Vilnius (Wilna) 07/2019

  • 18.07.2019
  • FK Žalgiris Vilnius – Budapest Honvéd FC 1:1
  • UEFA Europa League (Qualifying, 1st Round)
  • LFF Stadionas (Att: 3.725)

Teil 2 unserer Sommerreise führte Milano Pete, Ole und mich nach Litauen. Eigentlich wäre das Land für unsere Tour geographisch der perfekte erste Stopp gewesen, aber der litauische Meister FK Südova hatte sein Qualifikationsheimspiel (zur UEFA Champions League) gegen den FK Crvena zvezda schon in der Vorwoche absolviert. Ergo gab es diese Woche vor Donnerstag keinen internationalen Fußball in Litauen und stattdessen wurde die Reise mit Riga FC gegen Dundalk FC eröffnet. Deshalb führte die Baltikumroute nun von Lettland über Litauen nach Estland. Da wir die preiswerten Flugverbindungen zwischen den hiesigen Hauptstädten ignorierten (40 bis 50 €) und die Busse sogar noch weit weniger kosteten, wurde unser etwas kilometerlastigeres Routing zum Glück nicht zu einer maßlosen Umweltsünde.

Unterwegs mit Ecolines

So ging es am Donnerstagmorgen mit einem Reisebus der Gesellschaft Ecolines von Riga nach Vilnius (17 € p. P.). Vier Stunden dauerte der Spaß und auszusetzen gab es wirklich nichts. Topmoderne Busse mit Bildschirmen und aufgespielten Entertainmentprogrammen, sowie Wi-Fi, Steckdosen und Freigetränke, sorgten für maximalen Komfort. Pünktlich war der Hobel obendrein, so dass wir um 13 Uhr Vilniusser Boden betraten. Auf dem Pflaster der litauischen Hauptstadt mussten wir uns zunächst vier Minuten bewegen, um unser Apartment zu erreichen. Leider konnte Anbieter Dimitri die vereinbarte Check-In-Zeit nicht einhalten, so dass wir gegenüber des Altbaus in ein nettes kleines Café auf Kaffee und Kuchen einkehrten.

Süße Sünde

Nach ungefähr 20 Minuten kam Dimitris Meldung, er stünde nun eine Zigarette schmökend vor’m Café. Dimitri sah, vorsichtig gesagt, nicht wie ein litauischer Wendegewinner aus und seine Bude hatte auch ordentlich sowjetischen Retrochic. Heidewitzka war das eine Ranzbude! Es gab leider keine aussagekräftigen Fotos im Internet, so dass ich mich, neben dem Preis von 38 € für ein 4-Personen-Apartment, hauptsächlich von den fast ausschließlich positiven Bewertungen überzeugen ließ. Doch der 18,96 m² große Verschlag war der Tiefpunkt meines bisherigen Reiselebens. Bis zur Wohnungstür hatte ich immer noch geglaubt, dass sich, wie so oft in Osteuropa, eine nett renovierte Wohnung hinter einer abgerockten Fassade verbirgt. Aber Pustekuchen! Ich glaube, Bilder sagen mehr als 1.000 Worte…

Dimitri erklärte uns noch das ins Zimmer integrierte Soundsystem („If you want, you can make party tonight“), versorgte uns mit nikotingeschwängerter Bettwäsche und wünschte uns einen schönen Tag in Vilnius. Wir bauten nun die beiden abgerockten Sofas zu Betten um und somit konnte man sich in der Bude nicht mehr wirklich bewegen. Außerdem hatte ich bei der ersten Toilettenspülung die Kette des Spülkastens in der Hand. War halt einfach weggerostet. Zum Glück stand Dimitri noch rauchend vor’m Haus und hatte sich von den in bar entrichteten 38 € bereits Bier, Mettwurst und neue Kippen gekauft. „I will repair. No problem!“ Wir gaben ihm den Wohnungsschlüssel zurück und warten brauchten wir nicht. „After repair I will close the door but don’t lock. So you can go now.“ Auf fragende Blicke folgte: „It’s a safe place. Lot of police here. Don’t worry about your things in the Apartment.“

