiseangebot setzt die Hotelgruppe Sorell auf Qualität und Regionalität. Es gab u. a. Emmentaler, Gruyère, Bündnerfleisch, Vallemaggia-Brot, Müsli, Eier und Konfitüren aus Schweizer Produktion. Die meisten Lieferanten waren aufgelistet und es schmeckte alles vorzüglich. Dazu noch Kaffeespezialitäten und frisch gepresste Säfte. Welch formidabler Start in den Tag!

Die Heiliggeistkirche am Berner Hauptbahnhof

Da um 11:04 Uhr bereits Abfahrt nach Deutschland war, wusste ich nach dem Frühstück nicht so recht, was ich mit meiner letzten Stunde in Bern noch Sinnvolles anfangen könnte. Für Sightseeing und Stadtgeschichte muss natürlich demnächst mal ein größeres Zeitfenster eingeräumt werden, aber ich machte wenigstens noch ein Tourifoto an der Zytglogge (war ja nur 10 Minuten vom Bahnhof entfernt). Anschließend erreichte ich 15 Minuten vor Abfahrt meinen gebuchten ICE und konnte mir in Ruhe eine unreservierte Zweierreihe rauspicken. Die DB App hatte wieder mit außergewöhnlich hoher Auslastung gedroht, aber wenn man an einem der ersten Bahnhöfe der Reiseroute zusteigt, findet man natürlich noch problemlos was. Ich konnte mich also gebührend ausbreiten und entsprechend entspannt die lange Rückfahrt antreten.

Die Zytglogge im Herzen der Berner Altstadt

Auf den baden-württembergischen Unterwegsbahnhöfen füllte sich der ICE dann erwartungsgemäß mit „Süddeutschen Dullies“, die kommende Woche wieder die armen autochthonen Berliner mit ihrer Spießigkeit terrorisieren wollen, aber natürlich zu geizig für eine Sitzplatzreservierung sind. Die „Tschuldigung, ist hier noch frei?“-Rufe kamen immer näher und ich entwickelte schnell eine Notfallstrategie. Der freie Sitz neben wir wurde mit typischen Schneppe-Items wie Balkantasche und Schiebermütze “zugemüllt” und ich stellte mich an jedem Bahnhof so lange schlafend, bis die Karawane der Zugestiegenen vorbeigezogen war. Die Dreistigkeit einen dösenden Mitreisenden anzutippen, hatte zum Glück keiner der Kehrwochenfreaks und ich blieb bis Göttingen ungestört, obwohl der Zug extrem voll geworden war.

Chicken Jalfrezi in Göttingen

In der alten Studentenstadt hatte ich dann 65 Minuten Aufenthalt, ehe es weiter nach Hildesheim ging. Die nutzte ich natürlich für ein Abendessen und suchte dazu die indische Gastwirtschaft Rani Dhaba in Bahnhofsnähe auf (bereits bekannt vom Trip nach Sondershausen 2019). Ein salziger Lassi, frisch mit Gewürzen abgeschmeckt, und schön scharfes Chicken Jalfrezi wurden dem hungrigen Gast für faire 10 € gereicht. Gut gesättigt ging es 18:08 Uhr weiter nach Hildesheim und bereits 45 Minuten später schloss ich meine Haustür auf. War erneut ein gelungener Trip in die Eidgenossenschaft und aufgrund der erwähnten Personalisierung der Eintrittskarten in der kommenden Spielzeit, muss ich diese Saison wohl ein paar weitere Mal in die Schweiz, um die Fanszenen nochmal in gewohnter Manier zu erleben.

Song of the Tour: Rap aus dem Wallis