- 06.10.2017
- Georgia – Wales 0:1
- FIFA World Cup Qualifier (UEFA)
- Boris Paichadze National Stadium (Att: 22.290)
Im Frühjahr 2017 hatte WizzAir erfreulicherweise eine Aktion mit Sonderpreisen von Deutschland nach Georgien gefahren. Da das Land schon länger auf meiner Liste stand und ich außerdem nach dem Tag der Deutschen Einheit drei Urlaubstage im Kalender stehen hatte, buchten Ole und ich Flüge à 80 € von Dortmund nach Kutaisi (return). Spielpläne der georgischen Fussballligen für die neue Saison waren im Frühjahr logischerweise noch keine veröffentlicht, aber es war auf jeden Fall Länderspielwochenende und Georgiens Nationalmannschaft empfing am Freitag meine heimliche Heimat Wales zum sportlichen Vergleich in der Hauptstadt Tbilisi (222 km von Kutaisi entfernt).

Zum Abflug-Airport DTM mussten wir bereits am ganz frühen Donnerstagmorgen in Hannover aufbrechen. Abfahrt des gebuchten InterCity war 3:40 Uhr (ca. 20 € pro Person). Zum Glück fuhr uns Fat Lo um 3 Uhr zum hannoverschen Hauptbahnhof (Hvala brate!), so dass wir im Vorfeld noch ein paar Stunden schlafen konnten. In den bequemen Sitzen des Nachtzuges gab es nochmal eine angenehme Ruhephase, bis um 5:30 Uhr planmäßig Dortmund erreicht wurde. Jetzt ging es mit der U-Bahn nach DO-Aplerbeck und von dort mit dem Bus weiter zum Airport. An diesem einstigen Drehort des Filmkunstwerks BangBoomBang lungerten auch schon die ersten zehn Waliser, welche die Reiseroute Wales – London – Dortmund – Kutaisi – Tbilisi gewählt hatten und es gab nochmal ein kleines Frühstück, ehe der Airbus abhob.

Nach dem für uns halbwegs bequemen und großteils verschlafenen Flug (wir hatten zu zweit ’ne 3er-Reihe, ich mit meinen kurzen Beinen am Fenster und Ole mit seinen Stelzen am Gang), ging es mit einer Marschrutka (Sammeltaxi) für 5 Lari (ca. 1,70 €) pro Person ins 25 km entfernte Stadtzentrum. Wir erfreuten uns auf der Fahrt an Kühen (mit denen wir die Fahrbahn teilten) und an verlassenen Tankstellen und Gehöften am Straßenrand. Dazu natürlich viele waghalsige Überholmanöver des Fahrers und das schöne Panorama schneebedeckter Hochgebirgsgipfel.

Am zentralen Platz in Kutaisi war Endstation und von dort waren es auch nur 500 Meter zu unserem Hotel Imperator Palace an der Kettenbrücke am Fluss Rioni. Vom Balkon hatten wir sogleich einen schönen Ausblick und beschlossen die dabei erspähte Bagratis tadzari (Bagrati-Kathedrale) zeitnah aufzusuchen. Dazu musste ein Hügel namens Ukimerioni erklommen werden, ehe uns die bereits vor über 1.000 Jahren unter König Bagrat III. erbaute Kathedrale mit offenen Toren und Türen empfing (offizieller Name: Kirche der Entschlafung der hochheiligen Gottesgebährerin). Drinnen hält sie diverse Reliquien von Heiligen parat, also asbachuralte Knochen mit Goldschmuck und ähnlichen Aufhübschungen in einer Glasvitrine. Außerdem gibt es einen großen Thron. Wahrscheinlich für den georgischen Patriarchen, wenn er mal reinschaut. Oder soll es der Thron von Kirchenstifter Bagrat III. sein? Ich gestehe, diese Rechercheleistung nicht erbracht zu haben.