Postsowjetische Hinterhofromantik bei Dimitri

Auf den ungefähr 1.000 Metern von der Unterkunft zur Altstadt kamen wir natürlich nicht aus dem Lachen über das Gesehene und Erlebte heraus. Dimitri taugte definitiv zum Klischeerussen für das sehr gute Internetportal Slavorum und die Bude mit Kohleofen, Miniklo (ca. 30 cm hoch), provisorischer Dusche mit Gartenschlauch usw. ließ einen sowieso nicht mehr los. Das würde ’ne unvergessliche Nacht werden!

Tor der Morgenröte

Doch nun stand erst einmal Sightseeing an. In den nächsten fünf Stunden wollten wir in die Geschichte, wie auch das gegenwärtige Flair der litauischen Hauptstadt abtauchen und betraten durch das Tor der Morgenröte (von 1522) die Altstadt. In der Torkapelle befindet sich übrigens eine angeblich wundertätige Schwarze Madonna. Wieder einen Wallfahrtsground abgehakt. Das Himmelreich rückt näher und näher für mich!

Tor der Morgenröte altstadtseitig mit der Schwarzen Madonna oberhalb des Torbogens

An dieser Stelle möchte ich auch zu Vilnius einen kurzen historischen Abriß liefern. Dabei finde ich besonders interessant, dass in Vilnius ein noch krasserer Bevölkerungsaustausch als in Riga stattgefunden hat. Die erste (überlieferte) schriftliche Erwähnung von Vilnius datiert aus dem Jahr 1323. Der litauische Großfürst Gediminas warb damals um qualifizierte Neubürger für seine Hauptstadt, welche somit schon wesentlich älter sein dürfte. Das belegen auch archäologische Funde. Aber wer hier wann eine Siedlung städtischen Typs gegründet hat (mutmaßlich ein slawischer oder ein baltischer Stamm), ist nicht bekannt.

Gediminas-Turm aus dem frühen 14.Jahrhundert

Die Litauer führte die damalige Bedrohung durch den Deutschen Orden bereits wenige Jahrzehnte nach der ersten urkundlichen Erwähnung von Vilnius zu einer Allianz mit dem Nachbarn Polen. 1386 kam es zur Union von Knewo, die das litauische Großfürstentum und das polnische Königreich in Personalunion aneinander band. Die Zusammenführung mit Polen sorgte auch für die Christianisierung der Litauer, sowie für eine gewisse Polonisierung ihrer Hauptstadt Vilnius. Neben Litauern, lebten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit auch viele Polen und Juden in Vilnius. Die Juden stellten sogar lange die größte Bevölkerungsgruppe vor den Polen und Litauern, so dass die Stadt als eines der Zentren jüdischen Lebens in Europa galt (Beiname: Jerusalem des Nordens).

St. Anna (um 1500 fertiggestellt)

Wie das ganze Baltikum, kam Litauen in der Frühen Neuzeit ins Visier der schwedischen und russischen Expansionsbestrebungen im Ostseeraum. Sowohl die Russen, als auch die Schweden hatten die Stadt im 17. und 18.Jahrhundert mehrjährig besetzt. Das Russische Zarenreich sicherte sich Litauen und dessen Hauptstadt langfristig mit der Dritten Polnischen Teilung von 1795. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb die Stadt russisch und in den nächsten 100 Jahren siedelten sich auch viele Russen in Vilnius an. Bei der Volkszählung 1897 gab es 40 % Juden, 30 % Polen, 20 % Russen, aber nur 2 % Litauer zu verzeichnen.

