Leipzig 04/2023

  • 02.04.2023
  • BSG Chemie Leipzig – 1.FC Lokomotive Leipzig 0:0
  • Regionalliga Nordost (IV)
  • Alfred-Kunze-Sportpark (Att: 4.999)

Am 2.April war einmal mehr das Leipziger Derby im Spielplan der Regionalliga Nordost zu erspähen. Weil mein erster und bisher einziger Besuch dieses prestigeträchtigen Stadtduells nun schon über 21 Jahre her ist, fand ich es durchaus reizvoll dieser Ansetzung nach einer halben Ewigkeit erneut beizuwohnen. Zumal ich in der aktuellen Saison bereits zweimal geplant hatte mal wieder im Alfred-Kunze-Sportpark aufzukreuzen (dort lag meine letzte Visite auch schon 16 Jahre zurück), sich jedoch beide angedachten Spielbesuche bei der BSG Chemie kurzfristig zerschlagen hatten.

Willkommen in der Messestadt Leipzig

Die Deutsche Bahn setzte mich am Spieltag um 10:15 Uhr in der sächsischen Messestadt ab und da der NOFV die Partie auf 16 Uhr angesetzt hatte, blieb noch ausreichend Zeit für Kulturelles abseits der Fußballränge. Innerstädtisches Sightseeing hatte ich bereits im Oktober und Dezember des Vorjahres betrieben und nach dem erstgenannten Besuch ein bisschen was zu den Sehenswürdigkeiten und der Stadtgeschichte niedergeschrieben. Heute fand ich es daher sinnvoll mit der friedlichen Revolution von 1989 nochmal ein bedeutendes Ereignis der jüngeren Leipziger Geschichte zu vertiefen und besuchte dazu das Zeitgeschichtliche Forum. Dort wird den Besuchern in einer kostenlosen Dauerausstellung die Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Deutschen Wiedervereinigung sehr umfangreich und anschaulich vermittelt.

Der Konferenztisch aus dem Büro des ersten SED-Vorsitzenden Wilhelm Pieck (daran tagte in den 1950er Jahren das mächtige Zentralkomitee der SED)

Ausgehend vom Ende des Zweiten Weltkriegs (1945), erfährt man zunächst wie die sowjetische Besatzungsmacht die Weichen für eine sozialistische Diktatur auf deutschem Boden gestellt hat und 1949 schließlich die DDR gegründet wurde, die sich fortan als Satellitenstaat in den Machtbereich der Sowjetunion einfügte. Im nächsten Abschnitt beschäftigt sich die Ausstellung mit der Machtfrage in der DDR. Dabei bekommen die Besucher Informationen zur Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und zum Aufbau eines totalitären System in der DDR, in welchem die SED de facto in alle Lebensbereiche der Bürger hineinwirkte. Parteinahe Organisationen wie die Freie Deutsche Jugend (FDJ) und der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) werden erklärt. Die Stasi und ihre Methoden kommen ebenfalls nicht zu kurz. Obendrein finden die Sport- und Kulturpolitik im SED-Staat ihre Beachtung.

An Lenin und Marx wollte sich der neue Staat orientieren

Anschließend wird das Wirtschaftssystem der DDR detailliert erörtert. Dessen Schwachstellen und die fehlenden Freiheitsrechte führten bekanntlich 1953 zu einem Volksaufstand und nach dessen Niederschlagung setzte eine große Abwanderungswelle in den Westen ein, welcher der Staat wiederum mit Grenzsicherungsmaßnahmen und letztlich 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer begegnete. Dem Alltag der Menschen in einem nun eingezäunten und eingemauerten Staat stellt das Zeitgeschichtliche Forum ebenfalls viel Raum zur Verfügung. Während der Staat in den 1970er Jahren versuchte die Bürger mit neuem Wohnraum und Konsumgütern bei Laune zu halten und der Lebensstandard zwischenzeitlich stieg, arrangierten sich die meisten Bürger mit dem System und suchten sich bisweilen in ihrer Freizeit kleine Nischen, um ihre Persönlichkeit etwas freier entfalten zu können.

