Lippstadt 02/2024

  • 10.02.2024
  • SV Lippstadt 08 – FC Gütersloh 1:2
  • Regionalliga West (IV)
  • Stadion am Bruchbaum (Att: 998)

Nach der relativ späten Heimkehr vom freitäglichen Ausflug (siehe Hamburg 02/2024), klingelte der Wecker am Samstagmorgen leider viel zu früh. Aber was will man machen? Der SV Lippstadt 08 hatte den FC Gütersloh am Bruchbaum zu Gast. Das war eine Ansetzung, die mir endlich mal einen Ausflug in die Rummeniggestadt schmackhaft machte. Erst recht, als der SVL meinte: „Ach komm, wir laden dich ein. Kannst dich überall frei im Stadion bewegen, verdursten musste auch nicht und wir kochen sogar noch ein bisschen was dich.“ Ein Angebot, dass ich einfach nicht ablehnen konnte.

Das Gruppenlogo der Los Aliados a.k.a. Bernhard II.

Nach einem nahrhaften Frühstück in den Hildesheimer Redaktionsräumen von Schneppe Tours ging es um 9:06 Uhr per 49-Euro-Ticket via Hannover und Paderborn nach Lippstadt. Ich war nun drei Stunden auf Schienen unterwegs und verarbeitete nochmal die Eindrücke vom Vorabend. Ehe mich der Umstieg in Paderborn auf andere Gedanken brachte. Dort liefen etliche kostümierte Menschen rum und ich recherchierte im Smartphone, ob heute in der Gegend irgendwo Darts angesagt ist. Aber der Veranstaltungskalender der PDC hatte dazu nichts vermerkt. Wenig später realisierte ich den wahren Grund der Kostümierungen. Ich war tatsächlich schon weit genug nach Westen vorgedrungen, um mit Karnevalsbrauchtum konfrontiert zu werden. Laut Medienberichten sollen über 40.000 Menschen am heutigen Samstag den Paderborner Karnevalsumzug gefeiert haben. Hasi Palau!

Die Lippe

Zum Glück war die Lippstädter Innenstadt nahezu narrenfrei. Hier fühlte ich mich nicht mehr fremd im eigenen Land und begann gewohnt interessiert einen historischen Rundgang. Der Bernhardbrunnen unweit des Bahnhofs stieß mich dabei sogleich zu den Wurzeln der mittlerweile von rund 69.000 Seelen besiedelten Stadt. Denn dieser Brunnen wurde 1914 als Denkmal zu Ehren des Stadtgründers Bernhard II. zur Lippe errichtet. Der Adlige hatte mit dem Hermelinghof auf dem heutigen Stadtgebiet seine Burg (mittelalterlicher Stammsitz des Hauses Lippe) und gründete Lippstadt im späten 12.Jahrhundert als erste Planstadt Westfalens (Quellenlage mal wieder etwas dürftig). Sein den Brunnen krönendes Antlitz ist nebenbei das Gruppenlogo der hiesigen Ultragruppe Los Aliados.

Durch die mittelalterliche Gasse „Helle Halle“ zum Markt

Das Adelsgeschlecht und die Stadt verdanken ihren Namen gleichermaßen dem Fluss Lippe, der damals wie heute das Zentrum von Ost nach West durchfließt. Hier war der Fluss dank einer Furt ideal zu queren, was dereinst gute Voraussetzungen für das Gedeihen einer mittelalterlichen Stadt bot. Mit Leder- und Wollerzeugnissen kam man im 13.Jahrhundert zu erstem Reichtum und raschem Bevölkerungswachstum (man geht von ca. 3.000 Einwohnern im Jahr 1300 aus). Von dieser frühen Stadtepoche kündet vor allem die Große Marienkirche am Markt, deren Grundstein 1205 gelegt wurde. Eine an französische Vorbilder erinnernde gotische Gewölbestruktur mit schönen Deckenmalereien, ein gotisches Sakramentshäuschen (13.Jahrhundert) und ein frühbarocker Hochaltar (17.Jahrhundert) machen den Gang durch die Kirchenpforte durchaus lohnenswert.

