Wiesbaden 03/2024

  • 09.03.2024
  • SV Wehen-Wiesbaden – Hannover 96 1:1
  • 2.Bundesliga (II)
  • ***-Arena (Att: 10.089)

Am 9.März ging es in Hildesheim bereits um 5 Uhr aus den Federn. Denn exakt zwei Stunden später sollte es mit Milano und Melina per ICE von Hannover gen Frankfurt gehen (kostete uns inklusive Sitzplatzreservierung so ungefähr 18,96 € pro Person). Aber egal wie kurz die Nachtruhe auch gewesen sein mag; es gibt immer einen, der noch weniger geschlafen hat. In unserem Fall war das Gulle, der um 6:59 Uhr noch die Treppen zum Bahnsteig hoch hetzte und Last Second durch die Zugtür huschte. Eigentlich wollte er jetzt nochmal die Äuglein schließen, aber andererseits hatte er viel zu erzählen. Beispielsweise von den Erlebnissen der letzten Nacht (inklusive Videomaterial) oder über Burkhard Garwegs Bauwagenleben und dessen mutmaßlichen Bettelgefährten namens Chaos, der Garweg doch tatsächlich ein Drogenproblem unterstellt und angeblich aussieht wie Thomas Tuchel.

Heute gab es Guinness aus Dose, welches dank integriertem Floating widget wie frisch gezapft schmeckte

Schade, dass Gulle trotz tief ins Gesicht gezogener Kapuze nicht erfolgreich bei uns untertauchen konnte, sondern auf halber Strecke vom Roten Infarkt in den Nachbarwagen entführt wurde. Aber für’s weitere Entertainment blieb uns einerseits die Lübecker Szene auf dem Weg zum Auswärtsspiel bei der Zweitvertretung des SC Freiburg (mitsamt ihren zwei Bahnzivis) und andererseits die U18-Reisegruppe des hannoverschen Fanprojekts. Während die Hanseaten den Wagen mit Fritz & Monti beschallten und schon ordentlich einen im Tee hatten, zauberte FP-Schröder ein paar Kugelschreiber aus seinem Jutebeutel und ließ uns ehrenhalber am U18-Quiz teilnehmen. Bei den exakten Einwohnerzahlen von Wiesbaden und Frankfurt musste geraten werden, aber ansonsten habe ich ein gutes Gefühl, dass ich die minderjährige Konkurrenz deklassieren konnte. Im Falle eines Sieges möchte ich mein gewonnenes Stickerpaket jedoch für den besten minderjährigen Quizteilnehmer spenden.

Bierstube am Ring, die Spielbank des kleinen Mannes

Frankfurter Beton wurde planmäßig um 10 Uhr betreten. Während der restliche hannoversche Reisetross sogleich mit der erstbesten Bahn weiter nach Wiesbaden fuhr, wollten Milano, Melina und ich noch auf den über’s Wochenende in Frankfurt weilenden Ole warten. Wir sahen uns bereits schön im Moseleck oder Gleis 25, aber Ole war doch früher als gedacht am Hauptbahnhof. Entsprechend saßen wir in der zweitbesten Bahn nach Wiesbaden und in der um 10:58 Uhr erreichten hessischen Hauptstadt ging es unverzüglich in die nächstbeste Kneipe. Die Bierstube am Ring hatte bereits vormittags geöffnet und es wunderte uns kaum, dass wir dort diverse hannoversche Schlachtenbummler aus dem ICE wiedertrafen (inklusive Gulle).

Kleiner Mittagssnack

Um 12:29 Uhr fuhr uns schließlich ein Bus direkt von der Kneipe zur Arena. Während der Rest sich zum Gästeeingang bewegte, befand sich mein Sitzplatz mittig auf der Gegengerade (31,50 €). Nachdem ich mir noch schnell eine Rindswurst auf die Faust reichen ließ (4,50 €), hatte ich von dort beste Sicht auf das Intro im Gästesektor. Man hatte vier historische Vereinswappen auf Doppelhalter gepinselt und dazu etliche Fähnchen in den Vereinsfarben mitgebracht (siehe Titelbild). Leitspruch der schönen Aktion: Seit 1896 und für alle Zeit Hannoverscher Sportverein!

Es ging gemächlich los, erst in der 23.Minute wurde mit Zieler erstmals einer der beiden Torleute geprüft

Ca. 30 % der knapp über 10.000 Stadionbesucher hielten es heute optisch und vor allem auch akustisch mit jenem Hannoverschen Sportverein von 1896. Der hatte zwar zuletzt in Osnabrück fürchterlich enttäuscht (0:1 aus 96-Sicht) und gegen Düsseldorf reichte es am vorigen Spieltag auch nur zu einer Punkteteilung (nach 0:2 zur Pause), aber dennoch war man weiterhin im Pott der potentiellen Aufsteiger. Weil der Hamburger SV am Vorabend in Düsseldorf unterlag, würde ein Auswärtssieg die Leitl-Elf heute sogar auf den 3.Platz katapultieren.