Ideologische Kunst

Die wirtschaftliche Krise der 1980er Jahre ließ jedoch insbesondere die heranwachsende Generation wieder systemkritischer werden. Wie diese Menschen in der Friedens- und Umweltbewegung und einer alternativen Kulturszene neue Formen des offenen Austauschs und Protests fanden, ist ein weiterer Ausstellungsschwerpunkt. Leipzig war damals ein Zentrum der Protest- und Reformbewegung innerhalb der DDR und im Laufe des Jahres 1989 entwickelten sich aus den montäglichen Friedensgebeten in der Nikolaikirche immer größer werdende Protestzüge durch die Stadt. Der 9.Oktober 1989 gilt dann gewissermaßen als Wendepunkt. Zwei Tage nach dem 40.Jahrestag der DDR, dessen Feierlichkeiten übrigens von brutal unterbundenen Protesten begleitet wurden, zogen ca. 70.000 friedliche Demonstranten durch Leipzig. Die Staatsmacht ließ erhebliche Kräfte aufmarschieren, doch diesmal blieb der Befehl zur gewaltsamen Niederschlagung aus. Erstmals wich das SED-Regime vor seinen Bürgern zurück und die Proteste breiteten sich rasch im ganzen Land aus.

Automobile gehörten zu jenen begehrten Gütern, welche die DDR nicht nachfragegerecht produzieren konnte

Anschließend überschlugen sich bekanntermaßen die Ereignisse. Unter dem Druck der anhaltenden Demonstrationen musste der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker am 18.Oktober seinen Hut nehmen und am 9.November fiel die Berliner Mauer. Der anschließende Weg zur Wiedervereinigung und deren Vollzug am 3.Oktober 1990 bekommen natürlich sehr viel Platz im Zeitgeschichtlichen Forum. Aber danach endet der dokumentarische Anspruch dieser Einrichtung keineswegs. Die Herausforderungen der Nachwendezeit, wie die Aufarbeitung der SED-Diktatur und die schwierigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse nach der Wiedervereinigung, kommen mittlerweile in ähnlichem Umfang wie die DDR-Geschichte zur Geltung. Man nähert sich dabei vielen Fragestellungen der Nachwendezeit an. Welche Chancen und welche Probleme brachte die neue Freiheit? Wie wirkten sich Massenarbeitslosigkeit, die Abwicklung ganzer Industrien und die Entwertung von bisherigen Biografien auf die Menschen aus?

Protestbanner aus dem Jahre 1989

Neben der Dauerausstellung präsentiert das Zeitgeschichtliche Forum außerdem ständig wechselnde Sonderausstellungen. So hatte ich die Möglichkeit noch Unabhängigkeit! Fotografien aus der Ukraine 1991–2022 zu besuchen. Dort dokumentieren etliche eindrucksvolle Bilder das Ringen der Ukraine um staatliche Souveränität, nationale Identität und Demokratie seit 1991. Vom Hissen der ukrainischen Nationalflagge auf dem Kiewer Parlamentsgebäude (1991) über die Orangene Revolution (2004), über den Euromaidan und den anschließenden Beginn der russischen Okkupation auf der Krim und in der Ostukraine (2014), bis hin zum gegenwärtigen Kriegsgeschehen seit dem russischen Überfall auf das weitere Staatsgebiet der Ukraine im Februar 2022.

Das Zeitgeschichtliche Forum befindet sich in guter Nachbarschaft

Nach dem Besuch des Zeitgeschichtlichen Forums ging es auf 13 Uhr zu. Nun musste ein Mittagessen her und praktischerweise befindet sich gleich nebenan die Mädlerpassage mit dem Traditionsrestaurant Auerbachs Keller. Hier blickt man auf über 500 Jahre Gastlichkeit zurück und kam durch eine Szene in Goethes Faust zu Weltruhm. Entsprechend sind die vielen Nischen im bis zu 600 Gäste fassenden Gewölbekeller mit Wandmotiven aus Faust I und Faust II ausgestaltet. In diesem reizvollen Ambiente ließ ich mir zunächst eine Kartoffelsuppe mit gedünstetem Wurzelgemüse, Speck, Zwiebeln und Croûtons servieren. Anschließend kamen als Hauptgang glacierte Filetwürfel vom Lammrücken mit zweierlei Bohnen und roten Zwiebeln in Portweinsauce an meinen Tisch. Als Begleitung dazu wählte ich außerdem gekräuterte Bandnudeln.

Die Leipziger Kartoffelsuppe ist eine Spezialität in Auerbachs Keller

Zusammen mit 0,5 l Pils aus dem Hause Ur-Krostitzer standen am Ende 36,90 € auf dem Bewirtungsbeleg. Da der Service sehr aufmerksam war und an den dargereichten Speisen höchstens zu bemängeln gewesen wäre, dass die Portweinsauce ruhig etwas gebundener hätte sein dürfen, war das ein ausgezeichnetes Preis-Leistungs-Verhältnis. Mag vielleicht noch bessere kulinarische Adressen in Leipzig geben, aber mit Tourinepp scheint Auerbachs Keller erfreulicherweise auch nichts zu tun haben wollen.

