Hamburg 04/2023

  • 21.04.2023
  • Hamburger SV – FC St. Pauli 4:3
  • 2.Bundesliga (II)
  • Volksparkstadion (Att: 57.000)

Erfreulicherweise konnte mir einer meiner dem Hamburger SV zugeneigten Freunde ein Ticket für das Hamburger Derby am 21.April besorgen. Besten Dank auch nochmal an dieser Stelle, keine Props allerdings an die Verantwortlichen des Hamburger SV in Sachen Preisgestaltung. Die günstigsten Sitzplätze im C-Rang hinter den Toren kosteten 40 €, für die teuersten Tickets auf den Längsseiten wurden bis zu 104 € aufgerufen. Ausverkauft war der Kick dennoch in Windeseile und wir bereitwilligen Käufer gaben keine guten Argumente für eine Überarbeitung der Preispolitik. Aber die Vereine sollten sich auch bei hoher Nachfrage nicht aus der Verantwortung für eine halbwegs sozialverträgliche Preisgestaltung nehmen. Auch für die Besserverdiener macht die Faszination des Fußballs dessen Volkssportcharakter aus und der stirbt, wenn der Stadionbesuch noch exklusiver wird.

Wir sahen heute gefühlt mehr Verkehrs- als Bereitschaftspolizisten

Auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) umtreibt gegenwärtig die Sorge, dass sich das von ihr vertretene DB-Personal die Preise beim Hamburger SV in Zukunft nicht mehr leisten kann. Deshalb wurde am Tag des Derbys für höhere Löhne gestreikt. Der gebuchte ICE ab Hannover um 14:36 Uhr und auch die Folgezüge des Nachmittags fielen allesamt aus, so dass unsere kleine Reisegruppe aus Hildesheim auf den PKW umsteigen musste. 14 Uhr war Abfahrt und 96 Minuten später hatten wir immerhin schon mal Hannover passiert. Denn auf der A7 herrschte zwischen Hildesheim und Laatzen ein Stau biblischen Ausmaßes und auf der Umleitung fuhren wir dummerweise in eine unfallbedingte Vollsperrung.

Notgedrungener Umstieg vom PKW auf den ÖPNV

Zwischen Hannover und Hamburg kam es zu weiteren Staus und Behinderungen und als wir gegen 17 Uhr die Landesgrenze der Freien und Hansestadt Hamburg erreichten, errechnete das Navigationssystem staubedingt weitere 96 Minuten bis zum Volksparkstadion. Blöd, wenn bereits um 18:30 Uhr angepfiffen werden soll. Also fuhren wir Fleestedt von der Autobahn ab und wollten von Harburg mit der S-Bahn weiter zum Stadion. Das hätte zeitlich noch passen können, wenn sich nicht kurz zuvor auf der Winsener Straße ebenfalls ein schwerer und noch nicht im Verkehrsfunk berücksichtigter Unfall ereignet hätte. Jetzt standen wir in Harburg nochmal rund 45 Minuten und bekamen erst um 18:10 Uhr eine Bahn zum Stadion.

Das HSV-Fanhaus am S-Bahnhof Holstenstraße

Shuttlebusse vom 35 Minuten später erreichten Bahnhof Stellingen fuhren nun auch keine mehr, so dass die letzten 1,5 km zum Volksparkstadion gelaufen werden mussten und wir erst um 19 Uhr die Drehkreuze passierten. Klar, die sehenswerten Intros der beiden Fanlager hatten wir um Längen verpasst, aber Tore waren wenigstens noch keine gefallen. Nach Ankunft im Block 6C wies die Anzeigetafel allerdings nur noch wenige Sekunden einen Spielstand von 0:0 aus. Denn in der 36.Spielminute eröffnete Manolis Saliakas mit dem 0:1 den heutigen Torreigen. Die rund 6.000 Gästefans waren regelrecht aus dem Freudenhäuschen und nachdem es bereits zu Spielbeginn gut in ihrer Stadionecke gebrannt haben soll, wurden nun abermals ein paar Signalfackeln entzündet.