Das barocke Vilnius

Im Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) eroberten deutsche Truppen die Stadt im Jahre 1915 und hielten sie bis 1918 besetzt. Mit deutscher Unterstützung wurde gegen Ende des Krieges ein unabhängiger Staat Litauen mit Vilnius als Hauptstadt ausgerufen. Doch wie in Lettland, kam es auch in Litauen zu sofortigen Verwicklungen in einen Krieg. Das frisch entstandene Litauen, das ebenfalls von Russland unabhängig gewordene Polen und das nun sowjetische Russland kämpften um litauische Gebiete. Dabei konnten sich die Polen letztlich den mehrheitlich polnischsprachigen litauischen Südosten um Vilnius sichern und annektierten das Gebiet 1922. Die Hauptstadt vom litauischen Reststaat wurde nun Kaunus.

Die orthodoxe Kathedrale der Himmelfahrt der Gottesmutter (von 1868)

Vilnius war dagegen fortan Hauptstadt einer polnischen Woiwodschaft und der Anteil der polnischen Bevölkerung stieg in den Zwischenkriegsjahren auf über 65 % (während der Anteil der Juden auf unter 30 % fiel, jener der Russen auf unter 4 % und jener der Litauer auf unter 1 %). Nach dem deutsch-sowjetischen Überfall auf Polen 1939 wurde der polnische Teil des alten Litauens gemäß Hitler-Stalin-Pakt der Sowjetunion zugeschlagen und 1940 fielen die Rote Armee auch im unabhängigen Teil Litauens ein. Vilnius wurde nun Hauptstadt der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Nach Hitlers Bruch mit Stalin marschierte jedoch schon im Sommer 1941 die deutsche Wehrmacht in Litauen ein und hielt den Staat bis 1944 besetzt. Das bedeutete de facto das Ende des jüdischen Lebens in Vilnius und in ganz Litauen. Allein aus der Hauptstadt wurden über 100.000 Menschen jüdischen Glaubens Opfer des Holocausts.

Die Tohorat Hakodesch Synagoge von 1903

Nachdem die Sowjetunion gegen Kriegsende wieder die Kontrolle über Litauen gewonnen hatte, begann die Vertreibung eines Großteils der Polen aus Vilnius und dem ganzen Land. Stattdessen siedelten sich Russen (1959 ca. 30 % der Stadtbevölkerung), Litauer (1959 ca. 35 %) und Bürger aus anderen Sowjetrepubliken an. Vilnius erlebte also binnen weniger Jahre einen regelrechten Bevölkerungsaustausch. Kaum ein heutiger Bürger der Stadt hat somit Vorkriegsvorfahren aus Vilnius. Gegenwärtig leben rund 550.000 Menschen in der litauischen Hauptstadt, wovon ca. 64 % Litauer, 16 % Polen und 12 % Russen sind.

Ehemalige KGB-Zentrale, heute Okkupationsmuseum

Nach Litauens erneuter Unabhängigkeit von 1990, ging also besonders der Anteil der Russen in Vilnius zurück (zum Glück ist Dimitri geblieben!) und der der Litauer stieg erheblich (die polnische Minderheit blieb im Vergleich zur Sowjetzeit relativ konstant). Damit ist Vilnius nicht so eine duo-etnische Stadt wie das lettische Riga, sondern mittlerweile deutlich litauisch geprägt. Außerdem investieren die Litauer seit Anfang der 1990er Jahre massiv in ihr historisches Erbe. Die zu Sowjetzeiten vernachlässigte barocke Altstadt wurde mit großen Aufwand wieder auf Vordermann gebracht und schon 1994 ins UNESCO Welterbe eingetragen.

