Essen 02/2024

  • 17.02.2024
  • Rot-Weiss Essen – SSV Ulm 1846 0:2
  • 3.Liga (III)
  • Stadion an der Hafenstraße (Att: 17.047)

Besser hätte das Jahr 2024 für die Menschen in Essen nicht beginnen können. Anfang Januar sorgte eine Meldung der Altenessener Privatbrauerei Jacob Stauder für Freudentaumel von Karnap bis Kettwig. Nachdem Stauder Pils jahrzehntelang nur in Flaschen und Fässer abgefüllt wurde, feiert das beliebteste Getränk der Stadt sein langersehntes Comeback in der Dose. Stauder gibt es also endlich wieder im praktischsten Gebinde für Auswärtsfahrten, Festivals oder einen Tag am See. Insbesondere für die RWE-Fans kehrt Stauder dabei keinen Tag zu früh in den Blechmantel zurück. Wird doch am 24. Februar ein Sonderzug mit Sambawagen, aber obligatorischem Glasflaschenverbot zum Auswärtsspiel nach Dresden rollen. Nun mussten sich die Organisatoren aus der Fanszene doch nicht den Kopf darüber zerbrechen, welches alternative Dosenbier die Schlachtenbummler im Sonderzug halbwegs goutieren würden. Stattdessen mutierte man zum Großabnehmer der stauderschen Erstabfüllung.

Um 14:19 Uhr erreichte ich das Stadiongelände

Besagter Sonderzug mit 720 Plätzen war binnen weniger Stunden ausverkauft und insgesamt bis zu 3.000 Essener sollen sich schätzungsweise auf den Weg nach Elbflorenz machen. Denn auch RWE sorgt zur Zeit für viel Euphorie an Ruhr und Emscher. Das nach wie vor von Ex-96er Christoph Dabrowski trainierte Team ist gegenwärtig Vierter in der 3.Liga und damit auf Tuchfühlung zu den Aufstiegsrängen. Am heutigen Samstag stand nun das Spitzenspiel gegen den aktuell drittplatzierten SSV Ulm an. Das wollte ich mir ungern entgehen lassen, buchte ein ICE-Ticket (11,15 €) und freute mich auf neunzig spannende Minuten im Stadion an der Hafenstraße. Doch leider verzögerte sich die für 10:31 Uhr geplante Abfahrt in Hannover wegen einer technischen Störung auf unbestimmte Zeit. Nach knapp einer Stunde zog ich die Reißleine und wechselte notgedrungen in den Folgezug um 11:31 Uhr. Dadurch war ich erst 13:45 Uhr in Essen und rechtzeitig zum Anpfiff (14 Uhr) schaffte es ich nun nicht mehr ins Stadion.

Die Essener Westkurve

Letztlich saß ich um 14:20 Uhr auf meinem Haupttribünenplatz (31,50 €). Unverzeihliches hatte ich aber wohl weder auf den Rängen, noch auf dem Rasen verpasst. Es stand noch 0:0 und der Live-Ticker vom Kicker vermeldete als bisherigen Höhepunkt lediglich, dass in der 16.Minute ein Ulmer Treffer aufgrund einer vermeintlichen Abseitsposition nicht gegeben wurde. RWE dagegen laut Berichterstattung bisher ohne richtigen Torschuss, aber das sollte sich bald ändern. In der 26.Minute schlenzte Cedric Harenbrock das Leder knapp am Ulmer Gehäuse vorbei. Das war zugleich der Startschuss einer Angriffswelle des Essener All-or-Nothing-Teams (13 Siegen stehen 9 Niederlagen und lediglich 3 Unentschieden gegenüber). Isaiah Young (40.) und Leonardo Vonić (43.) vergaben in jener Sturm-und-Drang-Phase beste Gelegenheiten, um das gut mitgehende Heimpublikum endgültig in Ekstase zu versetzen.

Im Gästeblock wurde heute sehr sichtbar die Freundschaft zwischen Ulm und Oberhausen zelebriert, während die Essener ein paar Anti-RWO-Sprechchöre intonierten

Denn gelänge heute ein Heimsieg, würde der Deutsche Fußballmeister von 1955 den überraschend starken Aufsteiger aus Schwaben vom 3.Platz verdrängen und könnte kommende Woche mit ordentlich Rückenwind beim Tabellenzweiten in Dresden auflaufen. Nach vierzehn Jahren in der Viert- und Fünftklassigkeit und einem mitunter holprigen Weg zum Klassenerhalt in der Vorsaison, ist der 1907 gegründete Essener Traditionsverein aktuell wieder jemand auf der nationalen Fußballkarte.

