Tangermünde 06/2022

  • 12.06.2022
  • FSV Saxonia Tangermünde – SV Union Heyrothsberge 3:0
  • Landesliga Nord (VII)
  • Stadion am Wäldchen (Att: 254)

Mit den Wanderkilometern des Vortages in den Knochen quälte ich mich am Sonntag um 9 Uhr aus dem Bett. Das heutige Tagesziel Tangermünde erforderte zum Glück nur moderaten Reiseaufwand. Um 9:52 Uhr ging es via Wolfsburg und Stendal mit dem 9-€-Ticket in die altehrwürdige Kaiser- und Hansestadt am Zufluss der Tanger in die Elbe. 12:28 Uhr erreichte ich den Zielbahnhof und hatte dadurch noch ein Zeitfenster von 90 Minuten bis zum Anpfiff der ins Auge gefassten Fußballbegegnung. Insgesamt hatte ich einen Aufenthalt von fünf Stunden, wovon drei für Tourikram und zwei für den obligatorischen Stadionbesuch genutzt wurden.

Das Elbtor

Zunächst spazierte ich ein wenig durch die Auenlandschaft zwischen Tanger und Elbe, um die Altstadtsilhouette Tangermündes in voller Pracht zu erfassen (siehe Titelbild). Anschließend wechselte ich natürlich die Uferseite und passierte eines der historischen Stadttore. In meinem Fall war es das imposante Elbtor aus dem 15.Jahrhundert, hinter jenem ein von hohen Futtermauern eingefasster Hohlweg (die Rossfurth) hinauf zum historischen Stadtkern führt.

Die Rossfurth

Denn Keimzelle der Stadt ist die im 10.Jahrhundert errichtete Burg Tangermünde, die dereinst an der Elbe die Ostgrenze des Reiches gegen die slawischen Stämme absichern sollte. Als die ostelbischen Slawengebiete 1150 an den askanischen Markgrafen Albrecht I. (Albrecht der Bär) fielen und dieser die Mark Brandenburg zwischen Elbe und Oder schuf (Vgl. Brandenburg an der Havel 06/2018), verlor die Burg Tangermünde ihre Grenzsicherungsfunktion. Stattdessen diente sie fortan als Zollstelle am Zufluss der Tanger in die Elbe und im Schutze der Burg entstand eine zivile Siedlung. Zunächst noch ein kleiner Marktflecken, entwickelte sich daraus im 13.Jahrhundert eine befestigte Stadt.

Die im Stile der Backsteingotik errichtete Marktkirche St. Stephan

Im wahrsten Sinne herausragend aus dieser Epoche ist natürlich die Marktkirche St. Stephan. Der 87 Meter Nordturm dieser gotischen Hallenkirche ist in der vorwiegend flachen Altmark weithin sichtbar und überragt alle elf Türme der Burg und der Stadtbefestigung. Auch im Inneren ist die Kirche sehr imposant und mir gefiel besonders das reich verzierte Chorgestühl. Außerdem kam ich um 13 Uhr pünktlich zu einem kleinen Konzert eines Organisten hereinspaziert. Bespielt wurde dabei die berühmte Scherer-Orgel aus dem Jahre 1624, die laut ausliegender Broschüre zu den zehn wertvollsten historischen Orgeln Europas gezählt wird.

Der Chor im Innenraum von St. Stephan

Stadtgeschichtlich ist jedoch zunächst das Jahr 1373 interessant. Denn in jenem Jahr fiel die Mark Brandenburg an den böhmischen König Karl IV. (seit 1355 auch römisch-deutscher Kaiser) und dieser machte die Burg Tangermünde – neben der Prager Burg – zu seiner Residenz. Entsprechend kam es zu einem umfangreichen Ausbau. Dabei erkennt man bis heute zumindest beim Kapitelturm (der einstige Bergfried) eine architektonische Nähe zu Karls berühmten Bauwerken in Prag (Vgl. Praha 08/2019). Doch als Karl fünf Jahre später verstarb, endete die kurze Episode als königliche und kaiserliche Nebenresidenz schon wieder. Karls Sohn Sigismund hatte kein Interesse die böhmische Herrschaft im märkischen Sand zu verankern und im entstandenen Machtvakuum sorgten Fehden des hiesigen Adels für unruhige Zeiten.

