Hanau 11/2022

  • 06.11.2022
  • Hanauer SC 1960 – VfR Fehlheim 3:1
  • Verbandsliga Süd (VI)
  • Herbert-Dröse-Stadion (Att: 170)

Am Morgen des 6.Novembers verließ ich Saarbrücken um 8:47 Uhr und sollte gegen 11:30 Uhr mit Hanau meinen vierten und letzten Stopp des südwestdeutschen Wochenendtrips erreichen. Ich kannte Hanau bisher nur als Umstiegsbahnhof, z. B. jüngst bei meinem Besuch der schmucken Stadt Aschaffenburg. Schon bei jenen Umstiegen fiel mir auf, wie unfassbar hässlich der Hanauer Hauptbahnhof ist. Und tritt man aus ihm hinaus, wird es nicht besser. Ich räume es ungern ein, aber die machen Braunschweig in Sachen Hässlichkeit von Bahnhof und Bahnhofsumfeld echt Konkurrenz. Zumal beide Bahnhöfe nicht nur einen fürchterlichen ersten Eindruck der Stadt vermitteln, sondern auch nicht wie anderswo als Tor zur Innenstadt fungieren. In Braunschweig wie Hanau ist das eigentliche Stadtzentrum nochmal 1,896 km vom Hauptbahnhof entfernt.

Durchfahrt durch Frankfurt

Ich sparte mir nun den zwanzigminütigen Spaziergang durch die schmucklosen Häuserschluchten und fuhr mit einem Nahverkehrszug weiter zum Haltepunkt Hanau-West. War mal der klassizistische und 1848 eröffnete Endbahnhof der Bahnlinie von Frankfurt nach Hanau. Heute ist es einfach nur ein bisschen Beton mit Gleisen am Rande der Innenstadt. Auch der stadtseitige Kanaltorplatz vor dem Bahnhof glänzte nicht mit historischer oder wenigtens gepflegter Bausubstanz, sondern hielt eine kleine mit Clochards gesegnete Grünanlage und einen großen Verbrauchermarkt bereit. Dabei stand hier mal das hübsche Kanaltor, nachdem Graf Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg beschlossen hatte ab 1597 die Hanauer Neustadt zu errichten und diese per Kanal an den nahen Main anzubinden.

Brüder-Grimm-Nationaldenkmal

In Richtung Marktplatz wurde es nicht besser. Man merkt schnell, dass Hanau in den 1940er Jahren nahezu vollständig durch alliierte Bomberverbände ausradiert wurde und man an den historischen Plätzen der Stadt immer nur durch Schautafeln an die einstige Pracht erinnert wird. Beim letzten und größten britischen Luftangriff auf Hanau am 19.März 1945 wurden allein 1.200 Tonnen Spreng- und Brandbomben abgeworfen. In der historischen Altstadt blieben gerade mal sieben von rund 450 Häusern übrig und auch die Neustadt wurde großflächig zerstört. Insgesamt verlor Hanau ca. 80 % seiner Bausubstanz und am Kriegsende lebte nur noch ein Viertel der vormals 40.000 Einwohner in der Stadt an Main und Kinzig.

Eine der Skulpturen des Märchenpfads

Heute sind es wieder ca. 96.000 Menschen, die in Hanau leben und vor allem mit Hanau leben müssen. Sehenswürdigkeiten hat die Stadt im Zentrum wirklich nur eine Handvoll. Eine davon ist das zwischen 1725 und 1733 errichtete Neustädter Rathaus (siehe Titelbild). Der Rest der Bebauung am großzügig angelegten Neustädter Marktplatz sind moderne Zweckbauten aus den 1950er und 1960er Jahren. Ursprünglich waren es sogar brutalistische Betonklötze mit Flachdächern, die man aber später mit neuen Fassaden und Mansarddächern etwas aufgehübscht hat.

Denkmal für Graf Philipp Ludwig II. vor der Ruine der Wallonisch-Niederländischen Kirche

Vor dem Rathaus steht außerdem das 1896 enthüllte Brüder-Grimm-Nationaldenkmal. Diese beiden Märchenonkel sind nach Rudi Völler sicher die berühmtesten Söhne der Stadt. Man fragt sich natürlich beim Studium der Kiste der Ehrenbürger Hanaus; wie kann ein so hübscher Mann wie Rudi Völler aus so einer hässlichen Stadt kommen? Und was ist dran an dem Gerücht, dass Netzer oder Delling damals auf Island gesagt haben, dass der Fußball der Nationalmannschaft unter Völler so attraktiv wie dessen Heimatstadt ist und der Teamchef deshalb bei Waldi im Studio komplett ausgerastet ist?