Die Altstadt als Gesamtensemble ist heute Welterbe

Außerdem entwickelte sich das ebenfalls arg heruntergekommene Zentrumsviertel Užupis, welches von der Altstadt durch den Fluss Vilnia getrennt wird, zum Künstler- und Szeneviertel. Rund ein Siebtel der 7.000 gemeldeten Bewohner soll sich hauptberuflich als Künstler verdingen und die litauische Bohème machte das mittlerweile flächendeckend sanierte Užupis zu einer der teuersten Wohnlagen des Landes. 1997 wurde hier übrigens als Kunstaktion die unabhängige Republik Užupis ausgerufen. Mit Verfassung, Fahne, Präsidenten und Botschaftern in aller Welt. Sogar seinen Reisepass kann man sich hier stempeln lassen.

In Užupis gönnten wir uns nach dem ersten Altstadtbummel und einem Streifzug durch die Künstlerrepublik auch unser spätes Mittagessen. Das Restaurant Užupio kavinė lockte mit toller Terrasse am Ufer der Vilnia. Unisono wurde sich nach Appetit anregendem Knoblauchbrot (hier besonders lecker und mit Käsedip serviert) für einen Salat mit Hähnchenbrust, Bacon, und Avocado entschieden. Zusammen mit einem Getränk und Trinkgeld war jeder 10 € los.

Der Engel von Užupis

Nachdem die Vilnia abermals überquert wurde, begann der zweite Teil des Altstadtbummels. Einige der über 50 Altstadtkirchen verschiedener christlicher Glaubensrichtungen mussten noch genauer inspiziert werden. Ich konstatierte, dass ich wohl mindestens eine Woche brauchen würde, um jedes Sakralbauwerk ausreichend von innen und außen zu würdigen.

Die römisch-katholische Kathedrale von Vilnius

Schweren Herzens erwählte ich also eine Top 5 (bzw. 6) für heute. Das spätgotische Ensemble aus Annen- und Bernhadinerkirche (frühes 15.Jahrhundert), die barocke Jesuitenkirche St. Kasimir (von 1615), die spätbarocke Universitätskirche St. Johannes (von 1749), die ebenfalls spätbarocke russisch-orthodoxe Heilig-Geist-Kirche (von 1753) und die klassizistische römisch-katholische Kathedrale St. Stanislaus und St. Ladislaus (von 1801, siehe auch Titelbild) waren gesetzt.

St. Kasimir von 1615

In der Krypta der orthodoxen Heilig-Geist-Kirche befinden sich übrigens die Gebeine der orthodoxen Heiligen Jonas, Eustachius und Antanas (oder das, was man dafür hält). Die drei frommen moskowiter Bengel wollten die Litauer Mitte des 14.Jahrhunderts zum Christentum bekehren. Doch deren Großfürst Algirdas, Sohn des Gediminas, war ihren Argumenten für eine Konversion nicht besonders zugänglich. Zur Strafe für ihr öffentliches Predigen der Frohen Botschaft nahm er sie gefangen und wollte sie zwingen während der Fastenzeit Fleisch zu essen. Die drei Missionare verweigerten dies und wurden schließlich gefoltert und getötet. Wäre mir nicht passiert…

Ikonostase in der orthodoxen Heilig-Geist-Kirche

Nach dem spirituellen Part, ging es noch durch das ehemalige Vilniusser Juden-Ghetto, welches heute viele Restaurants in seinen engen Gassen beherbergt und an dessen Fassaden an mancher Stelle themenbezogene Streetart zu finden ist, wie auch Hinweistafeln bezüglich der jüdischen Geschichte der Stadt. Wie gesagt, geschätzt 100.000 Vilniusser Juden wurden Opfer des Holocausts. Immer wieder bedrückend, wie dereinst die Unmenschlichkeit ihren Bann brach und sich zu wenige gegen das Unrecht erhoben. Am Ende des Ghettos liefen wir dann ausgerechnet rund 100 Szenetypen von Kispest (Honvéd) in die Arme. Die Jungs sind bekanntlich nicht so die Kosmopoliten und in eine „Nie wieder Faschismus“-Menschenkette hätte sich die überwältigende Mehrheit wohl nicht eingereiht.

