Warszawa (Warschau) 05/2022 (II)

  • 21.05.2022
  • KS Polonia Warszawa – Broń Radom 3:0
  • III Liga, grupa 1 (IV)
  • Stadion Polonii im. generała Kazimierza Sosnkowskiego (Att: 789)

Ich hatte es ja schon im Derbybericht aus Łódź angedeutet; das Reiseziel Polen war ein heißer Kandidat für meine Urlaubswoche Ende Mai und setzte sich letztlich gegen den Balkan und Skandinavien durch. Letzter Spieltag in den professionellen Ligen und anschließende Relegationsrunde klangen einfach zu verlockend. Ich hätte die Entscheidungsfindung allerdings nicht so lange herauszögern dürfen. Zwar kam ich wieder für knapp über 100 € mit der Bahn (1.Klasse) nach Polen und zurück, aber mein Wunschspiel Lech Poznań vs. Zagłębie Lubin war bereits ausverkauft. Statt zur Meisterfeier in Poznań (Posen), sollte es nun als Auftakt zu Legia vs. Cracovia nach Warszawa (Warschau) gehen. Zwar würde da niemand etwas zu feiern haben, aber Legia geht eigentlich immer und das Zugticket hatte ich prophylaktisch eh bis Warszawa gebucht.

Gut, dass ich nicht erst 7:22 Uhr zu fahren gedachte

Ab Samstagmorgen klopfte ich mir außerdem auf die Schulter schon einen früheren Zug nach Berlin gebucht zu haben. Der von der App der Deutschen Bahn vorgeschlagene direkte InterCity zum Bahnhof Berlin-Gesundbrunnen hätte sich für meinen Anschluss höchstens 15 Minuten Verspätung erlauben dürfen. Dann lieber eine Stunde früher aus dem Bett quälen und in Berlin im Optimalfall den Puffer für ein Frühstück nutzen. Tja, der InterCity fiel am Ende sogar ganz aus, während ich gegen 8:45 Uhr zufrieden bei Yöre Gözleme ve Mantı Evi in Berlin frühstückte. Ich gönnte mir dort Menemen mit Sucuk, Gözleme mit Hackfleisch und einen großen Tee. War äußerst delikat und kostete alles zusammen 13 €. War mal günstiger, aber die Inflation macht eben auch vor dem Gözlemegewerbe nicht halt und natürlich muss es sich für die anatolischen Omis weiterhin lohnen täglich Yufka auf dem Sac zu backen.

Lecker Frühstück im Wedding

Dann war der schöne Teil des Tages vorerst vorüber. In Frankfurt / Oder blieb EC 45 leider auf unbestimmte Zeit stehen. Laut Zugbegleiterin gab es einen Unfall auf der Eisenbahnbrücke über die Oder. Okay, da ist es überhaupt fraglich, dass diese kurzfristig wieder passierbar wird. Aber nach zwei Stunden ging es weiter und gegen 13 Uhr wurde der Grenzfluss von West nach Ost überquert. Tja, Legia war durch die zwei Stunden Verzug gestorben, für Lech hätte es dagegen noch locker gereicht (Kurwa!). Letztlich rollte ich mit fast genau 2,5 Stunden Verspätung um 18:17 Uhr im Bahnhof Warszawa Zachodnia ein. Gut, dass ich mich auf der aktuellen Großbaustelle bereits auskenne und somit ohne Umwege zum Ausgang gelangte. Dort fielen mir im Gegensatz zum Besuch vor drei Wochen allerdings die vielen Kleinbusse mit in kyrillischen Buchstaben gepinselten Destinationen wie Kyiv oder Schytomyr auf. Ob da wohl eine erste Rückkehrwelle beginnt?

Oh kurwa…

Aber mich interessierte nun natürlich weniger der schnellste Weg in die Ukraine, sondern meine Abendgestaltung. Bei Legia brauchte ich leider nicht mal mehr mit der 2.Halbzeit liebäugeln und checkte deshalb erstmal im Ibis Warszawa Reduta (***) ein. Dank zuvor erarbeiteter Bonuspunkte kosteten mich zwei Nächte mit Frühstück in der altbekannten Unterkunft nur 15,18 € Restsumme. Dann hieß mein Trostpreis Polonia Warszawa vs. Broń Radom. Polonia? Da war der Don doch gerade erst vor exakt 21 Tagen? Ja, aber… Was soll ich bitte sonst mit dem Abend anfangen? Bei Legia nach Spielende weggeworfene Eintrittskarten aufsammeln (Markus L. aus P. gefällt das) oder im Hotelzimmer mit Chips und Cola das DFB-Pokalfinale gucken? Dann lieber viel früher als gedacht der Revisit bei Polonia. Zumal mit Broń Radom heute ein Gegner mit aktiver Fanszene gastierte und ich es noch pünktlich zum Anpfiff (19:30 Uhr) ins 6.500 Meter vom Hotel entfernte Stadion Polonii schaffen konnte.