St. Paulis Anhang war nach der Führung ganz aus dem Freudenhäuschen

Heute dürften beide Szenen sowieso besonders angespannt in dieses Spiel gegangen sein. Neben dem üblichen Prestige eines Derbysieges, hatte das Ergebnis auch sportlich eine hohe Relevanz. Der FC St. Pauli hatte eine miese Hinrunde gespielt, aber in der Rückrunde einfach mal die ersten 10 Spiele in Serie gewonnen. Hätte man das elfte Spiel am vergangenen Wochenende nicht gegen einen selbsternannten Pissverein verkackt, wäre man dem gegenwärtig drittplatzierten HSV bis auf drei Punkte auf die Pelle gerückt. Ergo hätte man heute mit einem Derbysieg sogar gleichziehen können.

Der Stimmungskern im Norden des Volksparkstadions

Diese Zuspitzung blieb nun zwar aus. Aber das Delta von sechs auf drei Punkte zu reduzieren, wäre ebenfalls eine schmerzliche Niederlage für den Hamburger SV geworden. Dann hätte zum einen der Zweitplatzierte aus Heidenheim seinen Vorsprung auf die Rothosen auf vier Punkte ausbauen können und ein direkter Aufstieg wäre deutlich unwahrscheinlicher geworden. Zum anderen hätte man weiter den unangenehmen Atem der Paulianer im Nacken spüren müssen. Der Druck auf den HSV im Saisonendspurt wäre nochmal gewachsen, während man am Millerntor euphorisch in die kommenden Spieltage gegangen wäre. Zumal der Trend gerade wieder einmal gegen den HSV sprach. Der befand sich in seiner für’s Frühjahr mittlerweile typischen Ergebniskrise und hatte von den letzten sechs Spielen nur jenes gegen Hannover 96 gewonnen.

USP und ein dutzend Freunde versuchten ebenfalls akustische Akzente zu setzen

Doch Hamburgs mit Abstand größter und erfolgreichster Sportverein ließ sich vom Rückstand nicht ins Straucheln bringen. Der sprichwörtliche Goliath der Hansestadt gab mit einem sehenswerten Treffer von David Jonas noch vor der Pause (44.Minute) die richtige Antwort. Jetzt rasteten die gut 50.000 Stadionbesucher mit der Raute im Herzen erstmals an diesem Abend so richtig aus. Die Nordtribüne entfachte dabei natürlich auch ein paar Freudenfeuer und die Elf in den roten Hosen dürften ordentlich gepusht in die Halbzeitpause gegangen sein.

Die Nordtribüne zelebriert den Augleich

Während Trainer Tim Walter wahrscheinlich die weitere Motivationsarbeit in der Kabine übernahm, bereiteten die Fans auf Nord in der Pause ihre zweite Choreographie vor. Die erste zu Spielbeginn zeigte übrigens ein stark us-amerikanisiertes HSV-Logo nebst Banderole mit der Aufschrift „Best Club“ und das Ganze wurde am Zaun mit „Kein Verein wird je so sein“ untertitelt. Die Motivwahl dürfte für ein paar ratlose Gesichter gesorgt haben. Aber meines Wissens wurde das entsprechende Logo in den 1990ern teilweise für Merchandise verwendet. Ich kenne jedenfalls jemanden, der es als Patch auf seiner Lederjacke hat.

Die Rauchwolke nachdem sich die drei Farbsäulen vermischt hatten

Nun wurde es allerdings pyrotechnisch. Rauchsäulen in den drei Vereinsfarben schwarz, weiß und blau stiegen empor (siehe Titelbild). Dazu wurde einiges an Single Shots in den Abendhimmel gejagt. Die Gäste wollten ihrem Erzrivalen jedoch nicht allein die Show überlassen und hatten ebenfalls etwas vorbereitet. Diesmal hatten auch sie sich vom amerikanischen Kontinent inspirieren lassen. Ein Totenschädel mit Sombrero auf – aber ohne Doc Martens an – wurde auf eine Blockfahne gepinselt und darunter prangte die Parole „Sankt Pauli bis zum Tod“ an der Brüstung. Die Fans der Kultmarke mit dem Totenkopf geizten dabei ebenfalls nicht mit Pyrotechnik. Erst erzeugten Raketen einen goldenen Funkenregen und anschließend gab es rund um die Blockfahne die zur Parole passenden „Grablichter“. Auch nett, insbesondere weil die mittlerweile tief stehende Abendsonne das Ganze noch in ein fantastisches Licht tauchte.

