Berlin 11/2022

  • 27.11.2022
  • Delay Sports Berlin – SV Chemie Adlershof 3:1
  • Kreisliga C (XI)
  • Preussenstadion (Att: 122)

Eigentlich hatte ich heute geplant zum Spiel Chemnitzer FC vs. FC Carl Zeiss Jena ins einstige Karl-Marx-Stadt zu fahren und dafür bereits ein Zugticket via Leipzig und eine Eintrittskarte für’s Stadion im Wallet. Doch die Reise begann gleich mal mit einem Zugausfall. Der gebuchte InterCity von Hannover nach Leipzig sollte aufgrund einer Güterzugkollision in der Vorwoche und weiterhin gesperrter Strecke nicht verkehren. Na ja, nun war wenigstens die Zugbindung von meinem Sparpreisticket (17,90 €) aufgehoben und ich wollte um 7:26 Uhr per ICE von Hannover via Fulda nach Leipzig reisen. Wäre ich eben erst 90 anstatt 150 Minuten vor Anpfiff in Chemnitz. Für einen Abstecher zu den zwei bis drei Sehenswürdigkeiten der Stadt und einen Snack auf dem Weihnachtsmarkt hätte das immer noch gereicht.

Wenn die DB App für meine Verbindung mal wieder eine außergewöhnlich hohe Auslastung anzeigt, ich aber trotzdem zu geizig für eine Sitzplatzreservierung bin

Allerdings hatte ICE 783 unterwegs plötzlich irgend einen technischen Defekt und konnte nur noch mit 160 km/h fahren. Damit war der Anschluss in Fulda um 9:09 Uhr ähnlich schnell gegessen wie meine mitgeführte Laugenstange mit Frischkäse und Radieschen. Fulda wurde heute erst um 9:32 Uhr anstatt 8:54 Uhr erreicht und ich hatte nun 40 Minuten bis zur nächstmöglichen Verbindung nach Chemnitz. ICE 374 aus Basel musste heute wegen der eingangs erwähnten Streckensperrung ab Fulda über Erfurt und Halle nach Berlin umgeleitet werden und gab mir die Chance durch einen Umstieg in Erfurt wenigstens um 13:25 Uhr und somit noch rechtzeitig vor Spielbeginn in Chemnitz anzukommen.

Unterwegs in Fuldas Barockviertel

Als ewiger Optimist war ich guter Dinge dem Ostschlager CFC vs. FCC doch noch beiwohnen zu dürfen. Beschwingt nutzte ich meinen ungeplanten Kurzaufenthalt in Fulda nun für einen kleinen Spaziergang durch die Innenstadt (ca. 3 km). Bei angenehmer Morgensonne machte die Barockstadt eine gute Figur und ich war um 10:10 Uhr zurück am Hauptbahnhof, wo ich den erwähnten ICE nach Erfurt bestieg. Der fuhr pünktlich um 10:12 Uhr in Fulda ab und sollte seinen Erfurter Halt laut DB App um 11:17 Uhr haben. Aber das Pech blieb mir treu und 10 Minuten Verspätung wurden unterwegs absehbar. Bestimmt hatten sich irgendwo auf der Strecke radikalisierte Aktivisten aus dem so genannten liberalkonservativen Lager an die Gleise geklebt, um für motorisierte Individualmobilität und vor allem für FREIHEIT!!! zu demonstrieren.

Der 1712 geweihte Dom St. Salvator zu Fulda

Der Zugbegleiter verwies meine Hypothese jedoch ins Reich der Fabel und sprach von Störungen im Betriebsablauf, weil der Streckenabschnitt heute überlastet sei. Ich hielt meine Theorie zwar für plausibler, aber ich wollte mit dem Fachpersonal auch nicht streiten. Denn der Mann sollte nun etwas für mich tun, da mein Anschlusszug in Erfurt um 11:28 Uhr auf dem Nachbargleis abfahren sollte und wir wohl zeitgleich oder ein, zwei Minuten später am Hauptbahnhof der Hauptstadt Thüringens einrollen dürften. Ich bat den DB-Mitarbeiter, dass er dafür sorgen soll, dass ICE 1710 bloß nicht ohne mich abfährt. Aber der Zugbegleiter meinte die hätten ganz frisch ein automatisiertes Meldesystem für Anschlüsse bei Verspätungen eingeführt. Er könne da manuell nichts mehr anmelden.