Dieser dritte König namens Bagrat war es auch, der im frühen 11.Jahrhundert den Grundstein für das heutige Georgien legte. Er vereinigte unter seiner Krone die christlichen Königreiche Egrisi-Abchasien (sein ursprüngliches Reich mit Kutaisi als Hauptstadt), Tao-Klardsheti, Kachetien und Heretien zum Königreich Georgien. Nichtsdestotrotz blieb das Land an der Schwelle von Europa zu Asien bis in die heutige Zeit Zankapfel vieler Großmächte. Ob Araber, Mongolen, Perser, Osmanen oder Russen, das Land sah viele fremde Herren kommen und gehen. Die Osmanen sind übrigens dafür verantwortlich, dass die Bagrati-Kathedrale zwischen 1692 und 2012 eine Ruine war, da die türkischen Eroberer dieses christliche Bauwerk in die Luft sprengten. Dennoch wanderten die Überreste der Kathedrale 1994 ins UNESCO Welterbe, wurden jedoch diesen Sommer wieder gestrichen, weil der darüber wachende Rat nicht mit der Rekonstruktion zufrieden ist. Könnte an einem modernen Anbau liegen, den wir auch unpassend fanden und bei den Erinnerungsfotos bewusst aussparten.

Neben der Kathedrale hat der Hügel auch noch mittelalterliche Festungsruinen und natürlich einen schönen Ausblick zu bieten. Das übersichtliche Stadtzentrum zu unseren Füßen wurde nun als nächstes genauer inspiziert. Wirkte ganz und gar nicht nach Großstadt, sondern eher wie eine kleine Kreisstadt. Die rund 150.000 Einwohner Kutaisis müssen wohl vorwiegend in Trabantensiedlungen leben. Hatte immerhin den Vorteil, dass die innerstädtischen Sehenswürdigkeiten schnell abgehakt waren. Einen Blick wert sind u. a. das Lado Meskhishvili (Meskhishvili-Theater), das Meliton Balanchivadze (Opernhaus) oder die Synagoge von 1886. Alles nur wenige Meter auseinander, alles hübsch restauriert. Andere Teile der Altstadt warten dagegen noch auf Sanierung.

Als es gegen 19 Uhr dunkel wurde, stand ein Restaurantbesuch auf dem Programm. Dazu suchten wir in der bereits picobello sanierten Alexander-Pushkin-Straße das Palaty auf. Ein Restaurant mit junger Crew und Wohnzimmer-Wohlfühlatmosphäre (quasi der Hipster-Himmel von Kutaisi). Wir aßen vorweg eine äußerst delikate Käsesuppe mit gerösteten Brotwürfeln, als Hauptgang sehr würziges Rinderschaschlik mit Pilawreis und genossen dazu eine Flasche halbtrockenen Weißwein aus dem Alazani-Tal. Kostete pro Person alles zusammen umgerechnet schmale 10 €.

Zu späterer Stunde gab es noch klassische Musik von einem Pianisten und einer Violistin im Palaty dargeboten. Aber ohne weibliche Begleitung, reizte das romantische Flair nicht so. Daher räumten wir im komplett vollen Restaurant gerne unseren Tisch für ein just ankommendes Pärchen und kümmerten uns stattdessen woanders um den Digestif. Die 24-Stunden-Bar nebenan erschien uns sehr geeignet dafür. Für zweieinhalb Lari gab es hier 0,5 Liter tschechisches Importbier vom Fass (Kozel) und für eineinhalb Lari 5 cl Vodka. Die einheimischen Kerle zechten den Gerstensaft lieber aus Maßkrügen oder tranken Wodka aus Flaschen. Frauen gab es auch einige, aber es war keine zum Verlieben dabei. Egal; Who needs women, when he‚s got alcohol?

Um 22:45 Uhr Ortszeit hätten wir dann theoretisch die Elf mit dem Bundesadler bei ihrem Auftritt in Nordirland verfolgen können. But who needs football, when he’s got alcohol? Also lieber noch die Pinte gewechselt und ein paar Pints georgisches Bier namens Zedazeni in der rockigen Kellerbar El Galeon am steinigen Ufer des Rioni getrunken. Bestellt wurde unfallfrei auf Russisch, nur als wir im Smalltalk versagten, wollte der Barkeeper natürlich wissen woher wir wirklich kommen. Die ehrliche Antwort bescherte uns diverse Lieder der Band Rammstein. Gefiel dem Rest der Gäste besser als uns, aber was soll’s, wir sind ja in Georgien. Die Einheimischen sollen hier ihren Spaß haben, dann haben wir ihn auch.