Auch Essens Gegengerade a. k. a. Helmut-Rahn-Tribüne fieberte intensiv mit

Nur leider bewiesen die Ulmer im zweiten Durchgang, dass sie sich keineswegs zufällig in die Spitzengruppe der Liga verirrt hatten. Erst ließ Dennis Chessa die knapp 500 Stadionbesucher im Gästesektor – darunter etliche Fanfreunde aus Oberhausen – in der 64.Minute jubeln. Danach verhinderte die sicher stehende Abwehr der Spatzen eine Antwort der wieder offensiver werdenden Hausherren. Die neuerliche RWE-Angriffswelle gab wiederum Raum für Konter und einer dieser Gegenangriffe führte knapp 10 Minuten vor Spielende zu einem Strafstoß. SSV-Angreifer Felix Higl verwandelte jenen Matchball in der 82.Minute sicher.

Ulmer Torfreude

Der Gast brachte den Zwei-Tore-Vorsprung anschließend ungefährdet über die Ziellinie und während Essen die Tuchfühlung zur Tabellenspitze vorerst wieder verliert, darf in Ulm, um Ulm und um Ulm herum fortan umso mehr geträumt werden. Der Aufsteiger, der gar nochmal acht Jahre länger als RWE aus dem Profifußball verschwunden war, festigt mit dem heutigen Auswärtssieg den 3.Tabellenplatz und hat zugleich nur zwei Punkte Rückstand auf die zweitplatzierte SG Dynamo. Da könnte nun ausgerechnet RWE am kommenden Wochenende in Dresden für Schützenhilfe sorgen.

Heute über 17.000, im Schnitt über 16.000; RWE ist ein Zuschauermagnet

Nach Abpfiff traf ich mich mit alten Bekannten aus der hiesigen Fanszene vor’m Stadion und gemeinsam mit diesen Hafensängern ging es nach Rüttenscheid. Ich hatte mich bei meinen bisherigen Besuchen in Essen bereits darüber gewundert, dass ich im historischen Stadtkern überhaupt kein Kneipenviertel ausmachen konnte. Nun wurde ich aufgeklärt, dass die Abendgastronomie sich besonders auf das Südviertel und den daran angrenzenden Stadtteil Rüttenscheid konzentriert. Dort reihen sich an der über zwei Kilometer langen Rüttenscheider Straße, die alle nur nennen, etliche Kneipen, Bars und Restaurants aneinander.

Cornern auf der Rü

Nach einem ersten Stauder vom Kiosk, war unser Ziel auf der die 1901 eröffnete Schankwirtschaft Ampütte, die sich rühmt Essens älteste Kneipe zu sein. Damit die dadurch beim Gast geschürten Erwartungen auch wirklich erfüllt werden, gibt man sich größte Mühe den alten Charme einer klassischen Ruhrpott-Eckkneipe zu konservieren. Neues Mobiliar oder moderne sanitäre Anlagen lehnt man hier so konsequent ab, wie ein gewisser Martin Kind die 50+1-Regel. Kurzum; die Ampütte ist herrlich urig, was garantiert auch 96 % der Rezensenten im Internet schreiben dürften.

Essenszeit im schönen Rüttenscheid

Unsere acht Mann starke Tischgesellschaft hatte hier zuvorderst ein gemeinsames Abendessen im Sinn, weshalb neben acht Tulpen mit Stauder vom Fass (0,3 l für 2,80 €) auch diverse Speisen bestellt wurden. Ich hatte mich dabei für ein Schnitzel mit Pilzen und Speck (nebst Pommes und Mayo) entscheiden, welches mit kleinem Salat vorweg für 18 € zu haben war. Schmeckte ganz okay, aber explizit für ihre Küche würde diese Traditionsgaststätte jetzt nicht unbedingt weiterempfehlen.

Trinkfreudige Essener

Uns zog es nach dem Essen weiter zum Stadtkrug. Eine Pinte in der Rellinghauser Straße (an der Stadtteilgrenze von Rüttenscheid zum Südviertel), wo der Abend je nach Gusto am Spielautomaten, an der Dartscheibe oder einfach nur gesellig am Tisch ausklingen konnte. Wir tauschten dabei schöne Fußballgeschichten aus, von denen Anhänger von Traditionsvereinen bekanntlich immer einen ganzen Koffer voll haben. Hätte der RWE heute triumphiert, wäre es bei meinen Freunden gewiss noch am Glas eskaliert und als guter Gast hätte ich mich von jener Trinkfreudigkeit möglicherweise anstecken lassen. Doch meine Leber darf Dabrowskis Schützlingen danken. Es blieb alles im Rahmen und deutlich vor Mitternacht war Schicht im Schacht.