Carnaval de los Muertos im Gästesektor

Nebenbei bemerkt ist die Tabellensituation in der Strafentabelle des DFB-Sportgerichts eine ähnliche wie im sportlichen Ligabetrieb. Der HSV logiert mit 169.900 € an gesammelten Strafen zur Zeit auf dem 3.Rang, während der FCSP einen Platz dahinter mit 133.940 € lauert. Beide werden nun mit weiteren Verurteilungen ihre Summen hochschrauben können, aber das St. Pauli dabei signifikant Boden gut machen kann, glaube ich eher nicht. Und vom Prestigetitel Randalemeister braucht sowieso keine der beiden Fanszenen mehr träumen. Den lässt sich Tabellenführer Hannover 96 nicht mehr nehmen.

Die passenden Grablichter zur Parole

Dafür sind beide Fanlager in Hamburg traditionell meisterhaft im sich gegenseitig Vorwürfe machen. Auch heute war einiges auf Tapete oder Stoffbahnen verbalisiert worden. Unter anderem fragten sich die Castaways wie Ultrà Sankt Pauli (USP) damit klarkommt, dass ihre griechischen Freunde von AEK jüngst bei einem Basketballspiel gegen eine israelische Mannschaft eine Fahne mit dem Davidstern verbrannt haben („AEKs Antisemitismus wird geschluckt, bis ihr an brennenden Israelfahnen erstickt“). Auch die Clique du Nord hinterfragte den politischen Kompass beim Rivalen: „Das rote Tuch nur noch Fassade – Auch Antisemiten tragen eure Farbe – Eure ‚Antifa Hools‘ nennen uns ‚HSV-Juden‘ – schizophren?“.

Eines der heutigen Spruchbänder

Außerdem reagierten die Castaways noch auf FCSP-Präsident Oke Göttlichs jüngste Forderungen nach Kollektivstrafen bei Fanfehlverhalten („Göttlich fordert und die Südkurve schweigt: Kollektivstrafen für euch Oke!“), während die braun-weißen Adressaten im Gästesektor eine Botschaft für besagte Castaways gepinselt hatten. Bezugnehmend auf die im Vorjahr geschlossene Freundschaft zwischen dem Ultrà Kollektiv Lübeck und den Castaways hatte man „CA und UKL – Fliege findet Kackhaufen. Von Waterkant Ultrastyle zu Mitten im Leben“ getextet. Es gab sicher noch weitere Spruchbänder, aber ich war bekanntlich a) nicht die ganze Spieldauer anwesend und b) während des Spiels von eben jenem so gefesselt, dass gar nicht so viel wie sonst auf die Ränge schielte.

Schalparade auf der Nord

Denn nach dem Seitenwechsel setzte der einstige Bundesligadino auf dem Rasen zunächst mal mit einem Doppelschlag ein Ausrufezeichen. In der 48.Minute hatte Fanliebling Bakery Jatta für seine Farben zum 2:1 genetzt und nur vier Minuten später stellte Moritz Heyer auf 3:1. Nun war der vermeintliche David unter Zugzwang und der eingewechselte Elias Saad hielt die Gäste mit seinem Treffer in der 71.Minute im Spiel. Danach hatte der aktuelle Spitzenreiter der Rückrundentabelle wieder etwas Oberwasser und erspielte sich in den nächsten Minuten gute Gelegenheiten zum Ausgleich.