So gegen 1 Uhr wurde mit den separatistischen Teilen des limbischen Systems und dem präfrontalen Cortex ein wackliger Waffenstillstand ausgehandelt. Der unvernünftige Teil unseres Gehirns wusste wahrscheinlich, dass jenes Arrangement mit Hilfe der mächtigen walisischen Verbündeten binnen weniger als 24 Stunden eh wieder gebrochen wird. Stattdessen kam es zu einem strategischen Rückzug vor Erreichen eines kritischen Promillewerts, womit sich am nächsten Morgen eine verkaterte mehrstündige Busfahrt nach Tbilisi erspart wurde. Der Wecker wurde auf 7 Uhr gestellt und dann bestanden die Betten den Bequemlichkeitstest mit Prädikat.

Am nächsten Morgen gab es erstmal einen frischen Hieb georgische Luft auf dem Balkon (das Panorama war gegenüber gestern natürlich nicht schlechter geworden) und dann wurde der Friseursalon nebenan aufgesucht. Waschen, schneiden, rasieren für 3 Lari (1 €). Ich sag es ja immer wieder; bei den Reisekosten in bestimmte Länder muss man auch immer die Ersparnis für den Friseurbesuch gegenüber daheim gegenrechnen! Quasi ein permanenter 10-€-Gutschein. Jetzt ist wohl raus, warum ich ungefähr alle vier Wochen wegfliege. Die Haare sind dann wieder zu lang geworden.

Mit kurzen Haaren und langen Schritten ging es nun auf die Suche nach Kutaisis Busbahnhof. Am altstädtischen Nippes-Markt quatschte uns ein Minibusfahrer an, nachdem wir gerade Imeruli Chatschapuri zum Frühstück gekauft hatten (rundes Weißbrot mit Käsefüllung). Wir verstanden kein Wort, sagten nur „Tbilisi?“ und er öffnete die Tür. Unser Instinkt sagte uns, dass er uns jetzt zum ZOB bringen würde und so geschah es auch. Am rund 4 km vom Stadtkern entfernten Busbahnhof wurden wir rausgeworfen und hatten einen Lari Transportgebühr zu entrichten. 35 Cent für vier Kilometer… zu Fuß gehen wäre teurer (man muss ja auch an die Abnutzung der edlen Sneaker denken)!

Jetzt ging es für 10 Lari pro Person (so ungefähr 3,50 €) mit dem Kleinbus weiter nach Tbilisi. Das wären dann nicht mal 2 Cent pro Kilometer. Und wo ich gerade am Rechnen bin; vom Wohnort zum Airport waren es gestern eigentlich auch nur 10 Cent pro Kilometer und der Flugpreis bewegte sich wiederum bei Kosten von ungefähr 0,01 € je Kilometer. Bei diesen Preisen muss man einfach reisen, erst recht wenn es so viel Neues dabei zu entdecken gibt wie im fernen Georgien. Womit ich natürlich nicht nur Nahtod-Erfahrungen im georgischen Straßenverkehr meine (die mutmaßliche Gedankenwelt unseres Fahrers: „Oh, die Kurve ist nicht einsehbar. Scheißegal, ich überhole den LKW trotzdem. Kommt Gegenverkehr, habe ich ja meine Hupe!“).

Die heutige Fahrt führte uns zusammen mit vielen Kühen und Hunden erstmal parallel zur Bahnstrecke Poti – Tbilisi – Baku (der älteste Schienenweg des Landes) durch die imeretische Gebirgswelt am Fluss Dzirula entlang. In Zestafoni war dabei ein größeres Fußballstadion zu erspähen (O-Ton Ole: „Der Ground wird auch noch weggescheppert“) und besonders die Kleinstadt Surami machte schon bei der Durchfahrt Lust auf einen richtigen Besuch eines Tages. Es gibt dort eine mächtig wirkende mittelalterliche Festung auf einem Felsen und natürlich diverse schöne alte Kirchen. Außerdem wirkt es wie die ideale Basis für ein paar Bergwanderungen.