  • 18.02.2024
  • Lüner SV – SV Westfalia Soest 09/20 0:3
  • Westfalenliga 2 (VI)
  • Kampfbahn Schwansbell (Att: 110)

Am Sonntagmorgen ließ ich mich um 8:30 Uhr am Frühstücksbuffet meines für 75 € gebuchten InterCity Hotel Essen (****) blicken. Nachdem dort diverse Deftigkeiten und ein paar Vitamingaranten verzehrt waren, ging es an das vormittägliche Kulturprogramm. Ich war, wie bereits erwähnt, schon ein paar Mal in Essen und habe mich insbesondere bei meinem Besuch im Juli 2022 genauer mit Kultur und Sehenswürdigkeiten beschäftigt (Vgl. Essen 07/2022). Doch ausgerechnet die hiesige UNESCO Welterbestätte war bis heute ein blinder Fleck auf meiner Karte geblieben. Dementsprechend ging es heute um 9:45 Uhr mit der Tram zur 1851 eröffneten Zeche Zollverein, die dank des 55 m hohen Doppelbock-Fördergerüsts und der neusachlichen Industriearchitektur von Schacht XII (zwischen 1928 bis 1932 errichtet) mitunter als schönste Zeche der Welt gerühmt wird (siehe Titelbild).

Ein reichhaltiger Start in den Tag

Nach einem kurzen Streifzug über das Gelände, widmete ich mich mit dem Ruhr Museum einem der vielen Nachnutzer der 1986 stillgelegten Zeche. Deutschlands längste freistehende Rolltreppe (54 m) führte mich hinauf zum Museumseingang, wo ich ein Ticket für 10 € lösen konnte. Nachdem ich als allererstes den Ausblick von der Dachterrasse der einstigen Kohlenwäsche genossen hatte, bot mir das Museum auf mehreren Etagen über 6.000 Exponaten aus der Natur- und Kulturgeschichte der Region. Der Rundgang führt dabei im Gebäude von oben und unten und interessanterweise beginnt er thematisch nicht mit der Entstehung der Kohlevorkommen vor etwa 300 Millionen Jahren oder den steinzeitlichen Ur-Pottmenschen. Stattdessen ist die erste Ebene der Dauerausstellung mit dem Begriff Gegenwart überschrieben.

Ausblick von der Aussichtsterrasse

Es geht um die Gegenwart einer Region, deren Synonyme Revier, Kohlenpott oder Land der tausend Feuer bereits gängige Klischees und Mythen implizieren. Mit nahezu allen Stereotypen, die einem beim Brainstorming zum Ruhrgebiet in den Sinn kommen, wird man hier alsbald konfrontiert. In etlichen Vitrinen werden erwartbare, aber mitunter auch überraschende Einzelexponate in den Fokus gerückt. Vom Erzklumpen, über die Staublunge bis hin zum Fuchsschwanz an der Autoantenne oder einem Parka, wie ihn Götz George als Schimanski getragen hat, reicht die Palette.

Alter Grubenhelm aus Leder

Zugleich wird auf etlichen Fotowänden das hiesige Nebeneinander von Naturräumen mit ausgedehnten industriellen und städtischen Strukturen anschaulich gemacht. Dabei wird nicht nur sichtbar, dass das Ruhrgebiet trotz ganz viel Stahl und Beton grüner ist, als manch einer denkt. Man realisiert ebenfalls spätestens hier, dass die Region schon lange vielen kulturellen Einflüssen ausgesetzt ist und man sich soziographisch mit einer Bandbreite von so genannten Brennpunkten wie Duisburg-Marxloh bis zu noblen Villengegenden wie dem Brucker-Holt-Viertel in Essen-Bredeney beschäftigen kann. Außerdem erwarten den Besucher viele Panels mit Zahlen, Daten und Grafiken zum Ruhrgebiet. Hier wird den ganzen Mythen und Klischees nochmal auf den Grund gegangen und geprüft, inwieweit sie noch die Gegenwart des Ruhrgebiets abbilden.