Die Große Marienkirche aus dem 13.Jahrhundert

Während sich westlich der Großen Marienkirche der Marktplatz öffnet, schließt sich östlich der Rathausplatz an. Dort fällt natürlich besonders das Rathaus ins Auge. Es ersetzte 1775 nach zweijähriger Bauzeit den gotischen Vorgängerbau aus dem 13.Jahrhundert und ist architektonisch ein sehr früher Vertreter des Klassizismus. Leider ist außer den Altstadtkirchen – neben der Großen Marienkirche u. a. noch die romanische Nicolaikirche (12.Jahrhundert) und die gotische Jakobikirche (13.Jahrhundert) – kaum ein mittelalterliches Bauwerk in Lippstadt zu finden. Es fällt auf, dass die meisten Fachwerkhäuser aus der zweiten Hälfte des 17.Jahrhundert stammen. Ich hatte nun den Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) für jenen architektonischen Umbruch im Auge. Doch obwohl dieser Krieg auch an Lippstadt nicht spurlos vorbeizog, verriet die Stadtchronik mir, dass der große Brand von 1656 wohl der Hauptschuldige an der regen Bautätigkeit vor rund 350 Jahren war (insgesamt 330 Häuser waren anno 1656 den Flammen zum Opfer gefallen).

Der Goldene Hahn (bez. 1566)

Wie in 96 % aller deutschen Städte, sorgte im 19.Jahrhundert schließlich die Industrialisierung für großen Wandel und noch größeres Wachstum (zwischen 1800 und 1900 stieg die Einwohnerzahl von knapp über 3.000 auf ca. 12.500). 1850 bekam Lippstadt seinen Bahnanschluss und 1860 errichteten die Brüder Anton und Theodor Linhoff ein großes Werk zur Eisendrahtproduktion. Es siedelten sich in den folgenden Jahrzehnten etliche kleine und mittlere Industriebetriebe in Lippstadt an, ehe um die Jahrhundertwende nochmal zwei bis heute vor Ort wirkende Großbetriebe folgten. So wurde 1905 die 89 Jahre zuvor in Köln-Deutz gegründete Preußische Artilleriewerkstatt nach Lippstadt verlegt, die gegenwärtig als ThyssenKrupp Rothe Erde noch ca. 1.300 Menschen am hiesigen Standort beschäftigt. Bis heute größter Arbeitgeber der Stadt ist jedoch die 1899 ursprünglich als Westfälische Metall-Industrie Aktien-Gesellschaft gegründete HELLA GmbH & Co. KGaA (über 3.000 Beschäftigte am Stammsitz in Lippstadt).

Altes Brauhaus von 1657

Im Schatten der beiden Werke findet man mit dem 1921 eröffneten Stadion am Waldschlösschen übrigens auch die einstige Spielstätte des SV Lippstadt 08, respektive des Vorgängervereins Teutonia Lippstadt. Denn 1997 fusionierte die 1908 gegründete Teutonia mit dem ebenfalls 1908 gegründeten Lokalrivalen Borussia (Stammverein der Rummenigge-Brüder) zum SVL 08. Ein Zusammenschluss, dem erhebliche Widerstände vorausgingen. Aber letztlich fand man auf beiden Seiten Mehrheiten für eine Bündelung der Kräfte und gestaltete das zurückliegende Vierteljahrhundert relativ erfolgreich. Im ersten Jahr als SVL gelang der Aufstieg in die damals noch viertklassige Oberliga und nachdem 2013/14 erstmals für eine Saison Regionalligaluft geschnuppert wurde (Trainer damals übrigens Daniel Farke), ist man seit Sommer 2018 ununterbrochen Regionalligist.

Das bodenständige VIP-Catering eines Viertligisten

Seine Pflichtspiele trägt der SVL allerdings seit 2015 im Stadion am Bruchbaum aus (früher Heimstätte der Borussia), welches man insbesondere durch den Bau einer modernen Haupttribüne und einer kleinen, separaten Gästetribüne aufgewertet hat. Da dieses gegenwärtig 2.550 Besucher fassende Stadion exakt 1.896 m von der Ortsmitte trennen, orientierte ich mich um 13:12 Uhr endgültig vom Stadtkern zum Bruchbaum. Ich war dank meines schnellen Schrittes um 13:30 Uhr am Stadioneingang und hatte nun noch eine halbe Stunde bis zum Anpfiff. Die Zeit wurde zunächst für das versprochene Mittagessen und ein kleines Pils aus der Lippstädter Brauerei Weissenburg geopfert, ehe ich meinen Standort von der Haupttribüne auf die Gegengerade verlegte.