Wenig später begann die Autobahn nach Tbilisi, welche parallel zum Fluss Kura verläuft. In nördlicher Ferne sind die Gipfel des zentralen Großen Kaukasus zu sehen (teilweise bis zu 5.000 Meter hohe Berge) und die Autobahn schien sogar komplett tierfrei zu sein. Stattdessen gab es hin und wieder menschliche Spaziergänger zu sehen, sowie einen orthodoxen Mönch als Anhalter auf dem Standstreifen. Nachdem Stalins Geburtsstadt Gori passiert war (das den weltbekanntesten Georgier aller Zeiten absolut unkritisch verherrlichende Stalin-Museum soll einen Besuch wert sein), wurde nochmal ein Stündchen bis zum Reiseziel gepennt.

In Tbilisi wurden wir im Norden der Stadt an einem Busbahnhof herausgelassen (Didube) und erlebten hier wirklich ein buntes Treiben, wie man es in orientalischen Ländern erwartet. Viele Menschen boten hier Lebensmittel oder Nippes feil und noch mehr stellten ihre Transportdienstleistungen ins Schau- bzw. ins Auto- oder Kleinbusfenster. Wir waren aber fest gewillt die letzten 6 km zum Appartement vorwiegend mit der Metro zurückzulegen. Denn natürlich war hier eine Umsteigemöglichkeit zum Schienenverkehr und eine einfache Fahrt kostete einen Lari (0,35 €) zuzüglich einmalig einen weiteren Lari für die wiederaufladbare Chipkarte.

Also rein ins Pendlervergnügen und die fünf Stationen zum Untergrundbahnhof Rustaveli gefahren (witzigerweise genau das älteste Teilstück der Metro Tbilisi von 1966). Die 120 Meter lange Rolltreppe dort (U-Bahnhöfe liegen hier sowjettypisch bis zu 60 Meter unter der Erde) warf uns am Ende in einem hektischen Hauptstadttreiben heraus. Kurz am Respublikis Moedani (Platz der Republik) orientiert und dann den Straßenhändler- und Bettlerslalom zum Altbau unseres Appartements gestartet. Dieses war zentral, aber ruhig gelegen und die Einrichtung war einfach, aber ausreichend. Für umgerechnet 23 € war das ein guter Deal und die nette in der Nachbarwohnung lebende Vermieterfamilie dürfte mit 70 Lari ’ne Menge anfangen können.

In sechs Stunden würde nun Anstoß sein. Deshalb machten wir es uns natürlich gar nicht erst bequem, sondern brachen so schnell wie möglich wieder auf. Wenige hundert Meter südlich der temporären Wohnstätte markierten die Reste der mittelalterlichen Stadtmauer den Beginn der Altstadt. Es ist ein megacooles historisches Zentrum, in dem das meiste an Bausubstanz bereits meisterlich saniert wurde. Nur die Bürgersteige hatten so ihre Stolperfallen parat, aber wir manövrierten uns unfallfrei in die Straße namens Erekle II, die zusammen mit den umliegenden Gassen das gastronomische Herz der Altstadt ist (der Namenspatron der Strasse war im 18.Jahrhundert ein georgischer König und stellte damals sein Reich unter den Schutz Russlands, was wenig später, anno 1801, zur Annexion Georgiens an das Zarenreich führte).

Hier waren alle Bars und Restaurants fest in der Hand der Waliser. In einem der Restaurants gönnten wir uns nun neben dem ersten Pint auch die Hauptmahlzeit des Tages. Es gab Schaschlik (außen kross, innen supersaftig) und Hackspieße (in Lavashbrot gerollt), sowie für jeden fünf Chinkali. Das wiederum sind georgische Teigtaschen mit Hackfleisch. Weil die Fleischfüllung in einer würzigen Brühe schwimmt, beißt man die Tasche auf, schlürft erst die Brühe und verzehrt dann den Rest. Dazu wurden übrigens noch geröstete Kartoffeln und Satsebeli (georgische Tomatensauce) serviert und wieder waren wir jeder nur ca. 10 € los.