Ein Fuchsschwanz an der Autoantenne, vorzugsweise am Opel Manta, steht sinnbildlich für die Ruhrpottprolls der 1980er Jahre

Auf die Gegenwart folgt im Ruhr Museum das Gedächtnis. So ist jedenfalls die nächste Ebene überschrieben, die chronologisch die Geschichte des Ruhrgebiets aufbereitet. Es geht los mit relativ vollständigen Skeletten von prähistorischen Tieren und weiteren Steinzeitfunden an Rhein und Ruhr. Es folgen Exponate aus der Antike, als die Römer ihr Reich immerhin bis an den Rand des Ruhrgebiets ausdehnten. Danach wird die mittelalterliche Geschichte der Region dargestellt, wo nach der fränkischen Eroberung (775 n. Chr.) entlang des westfälischen Hellwegs zwischen Duisburg und Höxter zahlreiche Städte entstanden. Zugleich forcierte der fränkische König Karl der Große die Christianisierung der Region. Auf dem Essener Stadtgebiet gehen das Kloster Werden (799) und das Stift Essen (vor 850) auf diese Epoche zurück.

Nahe Xanten gefundener Grabstein des römischen Centurio Marcus Caelius, der 9 n. Chr. in der Varusschlacht sein Leben ließ

Weiter wird die regionale Geschichte vom Hochmittelalter über die Hansezeit bis zur Reformation und Aufklärung nachgezeichnet. Es wird mehr als deutlich, dass dieser Kulturraum schon eine reiche Geschichte vor der Industrialisierung hatte. Da die industrielle Revolution in dieser Region jedoch für eine kolossale Zeitenwende sorgte, wird jener Epoche in der nächsten Museumsebene nochmal besonders viel Raum gewidmet. Die Industrialisierung war nur dank der Kohle als Energieträger möglich und von diesem „schwarzen Gold“ wurden rund um die Ruhr (und rund um die Uhr) mehrere Millionen Tonnen pro Jahr gefördert. Zugleich siedelte sich die energieintensive Schwerindustrie im Umfeld der Zechen an. Montan- und Schwerindustrie hatten zusammen einen riesigen Bedarf an Arbeitskräften, so dass sich die Bevölkerung des Ruhrgebiets zwischen 1850 und 1900 nahezu verzehnfachte (von ca. 350.000 auf über drei Millionen Einwohner).

Krupps Kanonen leisteten im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) einen kriegsentscheidenden Beitrag und haben somit mittelbar auch zur Reichsgründung 1871 beigetragen

Aus einem ländlichen Raum mit ein paar Kleinstädten und vielen Dörfern entwickelte sich binnen weniger Jahrzehnte ein gigantisches Ballungsgebiet mit dutzenden Großstädten. Während sich die Industrialisierung andernorts in einer gewachsenen städtischen Struktur vollzog und die neue Arbeiterklasse somit auf ein alteingesessenes Bürgertum traf, entstand an der Ruhr beinahe eine reine Arbeiterregion. Übrigens mit starken polnischen Einflüssen, da man für den nicht enden wollenden Bedarf an Arbeitskräften auch tief im Osten die Werbetrommel rührte. So lebten 1910 ca. 500.000 polnischsprachige Menschen im Ruhrgebiet und verfügten über eine eigene Tageszeitung, eigene Kulturvereine und mit der Zjednoczenie Zawodowe Polskie (Polnische Berufsvereinigung) auch über eine einflussreiche polnische Gewerkschaft.

Bier war und ist auch wichtig im Revier (besonders in Dortmund)

Dabei brachten die Polen mit Maloche auch einen ursprünglich aus dem Jiddischen stammenden Begriff für Arbeit mit, der allgemein in die Alltags- Umgangssprache des Ruhrgebiets (und darüber hinaus) überging. Mit Maloche assoziiert man dabei nicht unbedingt jede Form von Arbeit, sondern zuvorderst Schwerstarbeit, wie sie die Arbeiter im Ruhrgebiet unter Tage oder am Hochofen erbracht haben. Wenn mal nicht malocht werden musste, züchteten die Arbeiter übrigens Tauben, machten was im Schrebergarten, trafen sich mit Kumpels in der Kneipe oder gingen zum Fußball. Ruhrpottklischees, die bis heute nachwirken. Wenngleich sich ab den späten 1950er Jahren ein gigantischer zweiter Strukturwandel im Revier vollzog, der die Anzahl der Malocher drastisch sinken ließ.