Der gepinselte Mob

Denn von dort hatte ich beste Sicht den Fanblock der Lippstädter. Die 2007 gegründeten Los Aliados und der Rest der Szene Lippstadt hatten für’s Derby etwas Schönes vorbereitet. Alle trugen Plastikponchos in rot oder schwarz und qualmen tat es ebenfalls in diesen beiden Farben. Dazu hatte man auf weißen Stoff ein Mobfoto nachgezeichnet, welches die Szene vor dem Haupteingang des Stadions am Waldschlösschen zeigte. Dieses aufwendigste Element der Choreographie war aber schneller eingenebelt, als so mancher Stadiontourist seine Kamera zücken konnte. Ferner hatte man den Text eines Fangesangs zum Leitmotiv des Ganzen erkoren: „Schaut auf unsere Werte – Spürt ihr unsere Passion?! – Gemeinsam für Lippstadt – Nie zurück, stets nach vorn!“ Dreimal dürft ihr raten, was die Szene begleitend intonierte…

Roter Rauch statt Rothe Erde

Die 250 bis 300 mitgereisten Gütersloher hatten leider nichts Vergleichbares zu bieten. Sie hatten lediglich ein Banner mit dem alten Vereinsemblem aus seligen Zweitligatagen und der flankierenden Aufschrift „Immer weiter“ an den Zaun montiert. Einen passenden Mottoschal gab es heute ebenfalls. Aber entweder die Auflage oder der Absatz ließen zu wünschen zu übrig. Was man ebenfalls von der Lautstärke und Kreativität des Liedguts behaupten kann. Insgesamt waren mir die Aktiven Güterloher heute eindeutig zu passiv für ein Derby.

Intro der Gütersloher

Aber positiv kann man bei Gütersloh eigentlich immer erwähnen, dass sie eine gute Zaunfahnenkultur haben. Es ist stets viel Textil im Gepäck und ein paar der Objekte haben bereits ähnlich viele Jahrzehnte wie ich auf dem Buckel. Das erinnerte zugleich daran, dass der ursprünglich 1978 durch Fusion der Fußballsparten vom SV Arminia Gütersloh und der DJK Gütersloh entstandene FCG in den 1990er Jahren mal eine größere Hausnummer war (1998 wäre man beinahe in die 1.Bundesliga aufgestiegen). Aber der damalige Höhenflug war nicht solide finanziert und am 14. Februar 2000 musste sich der ruinierte Verein auflösen. Der inzwischen wieder gleichnamige Nachfolgeverein, der zunächst als FC Gütersloh 2000 firmierte, rutschte dann zwischenzeitlich bis in die 6.Liga ab (Vgl. Ostwestfalen 05/2011). Doch letzten Sommer kehrte man als Oberligameister immerhin auf die mittelgroße Fußballbühne der Regionalliga West zurück.

Ein optisch ansprechender Fanblock

Während die Lippstädter als momentan Vorletzter (14 Punkte) auf bestem Wege sind besagte Bühne nach mittlerweile sechs Spielzeiten am Stück wieder zu verlassen, hat sich der Aufsteiger aus Ostwestfalen mit bereits 28 Punkten schön im gesicherten Mittelfeld der Regionalliga eingenistet (10.Platz). Sie gingen somit als Favorit in dieses Derby und die frühe Führung in der 11.Minute durch Freiberger untermauerte zunächst die aktuellen Kräfteverhältnisse. Doch der SVL blieb im Spiel und erarbeitete sich auf tiefem Geläuf nach einer knappen halben Stunde den verdienten Ausgleich (28.Min, Munsters).

Die mitgereisten Gütersloher feiern die frühe Führung

Nachdem also jede Fanszene einmal jubeln durfte, ging es mit 1:1 in die Kabinen. Ich verlagerte mich derweil wieder in den VIP-Bereich und brachte meine Lippe dort nochmal mit einem Bierglas in Berührung. Da weitere Fanaktionen für’s Fotoalbum beim Wiederanpfiff nicht drohten, hatte ich es mit der Rückkehr auf die Gegengerade auch erstmal nicht eilig. Dementsprechend sah ich die erneute Gütersloher Führung durch ein Lippstädter Eigentor (51.Minute) noch aus einem gepolsterten Sitz heraus.