Mein Hauptgang konnte sich auch sehen und schmecken lassen

Nach dem Essen war es kurz vor 14 Uhr und ich nahm mir noch eine Stunde für ausgewählte Höfe und Passagen der Leipziger Altstadt, sowie die beiden bedeutendsten Kirchen St. Thomas und St. Nikolai. Aber da ich wie eingangs erwähnt zur hiesigen Messegeschichte, den Kirchen und dem dortigen Wirken von Johann Sebastian Bach bereits im letzten Jahr etwas geschrieben habe (siehe Leipzig 10/2022), möchte ich an dieser Stelle auf Wiederholungen verzichten.

Chemies legendäre Meistermannschaft von 1964

Nach meinem neuerlichen Stadtrundgang ging es gegen 15 Uhr schließlich raus in den Leipziger Westen und die Tore des Alfred-Kunze-Sportparks wurden 45 Minuten vor Anpfiff passiert. Ich schaute mich zunächst ein wenig in der bereits sehr belebten Fankurve der Leutzscher um und ließ mich letztlich unterhalb der Haupttribüne auf dem so genannten Dammsitz nieder. Von dort hatte ich auf Höhe der Mittellinie gute Sicht auf’s Spiel- und auf’s Kurvengeschehen.

Späher mit Fernglas

Der teilweise ziemlich baufällige, aber für Stadionnostalgiker natürlich sehr charmante Alfred-Kunze-Sportpark war heute mit 4.999 Spielbesuchern restlos ausverkauft (mehr lässt das Ordnungsamt im eigentlich bis zu 18.000 Zuschauer fassenden Stadion gegenwärtig nicht zu). Auch die Gäste aus Leipzig-Probstheida hatten ihr Kontingent von 500 Tickets restlos verkauft und die meisten von ihnen hatten sich um 14 Uhr per Fanmarsch vom rund 3 km entfernten Schützenhof zum Leutzscher Sportpark aufgemacht. Als sie gegen 14:30 Uhr geschlossen den Gästesektor im Stadion betraten, war natürlich gleich Stimmung in der Hütte und erste Schmähungen wurden ausgetauscht.

Die Lokisten tauchen auf

Ferner präsentierten die Lokisten schon weit vor Anpfiff eine Tapete mit der Aufschrift „Civa rein, Chemieschweine raus“. Das nahm wohl Bezug auf die jüngsten Unstimmigkeiten zwischen Trainer Almedin Civa und ein paar unzufriedenen Lok-Fans. Mit zwei Niederlagen hintereinander gegen die Topteams Rot-Weiß Erfurt (0:1) und Energie Cottbus (0:2) dürfte sich der 1.FC Lokomotive just vor’m heutigen Derby endgültig aus dem Meisterrennen verabschiedet haben und letztgenannte Niederlage gegen den FC Energie hatte im Bruno-Plache-Stadion zum Austausch von Nettigkeiten zwischen Trainer und ein paar frustrierten Fans geführt.

Während die Lokisten sich gerne als große Faustkämpfer inszenieren, scheinen die Chemiker mit Mephisto im Bunde zu sein

Auch die Chemiker griffen diese Steilvorlage aus dem Fanlager des Erzrivalen dankbar auf und hatten ihrerseits „Der Trainer mit dem Mittelfinger in Richtung Block – Zusammenhalt im Hause Lok“ auf ein Transparent gepinselt. Obendrein gab es in ihrem Fanblock zu Spielbeginn eine nette Aktion mit dutzenden Fahnen, Konfetti und Wurfrollen (siehe Titelbild). Im Gästeblock verzichtete man wiederum auf eine optische Aktion, bzw. gab sich mit dem geschlossenen Erscheinungsbild von fast 500 einheitlichen dunkelblauen Jacken zufrieden, die vor’m Derby gegen 20 € Gebühr an alle nach Leutzsch mitmarschierenden Lok-Fans ausgegeben wurden.

500 Lokisten hofften auf das Derbytriple

Da der 1.FC Lokomotive (aktuell Sechster) seine Aufstiegsambitionen wie erwähnt ad acta legen musste und die BSG Chemie (gegenwärtig 5.Platz) gar nicht erst für die 3.Liga gemeldet hat, war der Ausgang des heutigen Leipziger Derbys sportlich nicht besonders relevant für die Kontrahenten. Aber mindestens für die Fans ist jedes dieser Aufeinandertreffen prestigeträchtig und weil diese Saison bereits zwei Derbys an Lok gingen (3:0 im Hinspiel und 8:7 nach Elfmeterschießen im Sachsenpokal), gierten die Gäste sozusagen auf das Triple und für das Heimpublikum wäre genau das der Worst Case gewesen.