An Fußball führt im Pott natürlich kein Weg vorbei

Nachdem ich jenen Strukturwandel am Ende der Dauerausstellung auch noch nachvollzogen hatte, konnte ich für weitere 5 € in einer aktuellen Sonderausstellung prima an das kulturelle Erbe der Malocher anknüpfen. Unter dem Titel Mythos und Moderne. Fußball im Ruhrgebiet zeigen zur Zeit über 450 Fotografien die Geschichte und Gegenwart des Fußballsports in dieser damit besonders verbundenen Region. Denn ob aktiv als Sportler oder oft nicht minder aktiv als Fan; Fußball war und ist für sehr viele Menschen im Ruhrgebiet ein lebenslanger Begleiter. Um dem Ausstellungsbesucher diesen Lebensbund in allen Facetten zu vermitteln, sind die ausdrucksstarken Fotografien in insgesamt elf Themenbereiche sortiert (Lebensgefühl, Auf dem Platz, Revierderbys, Triumphe & Tragödien, Legenden & Idole, Orte des Geschehens, Stadionbesuch, Auf Asche, Am Spielfeldrand, Solidarität und Kommerzialisierung).

Fotowände zum Ruhrgebietsfußball

Die ausgestellten Fotos zeichnen gut nach, wie der Fußball im Ruhrgebiet zum Volkssport aufstieg. Während dieser aus England importierte Ballsport vielerorts zunächst bürgerlich-elitär blieb, entdeckte die Arbeiterklasse hier früher als anderswo das runde Leder für sich. Teilweise bereits vor, aber insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg ließen die Zechen ihre Bergleute auf dem Betriebsgelände kicken und förderten oft auch die Gründung lokaler Vereine. Dass die aktiven Fußballer häufig Kumpel aus einer Zeche waren oder alle aus einer Siedlung stammten, entpuppte sich als besonders identitätsstiftend. Als einige Ruhrgebietsvereine in den 1920er Jahren erste überregionale Erfolge feiern konnten, wurde der Fußball im Revier endgültig zum Massenereignis. Das blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg so, wo sich die hiesige Fußballelite zunächst in der Oberliga West vor großen Kulissen duellierte.

Natürlich bekommen die Stadien des Potts ihren gebotenen Raum

Eine Zäsur bedeutete allerdings die längst überfällige Einführung einer nationalen Profiliga im Jahre 1963. Einerseits zählten mit dem BV Borussia 09, dem Meidericher SV und dem FC Schalke 04 drei Revierclubs zu den 16 Gründungsmitgliedern der Bundesliga und bald sollten auch Rot-Weiss Essen, Rot-Weiß Oberhausen und der VfL Bochum nachrücken. Andererseits sank das Zuschauerinteresse bei den restlichen Revierclubs sukzessive, so dass einst erstklassige Vereine wie die SpVgg Erkenschwick, der SV Sodingen oder der SC Westfalia Herne den Anschluss verloren. Der Niedergang von Bergbau und Schwerindustrie sorgte obendrein auch für sinkende Wirtschaftskraft bei den hiesigen Fußballvereinen. RWE und RWO verschwanden nach kurzer Zeit dauerhaft aus der Bundesliga, während der BVB, Schalke und der MSV zumindest einige Saisons unterklassig kicken mussten. Lediglich der VfL Bochum hielt sich in den 70er und 80er Jahren konstant in der 1.Bundesliga und bekam dadurch den Beinamen „Die Unabsteigbaren“.

Auch Fan-Originale wie Lothar „Der Schreck vom Niederrhein“ Dohr durften nicht fehlen

In den 90er Jahren veränderte die rasant fortschreitende Kommerzialisierung schließlich den gesamten deutschen Fußball nachhaltig. Im Ruhrgebiet konnten besonders die wiedererstarkten Vereine Borussia Dortmund und Schalke 04 von den mittlerweile in den Markt sprudelnden Millionenbeträgen profitieren. Höhepunkt ist dabei natürlich das Jahr 1997, als der BVB die UEFA Champions League gewinnt und der FC Schalke den UEFA Cup holt. Auch diese internationalen Sternstunden des Ruhrgebietsfußball werden selbstredend mit ikonischen Bildern gewürdigt. Zugleich verliert die Ausstellung auch die anderen Traditionsclubs des Reviers nicht aus den Augen. In Essen, Duisburg oder Oberhausen ging es in den letzten Jahrzehnten zwar sportlich öfter tragisch als triumphal zu, aber die Fankultur blieb dort weiterhin lebendig.