Ghetto-Streetart

Auf der Terrasse des magyarenfreien Pubs The Black Duck (neben St. Kasimir) schlürften wir in sicherer Distanz einen litauischen Cider und wenig später führte der Fanmarsch zum Stadion den Mob nochmal an uns vorbei. Das war für uns das Signal auch so langsam auszutrinken und gen Spielstätte aufzubrechen. Diesmal wollten wir lieber überpünktlich sein, als nochmal zu spät Einlass zu begehren.

Litauischer Cider

Letztlich waren wir eine Stunde vor Anpfiff am LFF Stadionas (Verbandseigentum der Litauischen Fußballföderation) und es war noch gar nichts los. Lediglich die Ungarn beflaggten gemütlich ihren Sektor. Allerdings sahen wir im Ticketsystem der Kassenhäuschen nur noch wenige freie Plätze auf der Gegengerade und entschieden uns für je 8 € auf die Haupttribüne zu setzen. Von dort hatte man später beide Fanlager im Blick.

Die Bewässerung sorgt für einen Regenbogen vor’m Spiel

Die Stadionbestuhlung war ein ähnlich buntes Mosaik wie am Vortag im Skonto Stadion zu Riga, jedoch hier ausschließlich in den drei Landesfarben gelb, grün und rot gehalten. Wir deckten uns zuvorderst mit Bier und Knoblauchbrot ein und nahmen erfreut zur Kenntnis, dass sich die Ränge in der Tat noch gut füllten. Am Ende sollen 3.725 der rund 5.100 Zuschauerplätze besetzt gewesen sein (davon ca. 200 Gästefans).

Unser Goldtopf ist gefüllt mit Knoblauchbrot

In Vilnius schien man also trotz 1:3 Niederlage im Hinspiel noch an das Weiterkommen zu glauben und die Mannschaft begann so, wie man beginnen muss, wenn man mit einem Rückstand von zwei Toren in die Partie geht. Es ging druckvoll nach vorne und schon in der ersten Viertelstunde hatte der FK Žalgiris ein paar gute Szenen im Gästestrafraum. Belohnt wurde ihre Bemühungen mit dem 1:0 in der 18.Minute. Liviu Antal traf für seine Farben. Danach blieben die Litauer spielbestimmend, das wichtige 2:0 sollte vor der Pause allerdings nicht mehr gelingen.

Die Teams sind startklar

Der Name Žalgiris geht übrigens auf die Schlacht bei Tannenberg von 1410 zurück (im Litauischen als Žalgirio mūšis bezeichnet). Damals kämpfte das vereinte Polen-Litauen auf ostpreußischem Boden bei Tannenberg bzw. Grunwald gegen den Deutschen Orden. Der Sieg der Polen und Litauer leitete den Niedergang des Deutschen Ordens im Ostseeraum ein und ließ Polen-Litauen zur Großmacht aufsteigen. Sowohl in Polen (dort als Bitwa pod Grunwaldem / Schlacht von Grunwald bezeichnet), als auch in Litauen hat dieser Triumph bis heute einen hohen Stellenwert im nationalen Bewusstsein. Football meets history…

Gut gefüllte Gegengerade

Beim Honvéd FC hat der Name ebenfalls einen historisch-militärischen Hintergrund. Honvéd bzw. Honvédség ist die ungarische Bezeichnung für eine Landwehr respektive heisst es wörtlich übersetzt Vaterlandsverteidiger. Wer meinen vor kurzem veröffentlichen Bericht aus Zagreb aufmerksam gelesen hat, wird sich an meine Ausführungen zum Revolutionsjahr 1848 in Österreich-Ungarn erinnern. Für die Freiwilligen des ungarischen Aufstands taucht damals erstmals der Begriff Honvéd auf und nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 wurde die königlich ungarische Landwehr (Magyar Királyi Honvédség) als eine der vier Teilstreitkräfte der Donaumonarchie gegründet. Seitdem ist Honvéd der Begriff für einen ungarischen Soldaten geblieben, respektive Honvédség die Bezeichnung für die Armee als Ganzes. Selbst in der sozialistischen Epoche, in jener der 1909 als Kispesti AC gegründete Club dem Verteidigungsministerium unterstellt wurde, blieb der Begriff erhalten. So wurde aus dem Kispesti AC anno 1949 der Honvéd SE.

