London 12/2023 (III)

  • 29.12.2023
  • Millwall FC – Norwich City FC 1:0
  • Championship (II)
  • The Den (Att: 17.715)

Nach den ungefähr fünf Litern Bier am Vorabend, ging es am dritten Morgen der Reise erst um 10 Uhr zum Frühstücksbuffet. Heute taten die offerierten Deftigkeiten dem Körper besonders gut und anschließend fühlte ich mich wieder topfit. Jetzt konnte es frohen Mutes zum Imperial War Museum gehen, wo ich mich ab 12 Uhr mit der britischen Kriegs- und Militärgeschichte der letzten 110 Jahre beschäftigen wollte.

Heute war es auch zeitlich fast ein Mittagessen

Die dem Museum nächstgelegene Bahnstation aus Richtung Sutton ist Elephant & Castle. Wie der Zufall es so wollte, hatte der Ananasmann justement in die insgesamt 12 Lads starke Hannover-x-London-Gruppe geschrieben, dass er dort im Wetherspoon’s zum Frühstücken bzw. Frühschoppen ist. Rockingham Arms heißt die gute Stube und der magyarische Peter-Maffay-Imitator traute seinen Augen kaum, als ich ihm plötzlich guten Durst wünschte. Nach den gemeinsamen Abenteuern Rotterdam 12/2017 und Cardiff, Bristol & Swansea 01/2020 war es nun wohl einfach an der Zeit, sich mal wieder über den Weg zu laufen.

Frühschoppen

Bei zwei Runden Bier und Fruchtwein konnten wir über die alten Anekdoten herzhaft lachen und zugleich die Pläne für den heutigen und den kommenden Tag austauschen. Der Ananasmann hatte bereits am Vortag das Imperial War Museum geprüft und wollte heute eigentlich nach Chinatown, um dort mutmaßlich authentische Ente süß-sauer zu naschen. Aber wahrscheinlich habe ich den Eindruck erweckt, dass ich mich alleine in so einem großen Museum nicht zurechtfinde oder mit den Inhalten überfordert sein könnte. Jedenfalls warf der Sohn der Puzsta kurz vor meinem Aufbruch ein: „Schneppe, warte kurz, ich komme mit ins Museum“.

London Wildlife

13,12 Minuten später standen wir vor zwei 15-Zoll-Kanonenrohren, die dereinst auf der HMS Resolution (Stapellauf 1915) und der HMS Ramillies (1916) montiert waren und heuer sozusagen den Vorgarten des Imperial War Museums zieren. Nachdem dieses Großkaliber ausgiebig begutachtet war, erwartete uns hinter der Eingangspforte (Eintritt ist grundsätzlich frei) sogleich weiteres imposantes Kriegsgerät. Ins Atrium sind u. a. eine Supermarine Spitfire, eine Hawker Siddeley Harrier und ein Aggregat 4 (besser bekannt als V2) installiert worden.

Das imperiale Kriegsmuseum zu London

Auf mehreren Etagen widmet sich dieses Museum in erster Linie den beiden Weltkriegen aus britischen Perspektive. Ebenfalls bekommen die britischen Militäreinsätze und Kriegsbeteiligungen von 1946 bis in die Gegenwart ihre Würdigung und darüber hinaus werden regelmäßig Wechselausstellungen geboten. Aktuell waren das die just auslaufende Ausstellung Northern Ireland: Living with the Troubles und das noch bis 14.April 2024 erlebbare Sonderthema Spies, Lies and Deception.

Die Spitfire

Mit jenen Sonderausstellungen, die der Ananasmann am Vortag nebenbei sträflich ausgelassen hatte, fingen wir dann gleich mal an. Northern Ireland: Living with the Troubles ging zwar weniger in die Tiefe als das historische Fachjorunal Schneppe Tours im Bericht Northern Ireland 10/2016, aber es war eine durchaus anschauliche Darstellung der Troubles mit viel Videomaterial und etlichen Stimmen von Zeitzeugen. Spies, Lies and Deception war wiederum ein interessanter Einblick in die britische Spionagetätigkeit vom Ersten Weltkrieg bis in unsere Tage hinein. Jene Ausstellung weckte dabei sehr großes Interesse meines magyarischen Mitstreiters. Da er mir bereits einiges über den Mossad, Shin Bet, GRU, FSB, CIA usw. im Pub erzählt hatte, warf das irgendwie schon Fragen auf. Aber er meinte, er gucke lediglich viele Spionagedokumentationen auf Arte.

Die Harrier

Nach den Sonderausstellungen führte uns der Weg natürlich auch noch in die Dauerausstellungen, wo es ebenfalls viel zu sehen und zu erleben gibt. Insbesondere der elende Grabenkrieg im Ersten Weltkrieg und der die heroische Luftschlacht um England im Zweiten Weltkrieg sind dabei besonders umfangreich aufbereitet. Ich habe natürlich versucht einen Spannungsbogen für meinen Begleiter aufzubauen. Aber der Ananasmann war bekanntlich erst gestern hier. Der wusste bereits, wer in den beiden Weltkriegen am Ende den Gesamtsieg holen konnte.