Die Haupttribüne am Bruchbaum

Ich nahm den neuen Spielstand nun als Signal wieder die Perspektive zu wechseln und wurde wenig später an meinen kürzlichen Besuch in Cava de‘ Tirreni erinnert. Leider jedoch aus einem traurigen Anlass. Die Lippstädter Szene, die seit längerem zu Teilen der Curva Sud von Cavese freundschaftliche Kontakte pflegt, bedauerte einen unter der Woche ereigneten Todesfall in Cava mit den Worten „A chi ci guarda da lassù, Ciao Feleccone“ (Für diejenigen, die uns von dort oben beobachten…).

Beileidsbekundungen gen Cava de‘ Tirreni

Auf dem Rasen stemmte sich der SVL unterdessen gegen die Derbyniederlage. Man probierte viel nach vorne, kam jedoch selten zu wirklich gefährlichen Abschlüssen. Der FCG schien sich erfolgreich gen Abpfiff mauern zu können, ehe in der 80.Minute ein Schiedsrichterpfiff nochmal alle Lippstädter hoffen ließ. Sie bekamen einen Strafstoß zugesprochen, doch der eigentlich verlässliche Viktor Maier (Rekordtorschütze des SVL) bugsierte das Leder vom Elfmeterpunkt über die Torlatte. Nochmal großer Jubel im Gästesektor, während die Lippstädter dem Ausgleich in der restlichen Spielzeit kein zweites Mal so nah kommen sollten.

Die Gegengerade

Nach 90+6 Minuten war Schluss und das grün-weiß-blaue Lager lag sich in den Armen. Der FC Gütersloh hatte aus seiner Sicht das gleiche Ergebnis wie im Heimspiel erzielt (auch im heimischen Heidewaldstadion gelang ein 2:1-Sieg über Lippstadt) und feierte vielleicht ein bisschen zu provokativ. Bei diesen Feierlichkeiten hatte es sich FCG-Kapitän Tim Manstein irgendwann mit dem Megafon auf dem Zaun des Gästeblocks bequem gemacht und wollte den Triumph passend zur Karnevalszeit mit einem Fastnachtsklassiker von Ernst Neger zelebrieren. Nachdem der Fußballer bei dieser Humba zunächst zur Freude der eigenen Fans seinen Ex-Club SC Verl geschmäht hatte, fragte er als nächstes durch das Megafon in Richtung Heimsektor „Warum seid ihr F*tzen so leise?“ und schloss ein „Scheiß Lippstadt!“ an.

Aktive Gütersloher Arme

Die Adressaten der Provokation stürmten nun über den Rasen zu den Güterslohern und die Polizei musste den Kontakt zwischen den rivalisierenden Fanlagern mit unmittelbarem Zwang verhindern. Die aufgeheizte Stimmung setzte sich wenig später vor’m Stadion auf der Wiedenbrücker Straße fort. Irgendwelche Gütersloher hatten wohl aus ihrem abfahrenden Auto noch eine dicke Lippe riskiert, weshalb einzelne Rot-Schwarze jenes Fahrzeug angingen. Abermals schritt die Polizei mit Reizgas und Diensthunden ein. Mehrere verletzte Fans und offenbar auch zwei verletzte Beamte waren die Folge. Anschließend sperrte die mittlerweile vom Stadionordnungsdienst hoheitlich unterstützte Staatsmacht gleichermaßen für Fahrzeuge und Fußgänger die einzige Straße ins Stadtzentrum.

Diese Beamten hatten was gegen meine Abreise

Ich drohte dadurch meinen geplanten Zug um 16:45 Uhr zu verpassen, aber unter ganz viel wärmender Fettschicht ist irgendwo in mir doch noch ein Athlet versteckt. Als die Straße wieder frei war, gab ich alles und es wurde ein tatsächlich ein Photo Finish. Wenngleich es nun mit hochrotem Kopf und wirklich ungesund hohem Puls in die um letztlich 19:49 Uhr erreichte Hildesheimat ging. Doch immerhin konnte mir Lippstadts zweitberühmtester Rummenigge jetzt nicht vorwerfen, dass ich keine Spitzenleistungen bringe.

Song of the Tour: Karl-Heinz Rummenigges internationale Strahlkraft