Mein Zimmer für die ersten zwei Nächte des Trips

Schnell das Busticket für 4,40 Złoty (ca. 0,90 €) mobil gekauft, per QR-Code beim Einstieg entwertet und auf der Busfahrt ebenfalls ein mobiles Ticket für das Viertligaspiel (!) von Polonia für 20 Złoty (ca. 4 €) erworben. Man staunt immer Bauklötze, wenn man aus Deutschland in ein hochentwickeltes Land wie Polen kommt. Und während die bräsige Bundesrepublik dank der lethargischen letzten drei Jahrzehnte in Sachen Digitalisierung extrem spät dran ist, war ich überpünktlich (19:22 Uhr) und ohne nennenswerte Wartezeiten im Stadion. Als polnischer Fußballreisender, der unter Zeitdruck zu VfV Hildesheim versus VfB Lübeck möchte, hätte ich am Zielort erstmal einen Geldautomat suchen müssen, um mir Fremdwährung zu ziehen. Dann hätte der Busfahrer mich gefragt, ob ich noch alle Latten am Zaun habe, weil ich mit einem Fünfziger mein Busticket zum Stadion kaufen möchte. Ich verstehe halbwegs was der unfreundliche Typ von mir will, aber Kartenzahlung ist auch nicht, als ich meine Visa zücke. “Mit Karte? Wir sind hier doch nicht bei Raumschiff Enterprise!” Dann will ich mein Transportproblem mit einem Uber lösen, aber so etwas ist noch nichts für den deutschen Markt. Also wird es am Ende ein überteuertes Taxi und anschließend muss ich noch 10 Minuten an der Stadionkasse und 5 Minuten an der Einlasskontrolle anstehen. Aber wenigstens habe ich dank des Taxlers mittlerweile kleine Scheine für das Kassenhäuschen und die Würstchenbude (denn natürlich ist da überall nur Barzahlung möglich).

Die Fans von Polonia

Doch weg aus der Fiktion und zurück in die Zukunft; ich erlebte sogleich eine gut aufgelegte Heimszene, die weiterhin an den Aufstieg glaubt und fleißig ihr Liedgut trällerte. Nähren tut diese Hoffnungen besonders ein Stürmer namens Szymon Lewicki. Wie auch schon vor drei Wochen gegen Znicz Biała Piska, wurde ich Zeuge eines Doppelpacks von Lewicki. Heute traf der Torjäger in der 35. und 75.Minute und außerdem hatte Marcin Kluska in der 45.Minute das zwischenzeitliche 2:0 besorgt. Ich möchte mich jetzt ungern über die reiche Vereinshistorie und die Fanszene von Polonia wiederholen, aber halte wenigstens gerne nochmals fest, dass ich dem Club und seinen Anhängern den Aufstieg in die 3.Liga sehr gönnen würde.

Der Gästeblock formiert sich so langsam

Nachdem ich in der Halbzeitpause wieder die hervorragende Kiełbasa verzehren durfte (selbstverständlich kontaktlos per Kreditkarte zahlbar), sah ich zu Beginn des zweiten Durchgangs, wie im Gästeblock das Tifomaterial verteilt wurde. “Ah, pirotechnika!” frohlockte mein Sitznachbar bereits und sollte natürlich nicht enttäuscht werden. Allerdings dauerte alles ein bisschen. Die Zaunfahnen mussten alle umgehangen werden, die Schwenkfahnen verteilt werden und die Sturmhauben natürlich richtig sitzen. Erst in der 70.Minute hieß es Feuer frei, aber dann auch so richtig.

Mein Halbzeitsnack

Stolze 10 Minuten am Stück wurde unter dem Motto “25 lat Broń & Powiślanka” gefackelt, um damit 25 Jahre Freundschaft der Szenen von Broń Radom und Powiślanka Lipsko zu feiern. Erstmal wurden die Schwenkfahnen in den Vereinsfarben von Broń und Powiślanka mit Rauchtöpfen gleicher Farbenlehre ergänzt. Dann wurde hinter dem mit transparenten Buchstaben versehenen Freundschaftsbanner ordentlich gezündet. Als die Nummer durch war, stiegen die Fans mit Bengalischen Feuern auf den Zaun (siehe Titelbild) und letztlich schossen sie noch ein paar Feuerwerksbatterien in den Nachthimmel von Warszawa. Am Ende applaudierte auch der Anhang von Polonia für diese großartige Darbietung. Dann mal auf die nächsten 25 Jahre Broń & Powiślanka.