Stop in the name of God (Fulda hat sehr christliche Ampelmännchen)

ICE 374 rollte nun tatsächlich erst um 11:28 Uhr in Erfurt ein und gegenüber auf dem Bahnsteig stand ICE 1710 abfahrbereit. Der hatte jedoch die Türen bereits verriegelt und machte trotz einiger Umstiegswilliger keine Anstalten jene nochmal zu entriegeln. Das erregte mein Gemüt doch ein wenig und ich kehrte mit einem ungewohnt verzerrten Gesicht in den ICE 374 zurück. Denn in Erfurt auf die nächste Verbindung zu warten und dann in Chemnitz erst zur 2.Halbzeit am Stadion anzukommen, war keine Option. Stattdessen wurden nun back on the track zwischen Erfurt und Halle die Spielpläne gewälzt. Geht was im Raum Halle / Leipzig um 14 Uhr? Leuna vielleicht? Zu viel Juckelei. Merseburg? Leider nicht im großartigen Stadtstadion, sondern auf einem Kunstrasen nebenan. Überhaupt herrscht Ende November natürlich akute Nebenplatzgefahr. Deshalb wollte ich mich den Leipziger Vereinen mit halbwegs netten Rasenplätzen als Hauptfeld auch lieber nicht anvertrauen. Am Ende steht man doch am Stankett eines Kunstrasenplatzes ohne weiteren Ausbau.

Ich hatte zwischenzeitlich Hass wie Vinz in La Haine

Da der ICE 374 gegen 13 Uhr Berlin (Südkreuz) erreichen sollte, waren Nachmittagsspiele in der Hauptstadt natürlich ebenfalls eine Option. Dort fiel mir die Ansetzung von Delay Sports ins Auge und ich beschloss bis Berlin weiterzufahren. Zwar nur Kreisliga C, aber Delay Sports kickt im schicken Preussenstadion, ist ein sehr schlagzeilenträchtiger Verein und passend zu meinem heutigen Reiseverlauf ist Delay der englische Begriff für Verspätung. Wobei es in diesem Fall eher Verzögerung meint und die Vereinsgründer nicht von irgendwelchen Ärgernissen mit der Deutschen Bahn inspiriert wurden. Es geht um stockenden Spielfluss beim Zocken der Videospielreihe FIFA von EA Sports, wenn beispielsweise die Server überlastet sind. Da die Vereinsgründer Elias Nerlich und Sidney Friede mit dem Streaming ihrer Videospielzockereien prominent geworden sind, fand ihre über den Vereinsnamen abstimmende Community diesen Namen am besten.

Ankunft in Berlin-Lankwitz

Besagte Community ist ziemlich groß. Sowohl auf Instagram, als auch auf der Live-Streaming-Plattform Twitch folgen allein Nerlich jeweils über eine Million Menschen. Friede wiederum steht auf beiden Plattformen kurz vor der magischen Millionenmarke. Auf TikTok, Twitter, YouTube usw. sind die beiden natürlich auch aktiv und generieren mit ihrer Reichweite genug Einnahmen, um nicht auf einen klassischen Ausbildungsberuf oder Bürgergeld angewiesen zu sein. Diese Reichweite und das daraus resultierende Marktpotential macht prominente Videospieler natürlich für Unternehmen als Werbeträger interessant und der Profifußball drängt selbstredend auch nicht aus leidenschaftlichem Interesse an Computersimulationen ins Segment E-Sports.

Herbstsonne und marode Stadionstufen waren mein kleiner Trost an diesem verkorksten Sonntag

Dass im Fall von Delay Sports der virtuelle Sport den umgekehrten Weg geht, fand der Berliner Fußballverband (BFV) spannend und erteilte dem im November 2021 gegründeten Verein eine Ausnahmegenehmigung für die Teilnahme am Spielbetrieb der Saison 2022/23. Denn eigentlich muss man in Berlin erst mindestens drei Saisons Freizeitliga gekickt haben, um in den regulären Spielbetrieb wechseln zu dürfen. Aber es wäre natürlich dämlich gewesen, die beiden Influencer abzuweisen und auf deren erwähntes Potential zu verzichten. Auch der Amateur- und Breitensport muss schließlich der virtuellen Konkurrenz begegnen und kann es nur begrüßen, wenn die Protagonisten der Szene ihre zumeist minderjährigen Follower auch für den „echten“ Sport begeistern.

Die Hauptgerade des Preussenstadions

Durchaus anerkennenswert ist, dass Nerlich und Friede zwar die Freizeitliga mit ihrem Projekt überspringen, aber sich nicht irgendwo in Liga 6 oder 7 eingekauft haben (wie das mittlerweile gescheiterte Projekt Berlin United vor wenigen Jahren). Stattdessen fängt man tiefstmöglich in der 11.Liga an. Allerdings möchte man sich nicht lange mit dem unteren Ende der Ligapyramide aufhalten und hat eine für die Kreisliga C deutlich überambitionierte Mannschaft zusammenstellen können. Ein gewisses Gerüst bilden dabei in der Kreisliga erprobte Akteure, die zusammen mit ihrem Trainer von den 3.Herren des 1.FC Schöneberg zu Delay Sports gewechselt sind. Doch für die besondere Qualität nicht nur neben, sondern auch auf dem Platz, sorgen Nerlich, Friede und diverse Jungs aus ihrem Freundeskreis und Netzwerk.