Haupttor der Burganlage

1411 setzte Sigismund schließlich den Nürnberger Burggrafen Friedrich VI. aus dem süddeutschen Adelsgeschlecht der Hohenzollern als Landesherrn der Mark Brandenburg ein und trug ihm auf das Land wieder zu befrieden. Friedrich führte einen erfolgreichen Feldzug gegen raubritternde märkische Adlige und erhielt 1415 die erbliche brandenburgische Kurfürstenwürde von Sigismund verliehen. Fortan residierte der Hohenzollernfürst als Friedrich I. von Brandenburg in Tangermünde. Der Ausgangspunkt für den späteren Aufstieg in den europäischen Hochadel und die weltgeschichtlich bedeutende Rolle der Hohenzollern in den kommenden Jahrhunderten. Stellten doch Friedrichs Nachfahren, die auffallend oft ebenfalls Friedrich hießen, ab 1701 die preußischen Könige und ab 1871 die deutschen Kaiser.

Der Bergfried der Burg (Kapitelturm) entstand beim kaiserlichen Ausbau der Anlage im 14.Jahrhundert

Da in Tangermünde kein Regierungsviertel zu finden ist, John F. Kennedy niemals „Ich bin ein Tangermünder“ gesagt hat und Lars Windhorst nicht bei einem Big City Club namens Hertha TSC sein Unwesen treibt, ahnt man es jedoch schnell; die Hohenzollern wurden an diesem Ort nicht sesshaft. Friedrich II. von Brandenburg wurde zwar in Tangermünde geboren, doch nachdem er 1440 die Kurfürstenwürde von seinem Vater Friedrich I. geerbt hatte, beschloss er seine Residenz in die aufstrebende Doppelstadt Berlin-Cölln zu verlegen. Am 31.Juli 1443 legte Friedrich II. am Spreeufer den Grundstein für den ersten Berliner Schlossbau, der im Jahre 1451 fertiggestellt wurde.

Das Neustädter Tor

Nichtsdestotrotz blieb Tangermünde im Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit eine wohlhabende Hansestadt. Die imposanten Stadttore und -türme wie das bereits erwähnte Elbtor, der Eulenturm oder das Neustädter Tor wurden im 15.Jahrhundert erbaut oder erweitert. Ebenso errichtete man das spätgotische Rathaus, dessen Pracht den Tangermünder Reichtum und Bürgerstolz des 15. Jahrhunderts eindrucksvoll widerspiegelt.

Das Tangermünder Rathaus aus dem 15.Jahrhundert

Doch die Blütezeit Tangermündes endete vorläufig im 17.Jahrhundert. Da war zunächst im Jahre 1617 ein verheerender Stadtbrand, der zwei Drittel aller Gebäude der Stadt zerstörte. Für den Brand machte man die verarmte Patriziertochter Margarete von Minden verantwortlich. Unter Folter wurde ein Geständnis von ihr erzwungen und anschließend verbrannte man sie auf dem Scheiterhaufen. Ihr Schicksal wurde mehrfach künstlerisch aufgegriffen. Am bekanntesten sicherlich in Theodor Fontanes 1880 erschienener Novelle Grete Minde.

Grete-Minde-Skulptur am Rathaus Tangermünde

Auf den Stadtbrand folgte der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648), der ebenfalls für Verheerungen in Stadt und Umland sorgte. Von diesen Ereignissen erholte sich Tangermünde vorerst nicht und stieg zu einer verarmten Landstadt ab. Erst während der Gründerzeit im 19.Jahrhundert ging es wirtschaftlich langsam wieder aufwärts. Bedeutendster hiesiger Entrepreneur war wahrscheinlich Friedrich Theodor Meyer. Dessen 1826 gegründete Zuckersiederei entwickelte sich in den kommenden Jahrzehnten zur größten Zuckerfabrik Europas und außerdem nahmen seine Erben 1910 die Produktion von Schokoladen und Pralinés unter dem Markennamen Feodora auf.