Ole und ich hatten nun die verlockende Möglichkeit in dieser Straße mit den Walisern bis Spielbeginn zu versacken oder nochmal zwei, drei Stunden Sightseeing zu betreiben. Wir wählten natürlich zunächst das touristische anstatt das trinkkulturelle Programm. Denn wir waren noch zu nüchtern, um uns einzureden, dass man sich doch morgen auch noch alles in Ruhe angucken könnte. Es war einfach zu realistisch, dass es spätabends noch am Glas eskaliert und dann würde ich am Folgetag sicher nicht mit Freude durch die Stadt und auf irgendwelche Berge latschen wollen. Schon gar nicht nach dem Check-out mit Gepäck am Mann. Deshalb galt das Motto: Was du heute kannst besorgen…

Dafür suchten wir zunächst die Sionis tadzari (Sioni-Kathedrale) unweit der Kneipenstraße auf. Ursprünglich ein Bauwerk aus dem 5.Jahrhundert und eine der ältesten christlichen Kirchen des Landes (bereits 337 n. Chr. wurde das Christentum Staatsreligion in Georgien). Allerdings ist überirdisch nichts mehr vom Altbau übrig. Was wir heute sehen, ist aus dem 17. bis 19.Jahrhundert und schien vor wenigen Jahren zuletzt renoviert worden zu sein. Bis 2004 war die Sioni die Patriarchalkathedrale der georgisch-orthodoxen Kirche, ehe sie von der neu gebauten riesigen Tbilisis cminda samebis sakatedro tadzari (Dreifaltigsfaltigskathedrale) außerhalb der Altstadt von Tbilisi abgelöst wurde (für die wir heute leider keine Zeit hatten).

Als nächstes steuerten wir den Bäderbezirk Abanotubani an. Zeit für etwas Sprachkunde: Tbili ist das georgische Wort für warm und Tbilisi könnte man in etwa mit „Warme Quelle“ übersetzen. Diese Namensgebung verdankt Georgiens Hauptstadt seinen schwefelhaltigen Quellen, die seit der Stadtgründung rege genutzt werden. Abano heisst auf Georgisch übrigens Bad und ubani ist das Wort für Bezirk. In jenem Bezirk sind noch zahlreiche historische Schwefelbäder gut erhalten, deren Kuppelbauweise persisch anmutet. Die Illusion, sich jetzt bereits rund 1.000 Kilometer weiter südöstlich zu befinden, macht dann noch das schmucke Chreli Abano (Orbeliani-Bad) aus dem Jahre 1893 perfekt, welches im Stile einer persischen Madrasa gebaut ist, mit gefliesten orientalischen Mustern an der Fassade.

Hinter den Bädern beginnt übrigens ein Canyon mit einem Wasserfall, der nur leider aktuell wegen Steinschlaggefahr für Besucher gesperrt ist. Also wurde der Programmpunkt gestrichen und vorzeitig mit dem Erklimmen des Festungsberges Sololaki begonnen (die Seilbahn ist was für Familien und Rentner ;-)). Ist ein ziemlich steiler Felsen, was erklärt, warum die Festung als uneinnehmbar galt und Narikali getauft wurde (das ist persisch für „uneinnehmbare Burg“). Die persischen Sassaniden waren die Erbauer der Festung (3.Jahrhundert), welche natürlich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter ausgebaut wurde. Bis im Jahre 1827 ein Blitz in ein Pulverfass einschlug und eine explosive Kettenreaktion fast die ganze Burg zerstörte. Mangels militärischer Bedeutung in der Neuzeit, verzichtete man auf einen Wiederaufbau. Den ruinösen, aber zu weiten Teilen doch noch recht guten Zustand, finde ich irgendwie besonders ansprechend.

Natürlich hatte man hier eine fantastische Aussicht auf die Millionenstadt Tbilisi. Von oben erspähten wir neben unzähligen modernen und historischen Sehenswürdigkeiten auch eine Bar am Ufer der Kura, welche die Waliser ordentlich beflaggt hatten. Sah gemütlich aus und wir hatten unser Touri-Pensum erreicht, also nichts wie hin da!
Auch hier herrschte gute Stimmung, wenn auch schon der erstbeste Waliser mit dem Kopf auf dem Tisch schlief. Absolut Meme-taugliches Bild; „Jeder kennt diesen einen Typen, der auswärts schon vor’m Spiel in der Kneipe einschläft.“ Wir kamen schnell mit ein paar älteren und munteren Casuals aus dem Norden des Landes ins Gespräch (aus der Ecke rund um Caernarfon) und verstanden uns auf Anhieb. Diverse Biere für 5 Lari (1,70 €) wurden in der Abenddämmerung gestürzt und als man erfuhr, dass wir noch ohne Tickets sind, wurde schnell zum Telefon gegriffen.

