Darmstadt 11/2022

  • 04.11.2022
  • Darmstadt 98 – Hannover 96 1:0
  • 2.Bundesliga (II)
  • Stadion am Böllenfalltor (Att: 15.475)

Das Auswärtsspiel der Roten Riesen bei den Lilien wollte ich mir gerne geben. Allein schon, um mal wieder zusammen mit meinem einstigen Mitbewohner aus Darmstadt das Glas zu erheben und mich zu versichern, dass er weiterhin ein Nichtzecher ist. Allerdings waren meine Urlaubstage für das Jahr 2022 bereits aufgebraucht und so konnte ich an jenem Freitag frühestens ab 14 Uhr eine Verbindung wählen. Immerhin fuhr der erstbeste ICE nach Darmstadt um 14:01 Uhr in Hannover ab und sollte planmäßig um 17:35 Uhr in der Heinerstadt ankommen. Eine großartige Verspätung durfte sich ICE 1671 natürlich nicht erlauben und Freitagnachmittag sind pünktliche Fernverkehrszüge traditionell die Ausnahme. Aber was blieb mir anderes übrig, als auf eine mir gewogene Glücksgöttin zu hoffen?

Mein Zimmer für eine Nacht

Am Bahnsteig waren nun auch keine weiteren erkennbaren Schlachtenbummler aus Hannover auszumachen, die das Wagnis der letztmöglichen Verbindung vor Anpfiff eingingen. Aber wenigstens hatte der in der 2.Klasse dennoch ausgebuchte ICE die Messe- und Expostadt nur mit +5 Minuten verlassen. Bis Kassel waren wir sogar wieder on time und wenig später realisierte ich, dass ich einen RegionalExpress im ICE-Outfit gebucht hatte. Der Zug fuhr in Hessen auf einer Nebenstrecke und hielt alle paar Minuten an Bahnhöfen wie Wabern, Treysa oder Friedberg. Aber war ja alles planmäßig und daher kein Problem. Letztlich war der ICE um 17:40 Uhr in Darmstadt und elf Minuten später sollte der nächste Bus zum Stadion fahren. Da blieb sogar noch Zeit für den Check-in im InterCityHotel (****) am Darmstädter Hauptbahnhof (75 € für eine Nacht im EZ).

Einlasssituation fünf Minuten vor Spielbeginn

Anschließend ging es im Bus zum Böllenfalltor. Ich war etwas stutzig, dass kaum jemand im Bus saß und keiner der Insassen Fankleidung trug. Aber das lag wohl daran, dass der Bus nicht wie von mir vermutet direkt zum Stadion fuhr, sondern zu einer 500 Meter entfernten Haltestelle namens Böllenfalltor. Na ja, nichtsdestotrotz war ich 18:10 Uhr am Stadioneingang. Leider ist die neue Haupttribüne des Stadions am Böllenfalltor noch nicht vollständig fertiggestellt, so dass man aktuell das Gros der Heimfans durch den Eingang an der Lilienschänke schleust. Die Schlange war elendig lang und es ging kaum voran. Akute Angst die Pyroshow der mitgereisten 96-Anhänger zu Spielbeginn zu verpassen, ließ mich zu unsauberen Tricks greifen und wenig später stand ich schon mal recht weit vorne.

Schönes Intro im Gästeblock

Da sah ich nun das Dilemma. Nicht nur, dass der Eingang baulich nicht für tausende Besucher binnen kurzer Zeit geeignet ist, auch waren da nur fünf Ordner eingesetzt, die erst die Tickets scannten und dann wirklich penibel und mit einer Seelenruhe jeden Stadionbesucher von Kopf bis Fuß durchsuchten. Es ging also weiterhin kaum voran. Erst um 18:28 Uhr entschied jemand mit Verantwortungsgewalt sinnvollerweise, dass die ganzen Rentner, Frauen, Kinder und Schneppes mit Haupttribünenkarten vielleicht gar nicht so potentiell gefährlich sind. Plötzlich wurde man regelrecht durchgewunken, anstatt kontrolliert und um exakt 18:30 Uhr betrat ich die Ränge und sah sogleich einen rot lodernden Gästeblock. Hinter schicken Doppelhaltern, die den Namen der niedersächsischen Landeshauptstadt ergaben, war einiges entzündet worden.

Keine wolkenlose Nacht in Darmstadt

Auch die Heimseite bot etwas für’s Auge und die Kameralinse. Die Underdogs feierten heute den 7.Geburtstag ihrer Fangruppe. Dazu hatten sie das Stadtwappen Darmstadts, ihr Gruppenlogo und das Vereinswappen des SVD am Tribünendach hochgezogen. Unterlegt wurden die Motive mit Papptafeln in den Vereinsfarben und als Höhepunkt schossen hinter der Tribüne einige Feuerwerksraketen in den Nachthimmel (siehe Video). Wenn die Pyrotechnik außerhalb des Stadions gezündet wird, kann die DFL auch keine Strafe verhängen, so das Kalkül. Die Hannover 96 KGaA darf sich dagegen definitiv auf einen weiteren Kostenbescheid von der DFL freuen.