Auch die Irakkriege sind im IWM aufbereitet

Nach dem Museumsbesuch warf so langsam das abendliche Fußballspiel seine Schatten voraus. 19:45 Uhr sollte Millwall seinen Ligarivalen aus Norwich zum Kräftemessen empfangen und knapp die Hälfte der zur Zeit in London anwesenden hannoverschen Fußballtouristen hatte dieses Spiel auf seiner Agenda (der Rest fuhr hingegen zu Watford vs. Stoke). Da im Stadionumfeld von Millwall allerdings weder gut Kirschen essen, noch gut Apfelwein trinken möglich sein soll, hatten wir uns für die gemeinsamen Pre-Match Pints auf die Gegend um den Bahnhof London Bridge verständigt.

Die Galeriegänge des George Inns

Nach einem 1.896 m langen Spaziergang durch Southwark erreichten die Ananász und ich um 16 Uhr als erste Vorhut das Zielgebiet und ließen uns auf den Außenplätzen des The George Inn nieder. Dieser altehrwürdige Gasthof von 1676 versprüht innen wie außen einen wunderbaren Charme und servierte uns das Pint seines hauseigenen The George Inn Ale für £ 5.90. Kaum daran genippt, wuchs die Gruppe erst auf vier und dann auf sechs Personen an. Nun freuten wir uns mit klingenden Gläsern auf einen schönen Fußballabend im berüchtigten The (New) Den, welcher 1993 den noch berüchtigteren The (Old) Den als Heimstätte des Millwall FC ablösen durfte.

Ich gönnte mir zum Abendessen einen Steak Pie mit Mushy Peas, Chips und Gravy (£ 11.20 inklusive einem Pint Carling)

Allerdings teilten wir schnell die gemeinsame Vision einer warmen Mahlzeit im Warmen und damit konnte das The George Inn mangels freien Plätzen im Inneren nicht dienen. So ging es leider doch zeitnah in den nächstbesten Wetherspoon’s namens The Pommelers Rest. Dort war zwar auch viel Betrieb. Aber wie bestellt, war tatsächlich noch ein einziger Tisch frei und der hatte exakt die benötigte Anzahl an Stühlen. In Sachen Abendessen fand nun jeder etwas Passendes und an weiteren Ales und Ciders sollte es ebenfalls nicht mangeln, bis wir kurz vor 19 Uhr zu fünft zum Bahnhof London Bridge aufbrechen mussten (der Ananasmann wollte lieber im Pub weiterzechen*).

Willkommen im Südlondoner Verbrecherland

Eigentlich hatten wir den Zug um 19:01 Uhr angepeilt, aber da passte kurz vor Abfahrt wirklich keine Seele mehr hinein. Also musste nochmal 15 Minuten auf das nächste Schienenfahrzeug nach South Bermondsey gewartet werden. Zum Glück dauert die Fahrt nur vier Minuten, so dass uns der Zug bereits um 19:20 Uhr unweit der 20.146 Zuschauer fassenden Spielstätte des 1885 als Millwall Rovers gegründeten Traditionsvereins absetzte. Wir folgten nun zielsicher der Kolonne von grobschlächtigen Schiebermützenträgern und gute zehn Minuten später kam der Stadioneingang in Sicht.

The Den liegt zwischen verschiedenen Gleisanlagen, welche der Besucher zu unterqueren hat

Während die anderen Hannoveraner ihre Plätze auf dem Cold Blow Lane Stand und dem Dockers Stand erworben hatten, saß ich auf dem Barry Kitchener Stand (£ 35) und konnte somit gleich durch’s erstbeste Drehkreuz huschen. Aber ansonsten nahmen sich unsere Plätze nicht viel. Die Tribünen waren nicht nur alle nahezu baugleich, sondern auch weitgehend vom selben Schlag Mensch bevölkert. Wir spürten glaube ich unisono eine gewisse Grundasozialität und -aggressivität, die The Den nach wie vor zu einer besonderen Adresse im englischen Fußball macht.

Gleich rollt der Ball

Selbst der 78 Jahre alte Mann neben mir, der mich zunächst freundlich begrüßte, entpuppte sich schnell als Furie. Kaum war der Gehstock an die Brüstung gelehnt, fing er auch schon zu schimpfen. Zunächst mal auf die eigene Mannschaft. Er ginge schon seit über 60 Jahren zu den Lions, aber so viele schlechte Spiele wie diese Saison gab es angeblich noch nie. Ohne seine Dauerkarte wäre er heute garantiert zum Karaoke in den Pub gegangen. Obwohl sein Hörvermögen nicht mehr das Beste sei, hätte er da garantiert mehr Spaß gehabt.