Nur wenige Minuten später stand ein weiterer Dedicated Follower of Fashion auf den Holzplanken der Terrasse und hatte zwei Tickets für uns. Diolch Ian! Dazu ein weiteres Angebot, was man eigentlich nicht ablehnen kann: „Do you have already tickets for monday? If not, I could arrrange something“. Wie gerne hätte ich nun zugesagt zu der bevorstehenden epischen Schlacht gegen die Republik Irland nach Cardiff zu kommen. Aber verdammt, ich bin mittlerweile doch ein verantwortungsvoller Erwachsener geworden, der Montag (und Dienstag) pflichtbewusst auf der Arbeit erscheinen wird, anstatt ein Fußballspiel zu sehen, welches sich eventuell irgendwo zwischen Sevilla vs. 96 und Zvezda vs. Krasnodar eingereiht hätte (inklusive einer Pubtour in Cardiff, die ebenfalls Referenzwerte in der persönlichen Spitzengruppe hätte suchen müssen).

Egal, genießen wir das Hier und Jetzt. 18 Uhr war durch und die meisten Waliser brachen mit den vom Verband gecharterten Shuttlebussen zum Stadion auf. Unsere neuen Freunde tickten aber wie wir. „Was sollen wir jetzt schon im Stadion, wenn man auch noch ’ne Stunde hier Bier trinken kann?“ Ein paar Trikotträger aus Südwales blieben ebenfalls und man rückte zusammen. Sie tranken komischerweise Champagner, was sie sich letztes Jahr in Frankreich bei der EM angewöhnt haben wollen. Ein Typ von ihnen kam aus Caerphilly und wir tauschten uns erstmal über alle Pubs in der örtlichen Cardiff Road aus. Da wurden Erinnerungen wach an die Jahre 2012 bis 2016!

Ein Typ aus Pontypridd versprach uns derweil, dass ein gewisser David Brooks (20 Jahre, aktuell bei Sheffield United unter Vertrag) Bale, Ramsey oder das Wonderkid Woodburn noch alle in die Tasche stecken wird. Er sei definitiv das größte Talent, welches Wales je hatte und in vier oder fünf Jahren werden wir an seine Worte an diesem Abend in Tbilisi denken, wenn Brooks für Real Madrid oder Paris Saint-Germain spielt und alle bisherigen Ablöserekorde gebrochen haben wird. Dann leerte der Waliser sein Champagnerglas und sprach nochmals die selben Worte wie zuvor: „He’s fucking magic. Keep an eye on him.“

Man hätte jetzt noch ewig den Geschichten von der EM 2016 lauschen können („Beim Halbfinale hätten wir alle schon wieder Arbeiten müssen.“ „Und, wieviele sind nach Hause geflogen?“ „Natürlich keiner!“), doch heute stand ja auch noch ein bedeutendes Spiel an, dessen Ausgang wichtig für die Frage ist, ob das Fußballwunder der walisischen Nationalmannschaft kommenden Sommer ein neues Kapitel bekommt. Also gegen 19:15 Uhr ins Taxi gesprungen und ab zum georgischen Nationalstadion. Dort wollte der Fahrer tatsächlich 30 Lari haben. „Wovon träumst du nachts, du Depp? Dafür müsstest du uns mindestens bis Gori fahren.“ Weil wir es nicht kleiner hatten, durfte er sich immerhin über 10 Lari freuen. Aber auch das war eigentlich zu viel. Egal, wer will ihm verübeln, dass er es versucht? Bei Erfolg hätte er wahrscheinlich sofort Feierabend machen können.

Da das Gros der über 2.000 Waliser bereits vor zwei Stunden mit den Shuttles angereist war, ging es kurz vor Anpfiff ohne Anstehen ins Stadion und hier erwartete einen außerhalb des Gästeblocks leider viel gähnende Leere (13.120 Zuschauer waren es insgesamt). Wales lockt sicher kaum einen georgischen Eventfan vor’m Ofen hervor und für die georgische Nationalelf ging es heute nur noch um die Ehre, während Wales noch auf ein WM-Ticket hofft. Jedoch dürften die Georgier bei dieser Ansetzung an einen ihrer größten Triumphe denken und die Waliser an eine ihrer derbsten Niederlagen. Wales heutiger Coach Chris Coleman war damals selbst als Spieler dabei, als die walisische Auswahl 1994 in Tbilisi mit 0:5 aus ihrer Sicht unterging.