Choreographie der Underdogs Darmstadt

Dann wurde ich Zeuge eines spannenden Spiels, welches beide Fanszenen mit gefälliger Stimmung begleiteten. Nachdem in der Anfangsphase des Spiels auf beiden Seiten die ersten Chancen nicht verwertet werden konnten, wurde es in der 24.Minute erstmals richtig emotional. Darmstadts Dauerbrenner Tobias Kempe hatte einmal mehr seine gute Schusstechnik aus der zweiten Reihe unter Beweis gestellt und der Ball zappelte in der 24.Minute im Netz. Das südhessische Publikum war entsprechend aus dem Häuschen und für mich erstmals lauter als die mitgereisten Gäste wahrnehmbar (aber ich saß zugegebenermaßen natürlich besonders günstig im Schallfeld des Gästeblocks). Jedoch intervenierte der VAR in den Torjubel und beim Videostudium erkannte auch Spielleiter Benjamin Cortus eine Abseitsstellung bei der Torentstehung. Ergo blieb es beim 0:0.

Das frisch modernisierte Stadion am Böllenfalltor

Nur vier Minuten später erfolgte der nächste Aufreger. Nach einem Eckstoß von Kempe kam Müller im Strafraum zum Schuss, doch Hannovers Neumann konnte blocken. Alle Lilien reklamierten Handspiel und wieder griff der VAR ein. Cortus schaute sich die Szene nochmal an, zeigte auf den Punkt und erteilte Neumann einen Platzverweis. Zum fälligen Strafstoß trat nun Kempe an. Doch dem Aufstiegshelden von 2015 (Vgl. Darmstadt 05/2015) und sonst so sicheren Schützen versagten die Nerven. Zieler ahnte die Ecke und parierte. Ausgerechnet Ron-Robert Zieler, in dessen langer Torwartkarriere die Erfolgsquote bei Elfmetern bisher äußert bescheiden ausfiel. Aber er spielt einfach die Saison seines Lebens. Wie gut, dass Martin Kind mit seinem Versuch den guten Ron-Robert 2020 vom Hof zu jagen nicht durchkam.

Zieler ahnt die Ecke

Die Überzahl und der Frust über den verschossenen Strafstoß mündeten bei Darmstadt in einen kleinen Sturmlauf bis zum Pausenpfiff, doch neun defensiv aufmerksame Feldspieler und ein überragender Tormann aus Hannover ließen die Angriffe ins Leere laufen. Es ging also torlos in die Pause und zu Beginn der 2.Halbzeit profitierte ich von meinem speziell für die beiden Pyroshows der Gästefans gebuchten Platz auf der halbfertigen Haupttribüne. Ich saß ziemlich genau zentral gegenüber vom Gästeblock und erfreute mich am Ploppen und Zischen, als zum Wiederanpfiff etliche grün leuchtete Fackeln von den mitgereisten Ultras entzündet wurden (siehe auch Video).

Der Fackelei zweiter Akt

Der so enthusiastisch empfangenen Gastmannschaft standen nun natürlich weitere 45 Minuten in Unterzahl bevor. Meine Resthoffnung auf einen Auswärtssieg skizzierte sich wie folgt: Mit viel Einsatz und dem nötigen Quentchen Glück die Offensive der Lilien zum Verzweifeln bringen und kurz vor Schluss gelingt bei einem Konter der Lucky Punch. Doch bereits in der 63.Minute erzielte der 1898 gegründete Gastgeber das wichtige 1:0 gegen den zwei älteren Sportverein aus Hannover. Nach einem Eckstoß war Marvin Mehlem mit einem platzierten, wie sehenswerten Schuss aus der zweiten Reihe erfolgreich. Alberto Colucci dröhnte aus den Boxen und alle Lilien lagen sich in den Armen.

Der Fanblock der Darmstädter

Wer nun dachte, dass die Messe gelesen sei, wurde jedoch eines besseren belehrt. Wie ein souveräner Tabellenführer agierte Darmstadt 98 in der kommenden halben Stunde nicht gerade. Die Chancen zum 2:0 wurden fahrlässig liegen gelassen und in der Schlussphase witterte 96 sogar nochmal Morgenluft und kam zu Möglichkeiten zum Ausgleich. Der 96-Anhang pushte die Herzensmannschaft dabei leidenschaftlich nach vorne und bei den Heinern wurde es teilweise auch gut laut. Insbesondere das „Allez les bleus“ schepperte ganz ordentlich durch die traditionsreiche, aber mittlerweile zwangsläufig modernisierte Spielstätte aus dem Jahre 1921.