Der Buhnenkopf ist eines der Fachwerkhäuser aus der Zeit des Wiederaufbaus der Stadt im 17.Jahrhundert

Nördlich der Stadtmauer entstanden neue Industrie- und Wohnquartiere und 1886 wurde Tangermünde an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Dass die Industrialisierung hier insgesamt etwas später und gemächlicher einsetzte, gereicht der Stadt heute zum Vorteil. Denn in Tangermünde mussten weder Teile der historischen Altstadt, noch ihre Befestigung für das städtebauliche Wachstum weichen. Auch der Zweite Weltkrieg (1939 – 1945) machte weitgehend einen Bogen um Tangermünde und in den realsozialistischen Dekaden zwischen 1949 und 1989 kam erfreulicherweise niemand auf die Idee hier irgendwas abzureißen, um eine sozialistische Musterstadt zu errichten. Stattdessen wurde Vieles dem Verfall preisgegeben, aber nach der Deutschen Wiedervereinigung in den letzten zwei Jahrzehnten wieder aufwändig saniert.

Die Elbe bei Tangermünde

Heute erwartet den Besucher also ein richtiges Kleinod zwischen Berlin und Hannover, welches via Stendal aus beiden genannten Ballungsräumen überraschend schnell auf der Schiene zu erreichen ist. Aus Hannover benötigt man rund zwei Stunden und aus Berlin knapp 1,5 Stunden (jeweils mit IC oder ICE bis Stendal und dann RB nach Tangermünde). Aber der Clou in diesem Sommer ist, dass sich die Fahrzeit mit Nahverkehrszügen nur marginal verlängert und Tangermünde somit ein gutes Tagesziel mit dem 9-€-Ticket aus Richtung Hannover oder Berlin ist. Ich habe meinen Ausflug jedenfalls keine Sekunde bereut.

Die Haupttribüne des Stadions am Wäldchen

Gut, die 90 Minuten Fußball zwischendrin waren kein Muss, aber meinen subjektiven Interessenschwerpunkten geschuldet. Leider war mir weder ein spannendes, noch stimmungsvolles Fußballspiel vergönnt. Die Kulisse von über 250 Zuschauern veranlasste den Stadionsprecher dennoch zu einem stolzen Unterton bei deren Verkündung und das Stadion am Wäldchen (insgesamt 4.000 Zuschauerplätze) kann man als notorischer Sportstättensammler durchaus guten Gewissens abhaken. Blickfang ist dabei die Haupttribüne, die wie eine Bushaltestelle aus der Feder eines unter Gigantomanie leidenden Architekten wirkt.

Ehrungen und Verabschiedungen

Der Gigantomanie unverdächtig waren dagegen die Eintrittspreise von lediglich 4,50 € (Vollzahler) und 3 € (ermäßigt) und beim Catering blieb es ebenfalls moderat. Bratwurst oder Frikadelle je 2,50 €, Softdrinks 1,50 € (0,3 l) und Bier 2 € (ebenfalls 0,3 l). Nach Spielende wurden sogar noch 150 Liter Freibier ausgeschenkt. Schließlich stand die Staffelmeisterschaft der Saxonia bereits vor Anpfiff rechnerisch fest und als ich just um 14 Uhr das Stadiontor passiert hatte, liefen noch die Ehrungen und Verabschiedungen. Der Ball rollte letztlich erst um 14:05 Uhr und der designierte Aufsteiger hatte wiederum nichts zu verschenken. Dreimal musste ein gewisser Pascal Lemke als Torschütze in den Spielberichtsbogen eingetragen werden (32., 41. und 60.Minute) und mit diesem Sieg zum Abschluss kommt der FSV Saxonia auf eine Ausbeute von 54 Punkte in 22 Ligaspielen (neun Punkte mehr als der ärgste Verfolger Union 1861 Schönebeck). Zumindest in diesem Jahrhundert die beste Saison der Vereinsgeschichte.