Die Heimkurve ließ es nicht an Unterstützung der Mannschaft mangeln

In dieser Konstellation entwickelte sich nach dem ersten Abtasten eine durchaus muntere Partie, in der die BSG bereits in der 1.Halbzeit gute Möglichkeiten zur Führung hatte. Surek (28.Min) und Mäder (37.) vergaben jedoch aus aussichtsreicher Position ihre Torchancen. Ebenfalls gut aufgelegt war das Heimpublikum, welches sich natürlich auch über eine Delegation der Freunde aus Frankfurt am Main im Block freuen durfte. Diablos & Co wissen mit ihrer Vielzahl an Melodien und ausgereiften Texten akustisch einfach zu überzeugen und gehören in Sachen Liedgut sicher zu den interessantesten Fanszenen in unserer Republik. Allein dafür lohnt sich in der Regel der Weg ins Leutzscher Holz (oder in jene Spielorte, in denen die BSG Chemie gastiert).

Auch die Lokisten hingen sich teilweise gut rein

Lok ist supporttechnisch bekanntlich eher aus einem anderen Holz geschnitzt. Was so ein Derby grundsätzlich interessanter gestaltet, als wenn beide Rivalen sich mehr gleichen, als ihnen eigentlich lieb sein dürfte. Der Auftritt von Lok (und ihren Freunden aus Halle) war auch gar nicht übel, aber zu ihrem Stil gehört neben dem eher rustikalen Liedgut und ordentlich Zaunrütteln eigentlich auch eine fetzige Pyroshow. Die ließ man heute vermissen und hatte damit offenbar das Flehen des Vereins erhört. In der vergangenen und der aktuellen Saison hatten Aktionen der Fans dem 1.FC Lokomotive bereits über 40.000 € an Verbandsstrafen eingebrockt. In dem finanziellen Rahmen, in jenem sich der Nachfolgeverein des ersten deutschen Fußballmeisters VfB Leipzig gegenwärtig bewegen muss, ist das viel Geld, was im Etat spürbar woanders fehlt.

Schalparade bei den Chemikern

Aber es war auch ohne Pyrotechnik oder bahnbrechende Choreographien ein stimmungsvolles Derby und obendrein – anders als der Endstand vermuten lässt – ein sehenswertes Fußballspiel. Im zweiten Durchgang kam zunächst Lok zu einigen guten Torchancen, ehe die Chemiker nach rund einer Stunde Spielzeit wieder stärker auf die Führung drängten und abermals beste Gelegenheiten ungenutzt ließen. So ein Chancenwucher wird bekanntlich gerne am Ende bestraft und als Loks Atilgan in der 88.Minute im Strafraum der Grün-Weißen nochmal zum Kopfball kam, verfielen alle Fans um mich herum kurz in Schockstarre. Aber eine Millisekunde später war der letztlich zu unplatzierte Kopfball vom routinierten Chemie-Schlussmann Benjamin Bellot pariert.

Chemie schnupperte mehrmals am Tor des Tages

Wenig später endete ein fast schon revolutionär-friedliches109. Leipziger Derby ohne Sieger. Auf der Heimseite konnte man a) mit der Leistung und der Einstellung der Mannschaft zufrieden sein und b) wurde dem Erzrivalen wenigstens das ersehnte Triple verwehrt. Nichtsdestotrotz zelebrierten die Lokisten nach Abpfiff ihre gute Derbybilanz in dieser Saison und überreichten der Mannschaft einen Pokal mit der Gravur „Stadtmeister 2022/23 – Kein Königreich ist größer als wir – Lok ist die Stadt“. Mich zog es unterdessen schnurstracks zur Leutzscher S-Bahn-Station. Die erstbeste Bahn um 18:07 Uhr wurde just in time erreicht und somit war ich bereits gegen 21:30 Uhr wieder daheim. Es gab sicher schon denkwürdigere Leipziger Derbys, aber es war dennoch ein lohnenswerter Spielbesuch und in Kombination mit dem Zeitgeschichtlichen Forum und Auerbachs Keller definitiv ein sehr gelungener Tagesausflug.

Song of the Tour: Diese Ballade der Leipziger Band Karussell avancierte 1989 zur Begleitmusik der politischen Wende