Die Jungs aus Budapest-Kispest

Honvéd war in der ersten Hälfte der 1950er Jahre das Nonplusultra des ungarischen Clubfußballs – die Mannschaft um Superstar Ferenc Puskás (ein als Franz Purczeld geborener Donauschwabe) stellte damals auch das Gerüst der lange Zeit als unbesiegbar geltenden Goldenen Elf der ungarischen Nationalmannschaft – und nahm 1956 an der zweiten Auflage des Europapokals der Landesmeister teil. Nach der Hinspielniederlage in der 1.Runde in Bilbao begann jedoch der Ungarische Volksaufstand, über den ich in meinem Budapest-Bericht bereits ein paar Worte verloren habe. Das Rückspiel wurde nun aus Sicherheitsgründen in Brüssel anstatt Budapest ausgetragen und die Mannschaft beschloss nach einem 3:3, welches das Ausscheiden besiegelte, nicht ins unruhige Ungarn zurückzukehren. Sie bestritten ihren Lebensunterhalt vorerst mit Freundschaftsspielen in Europa und Südamerika.

Auch wenn Žalgiris kein Armeesportklub ist, waren viele Soldaten im Stadion

Dann wurde die Honvéd-Elf auf ungarischen Druck von der FIFA weltweit gesperrt und ein Teil der Spieler kehrte in die Heimat zurück, während viele Stars, u. a. Ferenc Puskás, Zoltán Czibor und Sándor Kocsis, ihr Glück im Westen veruchten. Puskás lief nach Ablauf seiner zweijährigen FIFA-Sperre für Real Madrid auf und konnte dort in acht Spielzeiten stolze 155 Ligatore (in 179 Spielen) für die Königlichen erzielen, sowie etliche nationale und internationale Titel gewinnen. Honvéd konnte nach dem Aderlass allerdings viele Jahrzehnte nicht mehr an die goldene Ära anknüpfen. Nach den ersten fünf Meistertiteln in der ersten Hälfte der 1950er Jahre, mussten sie bis 1980 warten, um wieder einmal den Meisterpokal in die Höhe zu recken. Bis Mitte der 1990er Jahre gehörte man nun allerdings wieder zur nationalen Spitze und errang zwischen 1980 und 1993 acht weitere Meisterschaften. Danach begann eine erneute Durststrecke, mit dem Konkurs von 2004 als Tiefpunkt. Seit einigen Jahren ist man aber wieder ziemlich erfolgreich. 2017 gelang die 14.Meisterschaft und darauf folgten zwei 4.Plätze und somit weitere Europapokalteilnahmen.

Flutlichtromantik in Vilnius

Der siebenfache litauische Meister Žalgiris Vilnius hat dagegen seit Jahren ein Dauerabo für die Qualifikationsrunden der Champions und Europa League. Die letzten acht Spielzeiten schloss man in Litauens A lyga immer auf einem der beiden vordersten Plätze ab. Für die Gruppenphase eines europäischen Wettbewerbs reichte es jedoch noch nie. Da man heute sein Chancenplus nicht ausreichend nutzen konnte (insgesamt 17:4 Torschüsse) und Honvéd in der 62.Minute ausglich, würde sich das auch diese Saison nicht ändern. Nichtsdestotrotz kämpfte Žalgiris bis zur letzten Minute und die Leistung wurde vom Heimpublikum entsprechend goutiert.