Der Gästeanhang witterte nochmal Morgenluft

Der Hamburger Riese war wieder ins Taumeln geraten, aber kam gewissermaßen per Lucky Punch zurück aus der durch St. Paulis neuerlichen Offensivdrang erzwungenen Deckung. Denn in der 78.Minute grätschte Paulis Jakov Medić unglücklich in einen Querpass von Sonny Kittel, womit der Hamburger SV dank eines Eigentores auf 4:2 erhöhen konnte. Das war allerdings nicht der von den HSV-Fans erhoffte Befreiungsschlag, da Jackson Irvine quasi im Gegenzug wieder auf 4:3 verkürzte. Diesem schon jetzt denkwürdigen Spektakel sollte also auch eine spannende Schlussphase vergönnt sein.

Trotz vieler Fackeln heute, so genannter Randalemeister wird ein anderer HSV

Ging da noch was für den vermeintlichen David? Würde es wie in der Heiligen Schrift ausgehen oder lassen sich die Riesen an der Elbe nicht einfach irgendwelche Steine an den Kopf schleudern? Die Gästefans trieben ihre Boys in brown nun nochmal energisch an, während der Rest des Stadions lautstark mit den Rothosen fieberte. Jeder Ballgewinn wurde mit Szenenapplaus und Schlachtrufen bedacht und die Nordtribüne schmetterte ein paar ohrenbetäubende Gassenhauer. Gästetrainer Fabian Hürzeler wechselte zwar nochmal offensiv, doch die Defensive der Hausherren konnte sich fortan bis zum Abpfiff schadlos halten. Somit kam das Spiel zum gleichen Endergebnis wie das im Maßstab 1:87 modellierte Stadtderby im Miniatur Wunderland.

Die Mannschaft feiert mit den Fans

Prophetisch? Nein, die Modellbauer in der Speicherstadt hatten sich einfach vom Derby am 2.Dezember 2001 inspirieren lassen, welches ebenfalls 4:3 für den Goliath endete und zugleich das erste Duell der Rivalen war, dem ich beiwohnen durfte. War ebenfalls ein denkwürdiges Derby und damals war ich obendrein jung, wild und mit den (richtigen) Jungs unterwegs. Große Schnauze, kein Geld, Sauftour bis zum Morgengrauen… Dass der Ausflug für mich später auf der Davidwache enden sollte, verweise ich jedoch energisch ins Reich der Fabel. Ich bin höchstens bei einem Mädchen in Bramfeld aufgewacht.

Die Stadionregie hatte sich auch was für den Derbysieg überlegt

Nach Abpfiff herrschte natürlich grenzenlose Freude im Lager des sechsfachen Deutschen Fußballmeister (um davon einen Titel miterlebt zu haben, bin aber selbst ich noch zu jung). Die bittere Hinspielpleite am Millerntor (3:0) war vergessen und der Stadtrivale auf neun Punkte Abstand distanziert. Zumindest Rang 3 und damit die Relegation gegen den Sechzehnten der 1.Bundesliga dürfte dem HSV nur noch schwerlich zu nehmen sein. Ob es auch für Rang 2 reicht, wird an den kommenden fünf Spieltagen per Fernduell zwischen dem 1.FC Heidenheim und dem Hamburger SV entschieden (zu 96 % machen die beiden Platz 2 und 3 unter sich aus).

Der Marsch zur S-Bahn glich einem Triumphzug

Heute dürften allerdings die wenigstens Fans den Tabellenrechner bemüht haben. Jetzt war einfach feiern angesagt und so oft „Derbysieger, Derbysieger, hey, hey!“ brüllen, bis die Stimme endgültig versagt. Meine anwesenden HSV-Freunde wollten selbstredend ebenfalls den heutigen Triumph im Nachtleben der Hansestadt auskosten, so dass ich alleine per ICE heimfuhr. Nicht das ich plötzlich was gegen Bier habe, aber jung und wild bin ich nunmal nicht mehr und am nächsten Tag hatte ich mir ebenfalls ein tagfüllendes Fußballprogramm auferlegt. Entsprechend fiel ich gegen 1:30 Uhr todmüde, aber hochzufrieden ins heimische Bett.

Song of the Tour: HSV, du geile Sau… dürfte sich der Anhang heute kollektiv gedacht haben