Der Gästesektor

Der Kollege war echt gut on fire und als die knapp 2.000 Gästefans sich erstmals seit seiner Ankunft akustisch bemerkbar machten, bekamen die auch gleich ihr Fett weg. Aber da passte sich mein betagter Nachbar nur der hiesigen Etikette an. Die folgenden gut zwei Stunden sollte es permanent abfällige Gesten und Beleidigungen von den Heimsektoren in Richtung Gästefans hageln. Dort wiederum stieg zumindest ein Teil in die Folklore ein und allein das war die halbe Miete für eine gute Atmosphäre an diesem Abend.

Der Cold Blow Lane Stand erinnert an den Standort des 1993 aufgegebenen alten Stadions

Den Rest besorgte ein die Spannung aufrechterhaltender Spielverlauf und die regelmäßig durchaus annehmbare Lautstärke der Südlondoner. Klar, über Kreativität und Abwechslung brauchen wir nicht reden, wenn sich über 90 Minuten lediglich Pöbeleien, der Millwall Roar und das legendäre „No one likes us“ abwechseln. Aber während bei Chelsea, Arsenal & Co ungefähr 90 % der Stadionbesucher offenbar einem permanenten Schweigegelübde und Sitzgebot unterliegen, erlaubt sich die Working Class im The Den wenigstens noch flächendeckend Leidenschaft und Emotionen.

Provozieren…

Schon in der 18.Minute erreichten diese Emotionen einen ersten Höhepunkt. Tom Bradshaw, der Millwall bereits drei Tage zuvor gegen QPR auf die Siegerstraße gebracht hatte, zeigte sich abermals treffsicher. Alle Lions rissen vor Freude die Arme in die Luft, um sie anschließend sogleich für obszöne Handzeichen gen Gästesektor zu gebrauchen. Auch mein Sitznachbar machte da keine Ausnahme und garnierte seinen Torjubel mit vielen bösen Wörtern.

…und provozieren lassen

Nun war eine passende Antwort der Canaries auf dem Platz gefragt, aber so richtig Druck baute der gegenwärtig Zwölfte beim zur Zeit Zwanzigsten der zweitklassigen Championship vorerst nicht auf. Erst nach gut einer Stunde brachte City-Coach David Wagner drei frische Offensivakteure auf den Platz, was mit mehr Druck auf das Tor der Hausherren einherging. Nichtsdestotrotz hielt sich Millwalls Defensive weiterhin schadlos und jeder gescheiterte Angriff von Norwich City wurde vom Publikum gefeiert. Zugleich bekam der Schiedsrichter laute Pfiffe und wüste Beleidigungen bei jeder Entscheidung zugunsten der in gelb gewandeten Gäste. „Put your f*cking yellow shirt on, Ref!“ war noch die harmloseste Äußerung.

Ein letzter Freistoß für die Kanarienvögel

Zum Heimschiedsrichter mutierte Dean Whitestone dennoch nicht und dezimierte die Lions ohne zu zögern nach einem Foulspiel in der 88.Minute. Der Platzverweis für Millwalls Saville, nebst sechs Minuten Nachspielzeit, sorgte nochmal für eine Schlussoffensive des 1902 gegründeten Norwich City FC. Aber auch die sollte fruchtlos bleiben. 21:43 Uhr ertönte endlich der von 90 % des Publikums herbeigesehnte Schlusspfiff und zum Klassiker „Rockin’ All Over the World“ von Status Quo wurde dieser zweiter Heimsieg in Serie enthusiastisch gefeiert. Das Schlusswort überlasse ich dabei nochmal meinem mit Altersflecken übersäten Sitznachbarn: „Go home you f*cking w*nkers and pull carrots out of the ground“ war sein Abschiedsgruß für die als Farmer und Landeier verschrienen Gästefans aus Norfolk.

Erinnerungsort am Stadion

Während gemäß meines Sitznachbars Einschätzung auf den Straßen nach Norden nun ein Kolonne aus Traktoren zu befürchten war, ging’s für mich auf dem Schienenweg in die gegenüberliegende Himmelsrichtung. Ich spazierte zufrieden ob des gelungenen Stadionerlebnisses zurück zur Bahnstation South Bermondsey und kam von dort mit einem Umstieg in Croydon binnen 40 Minuten nach Sutton. So ging es ausnahmsweise früh ins Bett und dadurch wunderbar ausgeschlafen in den Jahresendspurt.

Song of the Tour:

*Letztlich fuhr er aber doch zum Stadion und bekam zur Belohnung obendrein vor’m Eingang von einem Engländer eine Freikarte in die Hand gedrückt. Tu Felix Hungaria!