Die Ultras von Žalgiris (mit kleiner Choreo)

Überhaupt lieferten die in einer Stadionecke benachbarten Sektoren der ungarischen und litauischen Ultras einen ansprechenden Auftritt. Sowohl sportlich, als auch fantechnisch war das heute hochwertiger, als das gestern in Riga gebotene Paket. Die Vilniusser, die  von einer Abordnung ihrer Freunde von Dynamo Kiev unterstützt wurden, boten zu Spielbeginn sogar eine kleine Choreographie mit Schals und grünen Glitzerfolien.

Die Haupttribüne des LFF Stadionas

Nachdem das unterhaltsame Spiel nach rund 96 Minuten abgepfiffen wurde, spazierten beide Teams zu ihrem jeweiligen Fanblock und holten sich einen Applaus ab. Für die Litauer ist in Europa abermals früh Feierabend, während die Magyaren in der nächsten Runde auf den rumänischen Vertreter CS U Craiova treffen. Wer weiß, wie sehr sich die Ungarn und die Rumänen im Allgemeinen mögen, ahnt zwei brisante Spiele.

Am Ende feierten beide Lager ihre Teams

Nach Spielende steuerten wir alsbald eine Bahnhofspinte am Vilniusser Hauptbahnhof an. Im Peronas kann man zusammen mit eher alternativem Publikum auf dem Bahnsteig vom stillgelegten Gleis 1 zechen. Bei schönstem Trainspotting genossen wir nun noch mehrere Runden, da jedes Bier die Nacht in Dimitris Bruchbude verkürzte. Da taten die Bierpreise von 4 € pro Pint auch nicht so richtig weh. Das war gut investiertes Geld.

Zechen an Gleis 1

Als wir gegen 1 Uhr morgens das Nachtlager aufsuchten, war die Klospülung angenehmerweise wieder repariert – habe ich eigentlich schon erwähnt, dass der Klodeckel aus Schaumstoff mit Stoffüberzug bestand? Ziemlich eklig, weshalb das zurecht verpönte Stehpinkeln wieder kultiviert wurde – und ebenfalls hatte niemand, trotz unabgeschlossener Wohnung, unsere schmutzige Wäsche gestohlen. In Vilnius ist die Welt noch in Ordnung! In so einer Stadt kann man also theoretisch ruhig schlafen, wären nur die durchgelegenen Sofas nicht so unbequem gewesen.

Unsere Nachmieter waren nicht so begeistert

Am kommenden Morgen hielt uns natürlich nichts mehr in Dimitri’s World und es ging zeitig zum Busbahnhof, wo um 9 Uhr Abfahrt war. Auf dem Weg nach Tallinn kam ich sogleich der automatischen E-Mail-Aufforderung zur Unterkunftsbewertung nach. Denn ich meinte das Spielchen durchschaut zu haben. Meiner Theorie nach war jeder bisherige Gast genau so geschockt von der Bude wie wir. Allerdings machten sich alle den Spaß Topbewertungen zu vergeben, um andere in die selbe Scheisse zu reiten. Ich gab insgesamt die Note 8,4 und preiste die gute Lage (stimmt ja wirklich), den hilfsbereiten Vermieter (er hat immerhin prompt die Klospülung repariert und uns außerdem sein Soundsystem zur Verfügung gestellt) und die authentische Ausstattung (Retrochic!) an. Mit dem guten Gefühl, dass bestimmt irgend jemand dank meiner Bewertung Dimitris Apartment buchen wird, ließ es sich viel entspannter abreisen. Unser Nachfolger hat die Spielregeln dagegen leider nicht kapiert (siehe Screenshot).

Song of the Tour: 2006 hatte Litauen den Plan sechs ihrer beliebtesten Künstler als „Super Group“ zum ESC zu schicken. Die hatten nun die Idee einen ironischen Text über ihren bevorstehenden Sieg beim ESC zu schreiben. Kam beim Publikum der Entausscheidung in Athen aber nicht so gut an und wurde massiv ausgebuht.