Kiel 11/2022

  • 11.11.2022
  • KSV Holstein – Hannover 96 1:1
  • 2.Bundesliga (II)
  • Holstein-Stadion (Att: 13.744)

Zum Auswärtsspiel bei der KSV Holstein war die Abfahrt des von der Fanszene organisierten Sonderzugs leider nicht mit meinen Arbeitszeiten zu vereinbaren und Urlaubstage hat der Don in 2022 bekanntlich keine mehr. Stattdessen brachte mich die DB nach Feierabend pünktlich, aber unspektakulär nach Kiel (58 € return). Exakt 17 Uhr betrat ich den Boden der Fördestadt und 90 Minuten vor Anpfiff hatte es keinen Sinn noch irgend etwas Touristisches anzugehen. Da das Kalenderblatt heute den 11.November offenbarte, wäre natürlich ein kleiner Laternenumzug zum Stadion fesch gewesen. Aber ich hatte meine Martinslaterne im Design eines greisen Hörgeräteakustikermeisters leider daheim vergessen und außerdem würde die Fanszene des Hannoverschen Sportvereins sicher noch für genug Rabimmel, rabammel, rabum am heutigen Abend sorgen.

Die Förde am Abend

Stattdessen ging es mit einem Shuttle vom Hauptbahnhof zum 4,96 km entfernten Holstein-Stadion im Stadtteil Wik. Von der viertelstündigen Fahrt blieb insbesondere die Einschätzung einer Kielerin zu Ron-Robert Zieler hängen: „Habt ihr die Zusammenfassung von Hannover gegen Düsseldorf gesehen? Wahnsinn, was der Zieler alles gehalten hat. Der ist gigantisch gut. Heute ist nicht Holstein gegen Hannover, heute ist vor allem Holstein gegen Zieler!“ entgegnete sie ihren Freunden. Auch ich war gespannt, ob Zieler, der völlig überraschend nicht von Hansi Flick für die WM in Katar nominiert wurde, seine Topform weiter konservieren kann und heute vielleicht einen Sieg oder wenigstens einen Auswärtspunkt festhält.

Auch ’ne schöne Martinslaterne

Knapp eine Stunde vor Anpfiff stand ich vor dem 1911 eröffneten Holstein-Stadion. Ein Jahr später feierte der Nutzer der Anlage bereits den größten Erfolg der Vereinsgeschichte. 1912 schlug Holstein Kiel den Karlsruher FV im Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft mit 1:0. Holstein zählte in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts zur norddeutschen Fußballelite und war bis zur Gründung der Bundesliga im Jahre 1963 konstant erstklassig gewesen. In den kommenden Jahrzehnten entfernte man sich jedoch mehr und mehr von der nationalen Spitze und rutschte bis in die 4.Liga ab. Während sich Kiel in der 1980er Jahren zu einer Handballhochburg entwickelte und THW Kiel in den 1990er Jahren schließlich einen Titel nach dem anderen an die Förde holte, verliefen sich im Schnitt nur noch ein paar hundert Unentwegte zu den Fußballspielen des KSV Holstein.

Storch Stolle heizt das Publikum ein

Erst 2017 kehrten die Störche nach 36 Jahren Abstinenz in die 2.Bundesliga zurück und begeistern mittlerweile wieder fünfstellige Zuschauerzahlen im Holstein-Stadion. Jenes Stadion musste natürlich nach Jahren der baulichen Zurückhaltung an die Auflagen des zeitgenössischen Profifußballs angepasst werden und an meinen Erstbesuch im Jahr 2004 erinnerte nur noch die modernisierte, aber im Wesentlichen erhalten gebliebene Haupttribüne (Baujahr 1950). Ich hatte mir allerdings von einem Bekannten mit KSV-Mitgliedschaft einen schönen Sitzplatz mittig hinter dem Tor auf der Osttribüne buchen lassen (Danke nochmal!). Damit befand ich mich zwar auf der größten Tribüne des Stadions (3.960 Stehplätze im Unterrang und 2.814 Sitzplätze im Oberrang), aber es handelt sich dennoch nur um eine provisorische Stahlrohrtribüne. So wie auch die neuen Tribünen im Westen und Norden nicht für Ewigkeit gebaut sind.

Die Heimkurve macht aktuell noch Halbgas

Es musste halt schnell gehen, um die Anforderungen der DFL zu erfüllen. In naher Zukunft sollen dann nach und nach alle vier Tribünen neu gebaut werden und am Ende sehen die Pläne bis zu 25.000 Zuschauerplätze vor (aktuell 15.034). Die Lieferengpässe und die allgemeine Kostenexplosion ließen den für dieses Jahr geplanten Baubeginn jedoch erstmal platzen. Mal sehen, ob 2023 die Bagger anrollen oder ob die KSV-Fans noch wesentlich länger als gedacht mit einem Provisorium leben müssen. Allerdings gab es die Lizenz wegen des Stadionzustands schon diese Saison nur mit Auflagen und somit stehen Stadt und Verein unter Druck. Die DFL erwartet jedenfalls, dass spätestens im Sommer 2023 der Baubeginn erfolgt. Sonst keine Lizenz für die Saison 2023/24.