Deutsches Goldschmiedehaus

Auf jeden Fall hat sich das Stadtmarketing überlegt, dass man mit den Gebrüdern Grimm vielleicht irgendwie Touristen in die trostlose Innenstadt locken kann. Sie ersannen sich einen Märchenpfad durch die überhaupt nicht märchenhaften Straßen und Plätze Hanaus. An 10 Stationen stehen seit 2016 von Bildhauern geschaffene Skulpturen, die je ein Grimmsches Märchen thematisch aufgreifen. Als ich die Stationen abgraste, bemerkte ich natürlich zwangsläufig das planmäßige und schachbrettartige Straßennetz der Neustadt. Graf Philipp Ludwig II. hatte die Neustadt seinerzeit für reformierte Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und den damals spanischen Niederlanden errichten lassen. Die französischen, wallonischen und flämischen Zugezogenen verdingten sich u. a. als Goldschmiede, Tuchmacher und Weber und verhalfen Hanau zukünftig zu Wohlstand.

Künstliche Burgruine im Staatsbad Wilhelmsbad

In der Altstadt, der historischen Keimzelle des 1143 erstmals urkundlich erwähnten Hanaus, prägen wiederum unregelmäßig angelegte mittelalterliche Gassen das Stadtbild. Aber an historischer Bausubstanz sind auch dort nur das Altstädter Rathaus (heute Deutsches Goldschmiedehaus), die Marienkirche (mit der Gruft der Hanauer Grafen) und ein paar Nebengebäude des früheren Residenzschlosses erhalten. Entsprechend musste ich mich auch hier nicht lange aufhalten und orientierte mich gegen 13 Uhr in den Stadtteil Wilhelmsbad. Dort befand sich nämlich nicht nur Hanaus heimliches Kleinod namens Herbert-Dröse-Stadion, sondern auch der Staatspark Wilhelmsbad.

Bei meinem Besuch war Martinsfest in der ehemaligen Kuranlage

In jenem Staatspark wird eine zwischen 1764 und 1785 errichtete schlossartige Kuranlage von einem weitläufigen Landschaftspark umgeben. Allerdings versiegte die vermeintlich gesundheitsfördernde Mineralquelle bereits 1815 und die Anlage wandelte sich im frühen 19.Jahrhundert zu einem Vergnügungs- und Erholungsort für die Hanauer. Heute beherbergen die Gebäude der ehemaligen Kuranlage u. a. das Hessische Puppenmuseum. Die betuchtesten Bürger der Stadt bauten außerdem ihre Villen angrenzend an die Parkanlage. Aber keine Ahnung, ob da heute immer noch der Geldadel haust. Denn wer wirklich reich ist, kann sich natürlich auch leisten woanders als in Hanau zu leben.

Die Pyramide im Wilhelmsbader Landschaftspark

Nichtsdestotrotz, Wilhelmsbad ist schon ganz nett. Und wenn wir gerade dabei sind ein bisschen Ehrenrettung für das hässliche Hanau zu betreiben, erwähne ich außerdem noch das barocke Schloss Philippsruhe als potentielles touristisches Ziel im Westen der Stadt. Aber dafür fehlte mir heute die Zeit. Ebenso für den Stadtteil Steinheim (ehemals eigenständige Stadt), der mit kleiner erhaltener Altstadt nicht weltbewegend hübsch, aber halbwegs ansehnlich sein soll. Außerdem streuten auf die Hässlichkeit ihrer Heimat angesprochene Hanauer mir gegenüber das Gerücht, dass Offenbach noch schlimmer sei. Ich werde das irgendwann mal nachprüfen und auf dieser Plattform berichten.

Willkommen im Herbert-Dröse-Stadion

Doch nun zum Hauptgrund meines heutigen Abstechers nach Hanau; 14 Uhr empfing der Hanauer SC 1960 den VfR Fehlheim. Erster gegen Dritter und somit Spitzenspiel der hessischen Verbandsliga Süd (6.Liga). Dort wurde nicht nur mein unersättlicher Hunger nach Fußball gestillt, sondern auch das Mittagessen nachgeholt. Drei Köfte mit Salat im Fladenbrot (6 €) und eine Rindswurst im Fladenbrot (3,50 €) erfüllten den Job zu meiner Zufriedenheit.

Köfte im Fladenbrot

Das Speisenangebot deutet bereits auf einen vorderasiatischen Migrationshintergrund eines Großteils der Aktiven beim Hanauer SC hin. Tatsächlich hat die kurdische Gemeinde der Stadt dem Verein, der 1960 von eine paar jungen Straßenfußballern in der Werkssiedlung der Dunlop-Werke gegründet wurde, in den vergangenen 20 Jahren ihren Stempel aufgedrückt. Der HSC, der in seinen ersten 40 Jahren nie über die B-Klasse hinauskam, litt zur Jahrtausendwende unter Mitgliederschwund und stand kurz vor der Auflösung. Die teilweise kurdischstämmigen Kicker der damaligen Fußballmannschaft organisierten nun in ihrem Umfeld neue Mitglieder, Sponsoren und Ehrenamtliche.