Ab der 70.Spielminute wurde es bunt im Gästesektor

Da haben vor einem Vierteljahrhundert auch echt zwei interessante Szenen zueinander gefunden. Broń hat es in 210.000-Einwohner-Stadt Radom ähnlich schwer wie Polonia in Warszawa. Fast ganz Radom wird von Brońs Lokalrivalen Radomiak kontrolliert und weil Radomiak sportlich gerade im 7.Himmel ist (letztes Jahr in die Ekstraklasa aufgestiegen und dieses Jahr souverän die Klasse gehalten), sind die Machtverhältnisse in Radom wohl auf lange Sicht zementiert. Obendrein hat Radomiak ein Bündnis mit der übermächtigen Szene von Legia geschlossen und da Brońs Auswärtsspiele oft ins Legia-Land führen, müssen die Fans in der Ferne immer mit Angriffen rechnen.

Die ersten Rauchwolken

Wer es im Radomer Alltag und auswärts gleichermaßen schwer hat, kann natürlich jeden Waffenbruder gebrauchen. Mit der Szene von Powiślanka hat man vor zweieinhalb Dekaden ein interessantes Kaliber für sich gewinnen können. Lipsko ist zwar nur eine kleine Landgemeinde mit ca. 5.000 Einwohnern im Kernort, konnte aber zwischenzeitlich einen Block mit bis 300 Fanatikern mobilisieren. Das brachte dem kleinen Nest in Polens Fußballszene den Beinamen Hooligandorf ein. Aktuell kann Powiślanka wohl noch einen Mob von bis zu 150 Mann stellen, wenn es hart auf hart kommt. Aber auch das ist irre. Schließlich verfügt das kleine Lipsko auch nur über ein dörfliches Einzugsgebiet und im Umland stößt man bereits auf die Einflussgebiete von Legia, Radomiak oder auch Motor Lublin, Korona Kielce und KSZO Ostrowiec Świętokrzyski. Wobei Powiślankas Kibice wenigstens mit KSZO ganz gut können und dadurch nicht nur von Feinden umzingelt sind. Trotzdem würde ich die Metapher Gallisches Dorf halbwegs durchgehen lassen und besonders Radomiak macht ihnen das Leben schwer.

Ein Vierteljahrhundert Fanfreundschaft

Die Herausforderung von Feinden umzingelt zu sein, teilt bekanntlich auch Polonia. Aber im Gegensatz zu Broń und Powiślanka kennt man wenigstens noch andere Zeiten, wo man sportlich wer war und auch szenetechnisch einen entsprechend höheren Mobilisierungsgrad hatte. Die Broniarze haben dagegen nur ein paar Jahre 2.Liga in den 1980er Jahren vorzuweisen und Powiślanka weiß gar nicht, wie sich überregionaler Fußball anfühlt (gegenwärtig übrigens in der 6.Liga unterwegs). Ans Tor zu jenem überregionalen Fußball klopft Polonia durch den heutigen Heimsieg weiterhin an. Allerdings gibt sich der Tabellenführer Legionovia Legionowo gegenwärtig ebenfalls keine Blöße und möglicherweise kommt es am vorletzten Spieltag zum großen Showdown im Aufstiegsrennen. Denn am 11.Juni empfangen die Czarne koszule (Schwarzhemden) besagtes Legionovia vor heimischer Kulisse und sollte bis dahin keiner der Kontrahenten etwas liegen lassen, trennt beide nur ein Punkt bei Anpfiff. Da könnte man fast überlegen schon wieder nach Warszawa zu fahren. Schade, dass das 9 € Ticket nur bis Frankfurt / Oder gilt…

Das Stadion Polonii bei Nacht

Aber ich glaube diesmal verabschiedete ich mich doch für mehr als drei Wochen vom Stadion Polonii, als ich kurz nach Abpfiff am nahen Bahnhof Warszawa Gdańska in die nächstbeste Tram nach Ochota einstieg, Dort ging ich doch recht zufrieden zu Bette. Dafür, dass Polonia gegen Broń nur dritte Wahl bzw. mein Notnagel war, bekam ich einiges geboten. Morgen Widzew wird sicher eine ganz große Nummer und auch in den ausstehenden Aufstiegsspielen dürften einige vielversprechende Ansetzungen auf mich warten. Fest steht z. B. schon Korona Kielce gegen Odra Opole am Donnerstag und Ruch Chorzów gegen Motor Lublin könnte am Mittwoch oder Sonntag möglich sein. Zwischendurch geht es noch zwei Tage in die Berge wandern. Die kommenden acht Tage wecken also schon am Abend des ersten Reisetages große Vorfreude.

Song of the Tour: Sie sehen sich als das Herz von Warszawa an