Trotz Unterzahl kam 96 noch zu Chancen

Die Szene des SVD wird wahrscheinlich einerseits der Patina des alten Bölle nachtrauen, andererseits wird man die besseren Bedingungen für sein Kerngeschäft Stimmung begrüßen. Nun ist man näher am Spielfeld und ein Dach über den Köpfen sorgt bekanntlich für deutlich bessere Akustik. Obendrein wurde wenigstens der alte Standort erhalten und kein steriler Baukasten auf die grüne Wiese gestellt. Übrigens schaute die Heimkurve am heutigen Abend zweimal über den Tellerrand jenes Standortes. Zum einen hatte man die URL http://www.playoffs-nein.ch auf Tapete gepinselt (womit man die Position der Freunde aus Bern zur geplanten schweizerischen Ligareform unterstützt). Zum anderen drückte man mit dem kurdischsprachigen Spruchband „jin jiyan azadi“ (Frauen, Leben, Freiheit) Solidarität mit den gegenwärtigen Protesten im Iran und den Opfern der dortigen Staatsgewalt aus.

Verabschiedung der kämpferisch überzeugenden 96-Equipe

Doch schauen wir nun wieder auf besagten Teller. Auch wenn es heute nicht das gute Porzellan war, bekamen die Heimfans von ihrer Mannschaft am Ende den ersehnten Heimsieg serviert. Die knapp 14.000 Hessen feierten nun die Verteidigung der Tabellenführung, während die Gastmannschaft von den rund 1.500 mitgereisten Roten mit aufmunterndem Applaus bedacht wurde. Dann machten sich allerdings offenbar noch ein paar anwesende Bremer bemerkbar und ihnen galt noch ein paar Minuten die volle Aufmerksamkeit des eigentlich schon im Abmarsch begriffenen Gästemobs. Die immer intimer werdende Liaison zwischen Lilien und Fischköppen sorgt mittlerweile doch für gewisse Brisanz bei Ansetzungen zwischen Hannover 96 und Darmstadt 98. Zumal Bremer und Darmstädter im Februar dieses Jahres gemeinsam die 96-Vereinsgaststätte in der Stammestraße überfallen hatten.

Auf zum Ratskeller

Frei von jeglichen Überfallabsichten zog es mich nach Spielende in den zum Bersten gefüllten Darmstädter Ratskeller. Dort im Herzen der Stadt war ich mit meinem ehemaligen Mitbewohner (S.) und einem gemeinsamen Freund aus Hannover (A.) verabredet. Wir hatten uns natürlich einiges zu erzählen und bei drei subkulturell veranlagten Menschen ging es nicht zuvorderst um eine Spielanalyse. Zumal meine beiden Freunde am Vorabend zusammen einen Gig der britischen Rockformation The Libertines in Frankfurt besucht hatten. Deren Debüt Up the Bracket feiert 20.Geburtstag und deshalb haben sich Pete Doherty & Co wieder zusammengetan und schrammeln zur Zeit in diversen Konzerthallen des Kontinents die 14 Tracks des Debütalbums rauf und runter. Zu gerne wäre ich mit auf’s Konzert gegangen, aber wie eingangs erwähnt; der Don hat 2022 leider keine Urlaubstage mehr.

Kochkäse mit Musik

Neben diversen Rutschen Bier gab es zumindest für S. und mich auch die lokale Spezialität Kochkäse mit Musik auf den Tisch. Mundete sehr und trug wahrscheinlich dazu bei, dass S. und ich länger als A. durchhielten. Aber wir ersetzten den abtrünnigen A. wenig später durch einen anderen Hannoveraner mit guter Kompetenz am Glas. Irgendwann gegen Mitternacht musste auch S. seinen Scheidebecher ausrufen, aber er ist eben ein südhessischer Nichtzecher und steht unumwunden zu seinem Defizit. Für seine Verhältnisse hat er sich heute sogar teuer verkauft. Ansätze sind doch irgendwie vorhanden. Er hätte einfach länger als zwei Jahre in Hildesheim und Hannover leben müssen, dann hätten wir die begonnene Bosstransformation erfolgreich abschließen können.

Tierisch am Zechen

Wir zwei verbliebenen norddeutschen Gäste stockten die Runde einfach mit einer Darmstädterin auf, so dass der Kellner weiterhin immer drei Krüge bringen durfte. Machte er noch bis 1 Uhr nachts, doch dann sollte der Ratskeller seine Pforten schließen. Meine Gesellschaft schien weiterhin motiviert für’s Darmstädter Nachtleben, aber mich muss S. mit seiner Nichtzecheritis angesteckt haben. Die Umarmung zum Abschied war einfach ein Fehler, der meinen 1,312 Promille zu diesem Zeitpunkt geschuldet war. Auch wenn 400 Centiliter Bier in 200 Minuten halbwegs okay waren, verabschiedete ich mich mit ein bißchen Schamgefühl gegen 1:30 Uhr in mein 1,896 Meter entferntes Hotel. War nichtsdestotrotz ein netter Abend mit alten und neuen Bekannten.

Song of the Tour: Wenn ich schon nicht mit auf’s Konzert konnte, nehme ich natürlich erst recht keinen Song von Up the Bracket