Delay Sports vs. Chemie Adlershof

Elias Nerlich kam vor seinem Durchbruch als Influencer regelmäßig in der 6.Liga beim RSV Waltersdorf zum Einsatz und Sidney Friede war gar deutscher Juniorennationalspieler und durfte 2018 bei Hertha BSC einen Profivertrag unterschrieben. Allerdings kam er zu keinem Bundesligaeinsatz und wurde schon in jungen Jahren von schweren Verletzungen zurückgeworfen. Mit den Ex-Profis Kevin Pannewitz und Junior Torunarigha konnten weitere prominente Namen für Delay Sports begeistert werden und Mannschaftskapitän Alieu Sawaneh wechselte vom Regionalligisten FSV Frankfurt nach Berlin. Auch Diyar Acar hat vor kurzem immerhin 6.Liga in Niedersachsen gekickt, bringt aber vor allem seine knapp eine Million Abonnenten bei TikTok mit ins Projekt ein. Da wundert es kaum, dass Delay Sports aus dem Stand heraus mehr Menschen als Hertha oder Union bei Instagram folgen. Noch vor dem ersten Anpfiff der Vereinsgeschichte hatte man über 300.000 Follower auf dieser Plattform mobilisiert, mittlerweile sind es fast eine halbe Million Interessierte.

Es wurde ein fairer, aber umkämpfter Kreisligakick

Die Chance ihre Idole hautnah zu erleben, lockte im Sommer sogleich etliche vorwiegend jugendliche Besucher auf die Berliner Sportplätze der Kreisliga C. Teilweise wurden bei Heim- und Auswärtsauftritten der Delayaner vierstellige Zuschauerzahlen verzeichnet. Ein netter Geldsegen für die kleinen Vereine, jedoch zugleich eine Herausforderung. Zwar hat Nerlich seine eigenen Bodyguards dabei, aber um einen Ordnungsdienst kommt man als Veranstalter trotzdem nicht herum und teilweise sind die Clubs auch auf größere Anlagen ausgewichen, um dem Andrang infrastrukturell gerecht zu werden. Seine Heimspiele trägt Delay Sports wiederum im Preussenstadion des BFC Preussen in Lankwitz aus. Eine in die Jahre gekommene Sportanlage (1938 eröffnet), die ca. 7.000 bis 8.000 Zuschauer fassen könnte, jedoch wegen ihres baulichen Zustands nur noch für maximal 3.000 Spielbesucher zugelassen ist.

Eine Hintertorseite des Preussenstadions hat Ausbau

Heute war tatsächlich nur eine knapp dreistellige Besucherzahl erschienen. Ob die Fans wussten, dass sich die ganz großen Namen im Kader eine Auszeit vom harten Kreisligageschäft gönnen würden? Nerlich, Friede, Pannewitz, Sawaneh, Acar und Torunarigha standen heute alle nicht auf dem Spielberichtsbogen. Die prominentesten Namen an diesem Nachmittag waren Bilal Kamarieh und Michael Kyeremeh, die früher Mitspieler von Sidney Friede im Hertha-Nachwuchs waren und später in den Zweitvertretungen des FSV Mainz 05 bzw. des Hamburger SV auf dem Sprung zum Profi standen. Außerdem dürfte die erste Neugier am Projekt Delay Sports befriedigt sein. Da half auch nicht, dass heute mit Partner adidas der Family Day ausgerufen und in den sozialen Medien beworben wurde. Der Sportartikelhersteller ließ einen alten Doppeldeckenbus durch das Stadion fahren und hatte einen kleinen Pavillon aufgebaut. Gemeinsam verlosten adidas und Delay Sports außerdem im Vorfeld 10 VIP-Tickets für das heutige Spiel. Richtig, hier kann man sogar in der Kreisliga very important sein.

In der 2.Halbzeit nahte der Sonnenuntergang

Bei all der hippen Attitüde wunderte mich schon fast, dass das Catering keinem Streetford Market glich. Nicht mal schwarze Latexhandschuhe trug der Grillmeister, der mir Bratwurst (3 €) und Nackensteak (4 €) zur Stillung meines mittäglichen Hungergefühls reichen durfte. Immerhin stellte ich jetzt fest, dass Werte wie Awareness und Responsibility bei Delay Sports gelebt werden. Um Gerhard Schröders russischen Busenfreund mit den blutigen Händen nicht indirekt bei seinem Raubzug in der Ukraine zu unterstützen, blieb der Gasofen zum Aufbacken der Brötchen heute aus. Passend zu diesem couragierten Zeichen wurde zum Einlaufen der Teams „Heart of courage“ von Two Steps From Hell gespielt.