Fans aus Hannover…

Sportlich muss sich der KSV dagegen zur Zeit keine Sorgen machen. Man steht auf einem soliden 8.Platz und hätte mit einem Heimsieg am heutigen 17.Spieltag sogar mit Tuchfühlung zu den Aufstiegsplätzen in die längste Winterpause aller Zeiten gehen können. Die Schlagdistanz zu jenen Aufstiegsplätzen wollte auch 96 wahren und dazu wären drei weitere Punkte und somit die Verteidigung von Rang 4 in der Tabelle formidabel gewesen. Ein erstklassiges Feuerwerk erwartete den Zuschauer allerdings eher auf den Rängen, denn auf dem Rasen. Um 18:27 Uhr entzündeten die Vermummten unter den Fußballfreunden aus Hannover die ersten Rauchfackeln in ihren Vereinsfarben. Es folgten Bengalos und Blinker. Ungefähr vier Minuten qualmte, zischte, leuchtete und blitzte es im restlos ausgelasteten Gästesektor. Begleitet mit in brachialer Lautstärke vorgetragenen Gassenhauern aus dem 96-Liederbuch (siehe auch Video).

…bitte unterlasst das Abbrennen von Feuerwerkskörpern…

Die Mitgereisten hatten richtig Bock und vor allem schien jeder Stadionbesucher aus Niedersachsen im Durchschnitt einen pyrotechnischen Gegenstand durch die Sicherheitskontrolle geschleust zu haben. Es sollte nämlich die kommenden 90 Minuten fast durchgehend im Gästesektor lodern. Die Hauptaufgabe des Stadionsprechers bestand deshalb heute darin, unermüdlich die gleichen Textbausteine zur Befriedigung der DFL aufzusagen. Da war das 1:0 durch Fin Bartels in der 9.Minute sicher eine willkommene Abwechslung für ihn. Er konnte nun mit dem Publikum das Tor zelebrieren und hoffte wahrscheinlich, dass die Heimkurve nicht auch noch spontan ein paar Freudenfeuer entzündet.

…ihr gefährdet Eure Gesundheit…

Aber die Kieler Szene besteht zur Zeit buchstäblich aus gebrannten Kindern. Die hatten am 9.September gegen den Hamburger SV ordentlich gefackelt und dem KSV damit eine Sportgerichtsstrafe in Höhe von 34.200 € eingehandelt. Der Verein rief seine „wahren“ Fans nun zum Denunzieren der Pyromanen auf und verbot der Szene u. a. den Infostand und das Verteilen ihrer Spieltagsflyer im Holstein-Stadion. Als Reaktion stellte die Szene vorerst alle Aktivitäten auswärts wie heim ein. Es folgten jedoch offenbar fruchtbare Dialoge zwischen den aktiven Fans und dem Präsidium, so dass man 29.Oktober wieder ins Stadion zurückkehrte. Allerdings ist es vorerst noch keine uneingeschränkte Rückkehr und auch heute hing lediglich das Banner der Dachgruppe Block 501 vor dem Fanblock, während alle anderen Gruppen noch auf ihren optischen Auftritt verzichten oder wie im Falle der Gruppe Campagno weiterhin ganz fernbleiben.

…und die Gesundheit von anderen…

Nach dem Ausgleich durch Cedric Teuchert in der 16.Minute natürlich ein ganz anderes Bild. Die Schlachtenbummler aus Hannover zündeten abermals etliche Martinsfeuer und der Stadionsprecher erinnerte daran, dass jemand, der heute Namenstag feiern darf, demnächst auch wieder eine Zahlungsaufforderung der DFL im Postfach haben wird. Aber die Ultras sind eben der Meinung, dass dieser Verein es verdient hat pyrotechnisch begleitet zu werden. Es ist nunmal ihre Art der Fankultur und zum Glück ist Martin Kind jemand, der öffentlich darum wirbt andere Kulturen zu respektieren. So bat er jüngst in den Medien um Respekt gegenüber den viel gescholtenen Kataris: „Diese Länder haben eine ganz andere Geschichte und Kultur, das haben wir zu respektieren. Wir sind doch nicht die Herren der Welt! […] Sie haben es verdient, dass diese WM positiv begleitet wird.“

…außerdem schadet ihr Eurem Verein…

Die aktive Fanszene sieht das wenig überraschend ganz anders und nach etlichen Spruchbändern beim vergangenen Heimspiel gegen Fortuna Düsseldorf, hatte heute Herritours Hannover nochmal folgendes im Gepäck: „Tod + Geld als Ideal? Diese WM ist nur fatal! Boycott Qatar!“ Ich habe das Gefühl, dass zur Zeit auch außerhalb meiner woken Bubble kein großes WM-Fieber herrscht. Aber mal sehen, ob die Einschaltquoten wirklich spürbar sinken oder ob der untypische Ort und Zeitraum, nebst den kritischen Nebengeräuschen, halt einfach für einen eher defensiven Umgang mit dem Turnier sorgen, aber am Ende doch die meisten aus Interesse oder Gewohnheit den Fernsehen einschalten.