In der Halbzeitpause gönnte ich mir ’ne kleine Jause

Gegründet wurde Saxonia Tangermünde allerdings schon 1907 und spielte in den 1920er Jahren eine gute Rolle in der Gauliga Altmark, deren Meisterschaft man sogar 1928 feiern durfte. 1945 wurden bekanntlich alle deutschen Vereine im Rahmen der Entnazifierung aufgelöst und in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) entstanden noch im selben Jahr allerorten Sportgemeinschaften als Nachfolger der bürgerlichen Vereine. Saxonias Erbe war die SG Tangermünde, die 1951 zur BSG Empor Tangermünde wurde. 1983 feierte Empor die Meisterschaft der Bezirksliga Magdeburg und stieg somit in zweitklassige DDR-Liga auf. Es blieb jedoch bei einem einjährigen Gastspiel und im wiedervereinigten Deutschland wurde man 1991 in die damals viertklassige Verbandsliga Sachsen-Anhalt eingruppiert. Zeitgleich kehrte man zum Traditionsnamen Saxonia zurück und verpasste 1995 als Vizemeister nur knapp den Sprung in die seinerzeit drittklassige Oberliga Nordost.

Die Aufstiegsmannschaft feiert ihren Triumph

Doch 1999 stiegen die Altmärker leider aus der Verbandsliga ab und pendelten seitdem zwischen Landesliga und Landesklasse. Nach 23 Jahren kehrt man also zurück in die höchste Spielklasse Sachsen-Anhalts. Ich ließ die Saxonisten allerdings zügig beim Feiern dieses historischen Momentes allein, da ich mehr Bock auf Kaffee und Kuchen, als auf Freibier hatte. In Rosi Heizmanns Kaffeestübchen nahe des Bahnhofs wurde meine Begierde preiswert und schmackhaft gestillt. Für einen Pott Kaffee und ein Stück Pfirsich-Maracuja-Torte rief die gute Rosi faire 5,50 € auf (Tipp für meine Leser: Bei Rosi gibt es täglich preiswerten Mittagstisch, heute stand Cordon Bleu mit Beilagen für 5 € auf dem Plan).

Pfirsich-Maracuja-Torte bei Rosi

Anschließend hatte ich nochmal 45 Minuten für einen zweiten Stadtspaziergang. Vor dem Spiel konnte ich binnen 90 Minuten schließlich noch nicht alle Sehenswürdigkeiten abhaken. Das Tangermünder Rathaus, das Neustädter Tor und die Lange Fischerstraße mit ihren zahlreichen Fachwerkwerkhäusern aus dem 17. und 18.Jahrhundert mussten sich bis zum späten Nachmittag gedulden. Am Ende meines Rundgangs nahm ich mir noch ein halbes Kilogramm frisch geerntete Erdbeeren aus der Altmark mit und um 17:25 Uhr verließ ich Tangermünde wieder. Wie schon auf der Hinfahrt habe ich die Fahrzeit zum Schreiben des Berichts der Wernigerode-Tour genutzt und um 20:02 Uhr war ich zurück in Hildesheim.

Früchte auf die Faust

Auch das zweite Wochenende der großen 9-€-Ticket-Sommerfrische hat mir viel Vergnügen bereitet. Zum Glück ist die Liste der potentiellen Ziele für einen Tagesausflug weiterhin sehr lang und der Ball rollt ebenfalls mancherorts noch bis Ende Juni, während im Juli sicher ein Blick in die Testspielkalender der Vereine geworfen wird.

Song of the Tour: Die Kaiserstadt bekommt jetzt einfach die Kaiser Chiefs