Der Fanblock der Wehener in Wiesbaden

Doch leider gab es zunächst einen ähnlich uninspirierten Auftritt wie vor 14 Tagen in Osnabrück zu sehen. Der zur Zeit auf dem 13.Rang logierende Aufsteiger mauerte sich hinten ein und der Gast aus Niedersachsen hatte dadurch zwar viel Ballbesitz, aber wenig Entfaltungsraum in des Gegners Tornähe. Obendrein gelangen den seit 2008 als SV Wehen Wiesbaden firmierenden Lizenzspielern des SV Wehen 1926* ein paar gefährliche Entlastungsangriffe. Bei einem davon lauerte der robuste kroatische Stürmer Ivan Prtajin unbewacht im 96-Strafraum und konnte Ron-Robert Zieler leider in der 33.Minute aus kurzer Distanz überwinden.

Teile der Haupttribüne freuen sich über den Führungstreffer

Nachdem blinde Stadionbesucher erst während des Torjubels realisiert haben dürften, dass auch Heimpublikum in der im Herbst 2007 eröffneten Wiesbadener Arena anwesend ist, fehlte es der Gastmannschaft weiterhin am nötigen Auge für die wenigen Lücken in der SVWW-Abwehrreihe. Man blieb die ersten 45 Minuten tatsächlich ohne einen einzigen Torschuss, während Prtajins Landsmann und Sturmpartner Franko Kovačević in der Nachspielzeit der 1.Halbzeit bei einem Konter sogar noch das 2:0 auf dem Fuß hatte. Doch diesmal konnte Zieler in höchster Not parieren.

Gute Idee mit dem großen Banner an der Tribünenrückwand

Nichtsdestotrotz wollte Leitl in der Pause wenig ändern und brachte erstmal nur Oudenne für den besonders blassen Schaub. Dabei wäre gegen Kauczinskis Catenaccio vielleicht so ’ne Kante vorne drin ideal gewesen. Einer wie dieser bullige Voglsammer Andi, der in der Vorwoche gegen Düsseldorf nach gut einer Stunde auf’s Feld kam und gerade mal vier Minuten später den Anschlusstreffer für die Roten köpfte. Ich hatte schon Sorge, dass jener Edeljoker sich kurzfristig verletzt hatte. Aber nach sieben weiteren Spielminuten ohne jegliche Offensivgefahr brachte der Cheftrainer doch noch den mehr als fit wirkenden Voglsammer ins Spiel (für Kunze). Gott sei dank! Denn der gebürtige Rosenheimer benötigte diesmal gar nur 96 Sekunden für sein insgesamt fünftes Saisontor (alle übrigens als Joker).

Freude über den Ausgleichstreffer

In der 58.Minute legte Voglsammer außerdem glänzend für Mitspieler Ernst auf. Aber leider konnte Tormann Stritzel den Abschluss des 96ers gerade so ins Toraus ablenken. Während die Hausherren nach dieser kurzen Phase der Löchrigkeit neuen Beton anrührten, stand bei der Gastmannschaft wenigstens eine massive Wand im Rücken. Die mitgereisten Fans hatten vom Anpfiff weg einen kontinuierlichen und lautstarken Gesangsvortrag geliefert. Nun legte man sogar noch eine Schippe drauf und pushte die Mannschaft aus der Kurve (und teilweise von der Gegengerade) noch dezidierter. Dazu brachte Leitl in der 76.Minute mit Teuchert den zweiten Torschützen der Vorwoche ins Spiel. Es blieb zwar zäh, aber zumindest Tresoldi (78.) und Nielsen (84.) hatten in der Schlussviertelstunde ihre Möglichkeiten, um die heutige Punkteausbeute zu verdreifachen.

Doch so wie die 96-Stürmer letztlich glücklos bleiben, liefen gottlob auch die sich nun wieder bietenden Kontermöglichkeiten der Hessen ins Leere. Unter anderem konnte Taffertshofer fünf Minuten vor Schluss beinahe einen weit aufgerückten Zieler mit einer Bogenlampe alt aussehen lassen. Als der Unparteiische die Partie um 14:52 Uhr schließlich abpfiff, war es eine gerechte Punkteteilung. So richtig erstklassig waren heute nur die Fans aus der niedersächsischen Landeshauptstadt. Die beliebteste Fußballmannschaft ihres Bundeslandes offenbart dagegen zu wenig Konstanz und zu wenig Brillanz, um im Sommer verdientermaßen der Zweitklassigkeit entfliehen zu dürfen. Da das allerdings auch auf die aktuellen Tabellennachbarn zutrifft, bleibt jedoch zumindest der 3.Platz weiterhin in Schlagdistanz.

Schalparade im Gästesektor

Nach Spielende wiedervereinigte ich mich unverzüglich mit dem zuckersüßen Pärchen M&M. Weil unser ICE zurück erst 17:59 Uhr in Frankfurt abfahren sollte, hatten wir nun zwei Optionen. Entweder wir spazieren nochmal ein, zwei Stündchen durch Wiesbaden oder wir fahren sofort nach FFM und hängen da noch 96 Minuten im Bahnhofsviertel ab. Insbesondere weil Ole uns wärmstens eine Ćevabdžinica in der Nähe des großen Schienenverkehrsknotens empfohlen hatte, bekam die Mainmetropole letztlich den Zuschlag. Wiesbaden grase ich stattdessen irgendwann nochmal in Ruhe kulinarisch und kulturell ab.