… Und wenn es schon Verletzte geben sollte…

Rund 6.000 Kilometer von den Austragungsstätten des FIFA World Cup Qatar 2022 entfernt, ging es leistungsgerecht mit 1:1 in die Halbzeitpause. Da durfte auch der Stadionsprecher mal durchschnaufen. Allerdings bereiteten die Gästefans bereits die nächste große Aktion vor. Heute waren rund 40 Freunde aus Stockholm anwesend und die nun schon lange gelebte Freundschaft zwischen Fans von AIK und 96 sollte nicht nur mit einer neuen Schwenkfahne gefeiert werden, bei welcher die Insignien der Ultras Hannover und der Ultras Nord zusammengefügt wurden. Auch feierten die 2002 gegründeten Ultras Nord dieses Jahr einen runden Geburtstag. Da kann, nein muss man nochmal nachträglich in einem würdigen Rahmen gratulieren.

…dann wendet Euch an den Ordnungsdienst…

Zum Wiederanpfiff prangte deshalb ein ca. 20 m langes Glückswunschbanner für die Schweden in ihren Clubfarben am Zaun und obendrein wurden 20 übergroße und golden leuchtende Geburtstagskerzen entzündet (siehe auch Video). Der Stadionsprecher gratulierte nicht, aber erinnerte uns abermals daran, dass es für den Lizenznehmer Hannover 96 KGaA ein teurer Martinstag wird. Zumal „Dort oben leuchten die Sterne und unten leuchten wir“ auch die kommenden 45 Minuten das passende Leitmotiv der hannoverschen Szene blieb. Das zum traditionellen Brauchtum am 11.November gehörende gemeinsame Singen von Liedern kam ebenfalls weiterhin nicht zu kurz. Lautstärke, Abwechslung und Mitmachquote waren einmal mehr gut bis sehr gut. Zumindest auswärts darf die aktive Szene auf eine sehr starke Hinrunde zurückblicken.

…oder an die eingesetzten Sanitäter…

Sportlich war es natürlich auch eine gute Runde. Die heutige Abschlusspartie endete dabei als leistungsgerechte Punkteteilung, womit man ganz im Geiste des heilig gesprochenen Martin von Tours auseinander ging. Aber auch ein anderer Martin, der wahrscheinlich weder seinen Mantel, noch irgendwas anderes gerne mit seinen Mitmenschen teilen möchte, aber trotzdem von der Lokalpresse seit zwei Jahrzehnten hagiographiert wird, dürfte zufrieden sein. Nach seinen ganzen Fehlentscheidungen der letzten Jahre, scheint er mit Marcus Mann und Stefan Leitl endlich mal wieder gute Griffe getätigt zu haben. Auch wenn der am 17.Spieltag siegreiche 1.FC Kaiserslautern sich noch vor die Roten Riesen auf Platz 4 geschoben hat, 28 Punkte sind eine gute Hinrundenausbeute für Hannover 96. Muss Martin Kind nur noch damit aufhören, die 96-Lizenz bei der DFL zu gefährden. Dann könnte man als Fan eigentlich recht optimistisch in die nahe sportliche Zukunft blicken.

…Danke!

Da ich für die Rückfahrt die erstbeste Verbindung um 21:02 Uhr gebucht hatte, bestieg ich kurz nach Abpfiff einen der ersten Schuttlebusse zum Kieler Hauptbahnhof. Es blieb dennoch Zeit ein paar Biere am Bahnhof zu erwerben. Denn meine hoffentlich lückenlose Buchführung hatte mir heute Spielbesuch Nr. 500 mit Beteiligung der 1.Mannschaft des Hannoverschen SV von 1896 offenbart. Darauf musste natürlich in geselliger Runde angestoßen werden und erfreulicherweise waren entsprechende Top Lads mit im Zug. Übrigens Leute, denen gegenüber ich das kleinste Laternenlicht war (teilweise über 1.000 96-Spiele als bisherige Lebensleistung). Für so viel Prominenz stand ICE 1689 natürlich gerne 10 Minuten länger am Hamburger Hauptbahnhof, so dass wir trotz Verspätung unseren Anschluss nach Hannover bekamen. So war ich bereits gegen 1 Uhr im Bett und wenige Stunden später ausgeschlafen genug, um am Samstag ins Emsland zu fahren. Aber dazu an anderer Stelle mehr.

Song of the Tour: Die Einlaufmusik der Kieler Sportvereinigung Holstein