Denkbar knapp war man wenige Monate zuvor im entscheidenden Spiel an Rumänien gescheitert, als es um das WM-Ticket in die USA ging. Nun sollte unbedingt die Qualifikation für die EM 1996 im Nachbarland England gelingen. Doch eine auf dem Papier hoffnungsvolle FAW-Auswahl (mit u. a. Southall, Rush, Hughes und Supertalent Ryan Giggs) hatte aus den ersten beiden Spielen gegen Albanien (2:0) und Moldawien (2:3) nur drei Punkte geholt. Nun stand man gegen den vermeintlich dritten Fussballzwerg der Gruppe, Georgien, bereits mächtig unter Zugzwang, da sich die Favoriten Deutschland und Bulgarien noch keine Blöße gegeben hatten.

Der junge Giggs trat die Reise nach Georgien damals nicht an, jedoch war dennoch eine starke Truppe am Start. Liverpool-Legende Ian Rush und ManUnited-Legende Mark Hughes waren Stürmer von internationaler Klasse und Dean Saunders (damals Aston Villa) war ähnlich treffsicher wie die beiden. Dazu mit Neville Southall einer der besten britischen Torhüter der 1980er und 90er Jahre (über 500 Spiele für Everton) und davor in der Abwehr u. a. Chris Coleman (damals Crystal Palace) und Andy Melville (Sunderland), sowie im Mittelfeld Gary Speed (Leeds United) und Mannschaftskapitän Barry Horne (Everton). Alles Stammspieler in der Premier League seinerzeit. Dennoch gingen die Favoriten vor 55.000 Zuschauern in dem damals bürgerkriegsgebeutelten Land sang- und klanglos unter. Ein Doppelpack von Georgiens Mittelfeldstar Temur Ketsbaia (ab 1997 drei Jahre Stammspieler bei Newcastle United) und Tore von Routinier Gocha Gogrichiani und den beiden 21jährigen Talenten Georgi Kinkladze (später Stammspieler bei u. a. Man City) und Shota Arveladze (später jahrelang treffsicherster Stürmer bei Ajax und den Rangers) beerdigten quasi bereits am 3.Spieltag den EM-Endrundentraum der Waliser.

Die Fans hatten auch so ihre Geschichten von diesem Spiel zu erzählen. Ab 19 Uhr war damals am Vorabend des Länderspiels offiziell Ausgangssperre in Tbilisi und der Strom wurde über Nacht abgestellt. Nichtsdestotrotz büchsten die damals elf mitgereisten Fans (acht davon waren heute wieder hier) aus dem Hotel aus und ließen sich zum einzigen Ort der Stadt fahren, wo es Strom und Alkohol gab; ein Casino der Mafia! Sie gönnten sich dort zusammen mit Teilen der U21-Auswahl (die bereits am Nachmittag gespielt hatte) ein paar Drinks, bis draußen vor der Tür jemand erschossen wurde und sie sich besser wieder vom hoteleigenen Bus abholen ließen. Am Spieltag wiederum war es auch schwer vor’m Spiel eine Bar zu finden. Jene, die sie fanden, hatte nur Vodka pur im Ausschank. Davon nahmen sie dann noch ein paar Flaschen to go mit ins Stadion, wo den Soldaten am Einlass erzählt wurde, dass in Wales üblicherweise jeder mit Schnapsflaschen ins Stadion kommt. Die Georgier wollten nun gute Gastgeber sein und die Waliser hatten so wenigstens Schnaps im Fanblock, um das Debakel auf dem Rasen erträglicher zu machen.