„Soll ich die Brötchen für den Grillstand eigentlich noch aufbacken?“ „Nö, auftauen reicht…“

Wobei mein erster Gedanke bei dem Musikstück war, ob ich hier bei 11 vs. Wild gelandet bin und die elf „Superstars“ von Delay Sports gleich eine vogelwilde Abwehr überrennen werden. Das kam auf dem Platz allerdings anders. Der SV Chemie Adlershof lieferte buchstäblich eine couragierte Leistung und hielt dem Sturmlauf der Hausherren in der 1.Halbzeit zunächst stand. Jede Parade ihres Tormanns, jede Balleroberung und jeder Vorstoß über die Mittellinie wurde dabei von einem guten dutzend Chemie-Fans gefeiert. Zur Belohnung gab es in der 44.Minute sogar das 0:1 durch Moritz Melchior zu bejubeln. Würde ich Zeuge des ersten Punktverlusts in der Geschichte von Delay Sports werden?

Premiumpartner adidas war mit dem Bus gekommen

Den tapfer kämpfenden Chemikern war das Herbeiführen dieses historischen Moments jedoch nicht vergönnt. Im zweiten Durchgang nutzten die Delayaner ihre Chancen besser und in der 52.Minute glich mit Abdalrahman Shekh Khalil einer der ehemaligen Schöneberger aus. Mit Jeffrey Kania brachte ein weiterer Ex-Schöneberger Delay Sports in der 64.Minute in Führung. Chemie gab zwar weiterhin alles, aber der Tabellenführer ließ sich nun die Butter nicht mehr vom Brot nehmen und in der Schlussminute machte Bilal Kamarieh mit dem 3:1 seine aktuell rund 143.000 Follower auf Instagram stolz. Der gegenwärtig Tabellensechste aus Berlin-Adlershof konnte jedoch erhobenen Hauptes vom Feld gehen und hat der Übermannschaft immerhin ein Viertel der bisherigen Gegentore eingeschenkt.

Das Preussenstadion geht durchaus als Groundperle durch

Ärgster Verfolger ist übrigens der FC Grunewald, der Delay Sports ebenfalls nah am Punktverlust hatte. Die für das Topspiel ins schöne Stadion Wilmersdorf – das mit dem Weinberg (Vgl. Berlin 09/2020) – ausgewichenen Grunewalder bekamen jedoch kurz vor Schluss den Delay-Siegtreffer von Sidney Friede eingeschenkt. Da insbesondere Friede während des Spiels Zielscheibe von etwas Trash Talk wurde, kritisierte Nerlich die Grunewalder im Nachgang öffentlich und sein Fanmob blies daraufhin zum Shitstorm. Die Kommentarspalten der virtuellen Auftritte des FC Grunewald wurden geflutet und der Verein bekam bei Google etliche schlechte Bewertungen. Ein bisher einmaliges Phänomen, auf das man als kleiner Amateurverein sicher noch schlechter vorbereitet ist, als auf 1.000 Spielbesucher.

Sonnenuntergang am Berliner Hauptbahnhof

Ich musste mich nach Spielschluss dann wieder mit jemandem auseinandersetzen, der oft wie ein großer Amateurverein agiert und auf fast alles schlecht vorbereitet wirkt. Von Lankwitz ging es per S-Bahn zum Berliner Hauptbahnhof, wo um 16:47 Uhr ICE 82984 als Ersatz für ICE 544 nach Hannover fahren sollte. Wegen der eingangs erwähnten Streckensperrung fallen zur Zeit alle regulären Fernverkehrsbindungen zwischen Berlin und Hannover aus oder werden wie ICE 82984 ab Stendal über Uelzen umgeleitet. Der Umweg kostete natürlich auch nochmal eine gute Stunde und anstatt die Tickets zu kontrollieren, ging die Zugbegleiterin lieber gleich Fahrgastrechteformulare verteilend durch den ICE. Ich werde natürlich auch etwas Entschädigung beantragen und an den kommenden Wochenenden liefert mein bevorzugter Mobility Partner hoffentlich wieder zuverlässiger ab. Nicht, dass ich noch zum chronischen Bahnbasher mutiere oder irgendwann auf die Idee komme den guten alten Führerschein zu entstauben. Meiner einer am Steuer eines Kraftfahrzeugs könnte allerdings mehr Verkehrschaos als alle Klimakleber der Letzten Generation zusammen verursachen.

Song of the Tour: Aus Protest gibt es trotzdem den für den Chemnitz vorgesehenen Rapklassiker, der mich immer an die ersten Splash-Festivals in Chemnitz-Rabenstein erinnert