Die Haupttribüne des Stadions

Mit der Zeit wurde der optische Auftritt des Vereins (Vereinswappen und Clubfarben) an die nun kurdische Prägung angepasst und zugleich ging es sportlich aufwärts mit dem HSC. 2005 wurde der erste Aufstieg in der Vereinsgeschichte gefeiert und 2009 verließ man die A-Klasse in Richtung Kreisoberliga. Dort wurde man bereits 2014 Meister und zog in die siebtklassige Gruppenliga Frankfurt Ost ein. Nach zwei Jahren Gruppenliga folgte 2016 der Sprung in die Verbandsliga Süd, in welcher man sich schnell etablierte und der kurdische Adler in dieser Saison zum nächsten Höhenflug ansetzt. Ein Aufstieg in Hessens höchste Spielklasse und die damit verbundenen Derbys mit dem Traditionsverein FC Hanau 93 (Hessens ältester Fußballverein und Gründungsmitglied des DFB) wären natürlich ein Fest für alle Mitglieder und Freunde des HSC.

Die imposante Gegengerade

Ein Heimsieg gegen den aktuellen Tabellendritten käme den Ambitionen gelegen und zunächst stellte der VfR aus Fehlheim die seit 14 Spielen ungeschlagenen Hanauer vor keine all zu große Herausforderung. Die Gäste mauerten und der HSC machte das Spiel im 1951 eröffneten und bis zu 16.000 Zuschauer fassenden Herbert-Dröse-Stadion. Heute kam man freilich nur auf ca. 1 % Stadionauslastung, aber etwaige Derbys in der Hessenliga dürften mal wieder eine vierstellige Zuschauerzahl ins altehrwürdige Rund zaubern. Denn das schaffte man bereits vor ein paar Jahren, als der FC Hanau 93 – der heutzutage die Heinrich-Sonnrein-Sportanlage als Heimstätte nutzt – für ein Derby in der Verbandsliga an seine sportliche Heimat der Jahre 1951 bis 1999 zurückkehrte.

Die Hanauer beim Eckstoß

Das erste Tor des Tages fiel in der 24.Minute. Shelby Printemps, dessen Haarpracht mich an Til Schweigers Kurzauftritt in BangBoomBang erinnerte, passte quer auf Aret Demir und der Ex-Regionalligaspieler schob souverän aus kurzer Distanz ein. Das sah zu einfach aus und bereits zwei Minuten später erhöhten die Hanauer auf 2:0. Diesmal schlüpfte der quirlige Demir in die Rolle des Torvorbereiters und bediente seinen Mitspieler Ronaldo Dos Santos Ferreira mustergültig. Dieser Ronaldo, der bei den Kickers Offenbach die Jugendabteilung bis zur U19 durchlief, sollte bis zur Pause noch mehrfach das 3:0 auf dem Fuß haben und war mit seiner Technik und Spielfreude definitiv der herausragendste Akteur auf dem Platz.

Noch eine Rindswurst zum Abschied

Nach dem Seitenwechsel zappelte allerdings der erste richtige Torschuss der Fehlheimer im Netz (Evangelos Politakis, 60.Minute) und plötzlich witterten die Gäste aus dem Kreis Bergstraße doch die Chance auf zumindest eine Punkteteilung beim derzeitigen Klassenprimus. Printemps und Ronaldo hatten weiterhin Pech an Füßen und irgendwie wirkte der HSC die letzte halbe Stunde nervös und anfällig. Als 90 Minuten rum waren, hatte ein Fehlheimer auch tatsächlich noch das 2:2 auf dem Fuß, aber scheiterte an einem starken Reflex des HSC-Schlussmanns Meurer-Camacho. Es folgte eine lange Nachspielzeit, ehe der eingewechselte Danny Kardioglu in der 7.Minute jener Extra Time das erlösende 3:1 markierte, dem auch prompt der Schlusspfiff folgte.

Hanau Hauptbahnhof

Auch für mich das Signal zum Aufbruch. Es ging zurück zum Hauptbahnhof und von dort per ICE wieder nach Hildesheim. Eine Heimatstadt, die auch ihre Bausünden und Schmuddelecken hat, aber im Vergleich zu Hanau natürlich wie der Vorhof des Paradieses wirkt. Hanau, du bist hässlich, aber für andere Städte eine schöne Sache.

Song of the Tour: Hanau ist so hässlich, so grässlich hässlich