Mittags schüttete es im Pott wie aus Eimern

Um im Anschluss noch etwas richtige Fußballluft zu schnuppern, ging es gegen 13 Uhr vom proletarischen Norden in den bürgerlichen Süden der Stadt. Mit meinem Essener Kumpel Basti war ich für den Besuch eines Sonntagskicks verabredet. Ich hatte mir für heute eigentlich das Stadion Hohenhorst in Recklinghausen ausgeguckt, aber das Heimspiel des Bezirksligisten FC 96 Recklinghausen fiel kurzfristig der Witterung zum Opfer. Allen Ansetzungen auf Naturrasen drohte das gleiche Schicksal. Nur der Lüner SV wollte trotz eines mit Kunstrasen versehenen Nebenplatzes bei strömendem Regen auf Rasen spielen. Angeblich erhofften sie sich davon buchstäblich Feldvorteile gegenüber dem heutigem Gast aus Soest. Denn in Soest und nahezu der gesamten sechstklassigen Westfalenliga wird grundsätzlich auf Kunstrasen trainiert und gespielt.

Lünens Haupttribüne

Also fuhren wir per PKW um 13:45 Uhr ins ca. 45 km von Essen entfernte Lünen, wo uns mit der Kampfbahn Schwansbell auch ’ne richtig schöne Groundperle erwartete. Das reine Fußballstadion wurde 1958 eröffnet und fasste in den 1960er Jahren bis zu 10.000 Zuschauer. Mittlerweile ist ein Hintertorwall wieder renaturiert, aber insgesamt 8.000 Menschen sollen noch auf die verbliebenen Stehränge und die Sitzplätze der Haupttribüne passen.

In Lünen ist man nicht aus Zucker

Beim heutigen Regenwetter zog es Basti und mich natürlich unter’s Dach besagter Haupttribüne. Aber eine kleine Fotorunde im Restareal war genauso obligatorisch wie eine Mantaplatte vom Imbissstand. Bei diesem exquisiten Mittagssnack sahen wir zusammen mit ca. 96 weiteren Augenpaaren eine richtungsweisende Partie für den Lüner SV. Der aktuell Siebte der Westfalenliga hatte zuletzt das Spitzenspiel beim Tabellenführer Holzwickeder SC verloren, aber dennoch nur fünf Punkte Rückstand auf jenen Primus. Heute ein Sieg gegen die ebenfalls ambitionierten Soester (zur Zeit Dritter) und man bleibt in der Spitzengruppe.

Wäre die Wurst nicht schon kalt gewesen, wäre dieses traditionelle Tellergericht seine 7 € wert gewesen

Der Spielverein Westfalia aus Soest demonstrierte allerdings 90 Minuten lang, dass sie anstatt der Lüner SV in diese Spitzengruppe gehören. Man hatte das Kicken auf Naturrasen offenbar doch nicht verlernt und in der 15.Minute köpfte Simon Kötter verdient zum 0:1 ein. Diesen Vorsprung brachten die Soester ungefährdet in die Pause, ehe nach dem Seitenwechsel ein Doppelschlag durch Mario Jurss (60.) und Christoph Rüther (64.) vorzeitig alles klar machte. Damit klettert der 2013 durch Fusion des Soester Spielvereins (1909) und der DJK Westfalia Soest (1920) entstandene Gastverein auf den 2.Platz der Westfalenliga. Der 1945 gegründete Lüner SV, der in den 60er und 70er Jahren insgesamt sieben Spielzeiten zweitklassig unterwegs war und von 2000 bis 2004 immerhin nochmal in der damals viertklassigen Oberliga Westfalen reüssierte, darf hingegen etwaige Aufstiegsträume begraben. Man ist jetzt endgültig im Tabellenmittelfeld angekommen, wo man mit anderen ehemaligen Reviergrößen wie dem DSC Wanne-Eickel und dem SV Sodingen auf gute Nachbarschaft anstoßen kann.

Die Lüner Gegengerade

Basti warf man mich nun auf seinem Rückweg nach Essen am Dortmunder Hauptbahnhof raus und von dort ging es für mich per ÖPNV (49-Euro-Ticket) wieder nach Hildesheim. War definitiv ein netter Kurz- und Kulturtrip in den Pott. An dieser Stelle nochmal danke für die Essener Gastfreundschaft!

Song of the Tour: Diese geschätzte Formation heißt wie der letzte Betreiber der Zeche Zollverein