„Take the best orgasm you ever had, multiply it by a thousand, and you’re still nowhere near it“

Außerdem kann man sich in Sachen karnivorischer Kost stets auf Ole verlassen. Beim bosnischen Grillimbiss Sarajevo in der Karlsruher Straße servierte man uns gegen 16:30 Uhr in der Tat fantastische Ćevapčići mit Zwiebeln, Kajmak, Ajvar und Lepinja. Drei Portionen und drei Jelen pivo schlugen dabei mit fairen 30 € zu Buche. Anschließend machten wir noch einen kleinen Verdauungsspaziergang durch das Viertel. Via Kaisersack, Moselstraße, Elbestraße und Niddastraße ging es zurück zum Hauptbahnhof. Ganz ohne Kultur geht es bei Schneppe Tours nunmal auch nicht…

Eines der harmloseren Rauschmittel im Frankfurter Bahnhofsviertel

Meine kleine Führung endete um 17:45 Uhr in der 24/7-Kneipe Gleis 25. Weil unser ICE laut DB App bereits mit 20 Minuten Verspätung in Frankfurt ankommen sollte, blieb uns dort noch genug Zeit für eine Runde Binding (0,5 l à 5,40 €). Als der Zug dann 18:20 Uhr abfahrbereit im Gleis stand, hatte die Bahn allerdings mal wieder etwas besonders Skurriles zu bieten. Der ICE auf dem Nachbargleis war angeblich nicht weit genug in den Bahnhof eingefahren und blockierte so weiterhin die Weiche. Offenbar war es technisch nicht möglich, dass der Kollege nachträglich ein paar Meter weiter reinfährt. Deshalb mussten wir warten, bis jener ICE seine Fahrt fortsetzte.

Ein paar Jelen pivo für die Rückfahrt mussten natürlich auch noch sein

Das war erst 18:43 Uhr der Fall und weitere ca. 15 Minuten Verzug kamen noch durch eine behördliche Maßnahme der Bundespolizei in Kassel hinzu. Wir witterten jetzt wenigstens ein paar Euro Entschädigung, doch dazu hätte die Verspätung noch auf zwei Stunden anwachsen müssen. Denn bei unserem entrichteten Fahrpreis von gerade mal 13,40 € bleiben die 25 % Entschädigung für 60 bis 119 Minuten Verspätung unter der Mindestsumme (erst ab einem Anspruch von 4 € zahlt die Bahn). Aber egal, wir hatten auch für die verlängerte Rückreise ausreichend Bier und genug zu erzählen. Gegen 23 Uhr war ich letztlich zuhause und verfolgte am Folgetag noch die restlichen Partien der 2.Bundesliga am Bildschirm. Da Fürth gegen Elversberg verlor, hat 96 auch an diesem Spieltag nicht wirklich Boden verloren. Es bleibt zur Zeit ein echtes Schneckenrennen um den 3.Platz. Mal schauen, wie der ruhmreiche Hannoversche SV von 1896 kommendes Wochenende gegen den 1.FC Kaiserslautern reüssiert. Gerne ein 5:1 wie vor gut 70 Jahren, dann geht’s wenigstens euphorisch in die Prestigeduelle der nächsten Wochen.

Song of the Tour: Der perfekte Soundtrack für einen Spielbankbesuch in Wiesbaden

*Der Stammverein wurde 1926 in der damals noch selbstständigen Gemeinde Wehen gegründet (seit 1971 Stadtteil der seinerzeit aus mehreren Gemeinden gebildeten Stadt Taunusstein) und kickte jahrzehntelang in für Dorfvereine üblichen Spielklassen. Mit dem Einstieg des lokalen Unternehmers Heinz Hankammer (Brita) als Präsident und Hauptsponsor begann 1979 jedoch eine sportliche Erfolgsgeschichte. Binnen 10 Jahren rückte der SV Wehen von der Kreisliga in die damals drittklassige Oberliga Hessen vor. 2007 gelang erstmals der Sprung in die 2.Bundesliga und Hankammer forcierte neben der Ausgliederung der Profifußballer auch den Umzug ins 13,12 km von Wehen entfernte Wiesbaden (wo man binnen weniger Monate eine schmucklose, aber profifußballtaugliche Arena bauen konnte). Seitdem firmiert man als SV Wehen Wiesbaden und will in der Landeshauptstadt neue Fanpotentiale erschließen. Aufgrund von Unmut über die Umsiedlung und Umbenennung des Clubs, löste sich 2007 allerdings die acht Jahre zuvor gegründete Ultragruppe Psychopathen Wehen auf. Ein Jahr darauf gründete sich dann die ultraorientierte Gruppierung Supremus Dilectio (höchste Liebe), welche bis heute größter Aktivposten der sehr überschaubar gebliebenen SVWW-Fanszene ist.