Aber jetzt mal zurück in die Gegenwart; schon beim Hinspiel im Vorjahr wurden die Georgier fast erneut, ganz wie ihr biblischer Namenspatron (der heilige Schorse), zum Drachentöter. Der EM-Halbfinalist Wales kam im heimischen Cardiff nicht über ein 1:1 hinaus. Heute mussten es zwei Punkte mehr werden, um eine Restchance auf Platz 1 zu wahren und sich eine sehr gute Ausgangspostion in Sachen Platz 2 für das letzte Gruppenspiel gegen den Tabellendritten Republik Irland zu erarbeiten. Dass Superstar Gareth Bale fehlte, war dabei natürlich nicht hilfreich. Nicht nur, weil er immer für ein Tor gut ist, sondern vor allem, weil er meist mehrere Spieler des Gegners bindet und dann Aaron Ramsey oder Joe Allen viele Freiräume bekommen, die beide oft zu nutzen wissen. Doch für Georgien muss es, bei allem Respekt, auch ohne Bale reichen. Jedenfalls, wenn man meint, dass man bei der WM-Endrunde was zu suchen hat.

Dass die Fans gewillt waren ihre Mannen zum Sieg zu tragen, bewiesen sie gleich bei der Nationalhymne. Als die Melodie von Hen Wlad Fy Nhadau (Old Land of My Fathers) erklang, erhob jeder seine Stimme und es war auch überhaupt kein Problem, dass die Stadionregie ziemlich zur Mitte hin die Hymne abbrach. Da wurde halt voller Inbrunst ohne Instrumentalbegleitung weitergesungen. Es folgten langgezogene Wales-Rufe und der Marsch Rhyfelgyrch Gwŷr Harlech (Men of Harlech). Beschwingt versuchte Aaron Ramsey gleich in der 3.Minute für die frühe Führung zu sorgen, aber der erste Torschuss des Spiels ging knapp am Gehäuse vorbei. Wales kontrollierte das Spiel und kam in der 18.Minute zur nächsten großen Chance. Doch Andy Kings Volleyschuss, nach toller Vorarbeit von Joe Allen, konnte Georgiens Torwart Loria wegfausten.

Georgien dagegen gelang es in der 1.Hälfte nicht zu Torschüssen zu kommen. Ihr frühes Attackieren des walisischen Spielaufbaus provozierte allerdings einen brisanten Rückpass in der 30.Minute, den Schlussmann Hennessey eine Millisekunde vor dem georgischen Angreifer Kvilitaia erwischte. Im Gegenzug erfolgte nun fast das ersehnte und verdiente 1:0 aus walisischer Sicht. Hennesseys langer Ball wurde von King auf Ramsey verlängerte, der von Rechtsaußen quer auf Sam Vokes in den Strafraum passte. Leider ging der Abschluss des Stürmers in den Diensten des Burnley FC knapp neben das Tor. Vokes war es auch, der fünf Minuten später auf Tom Lawrence ablegte, welcher aber leider seinen Torschuss knapp über die Latte platzierte. Dann war Halbzeit, also Zeit für das WC, den Imbißstand und eine erste Zwischenbilanz mit unseren Kumpels.

Wales war in den ersten 45 Minuten klar besser, hatte vier gute Chancen, aber das erlösende Tor sollte erst kurz nach dem Wiederanpfiff fallen. 48.Minute: Tom Lawrence bekommt 30 Meter vor dem gegnerischen Tor ein Zuspiel von Ramsey, kann sich mit Tempo und zwei Ballberührungen von den Gegenspielern lösen und feuert aus 18 Metern unhaltbar in den Torwinkel. Ein Traumtor des einstigen Toptalents (10 Jahre Jugendakademie und ein Jahr Profi bei Manchester United), der die letzten drei Jahre bei Leicester City nicht richtig zum Zuge kam und nun mit 23 Jahren bei Derby County einen Neuanfang wagt. Die Freude war im Gästesektor natürlich unbeschreiblich. Nur wer jetzt (wie ich) glaubte, das Tor gäbe einer bisher überlegenen Mannschaft die nötige Sicherheit, um die drei Punkte locker einzusacken, irrte.

Das brutal laute „Don’t Take Me Home“ der Waliser war zwar der Soundtrack für zahlreiche weitere gute Chancen, aber die Verwertung blieb unbefriedigend und Georgien lauerte auf Konter im eigenen Stadion. Auch die georgischen Fans gaben ihr Team nicht auf. Der kleine, aber stets bemühte Fanblock („Viel Bewegung, guter Armeinsatz, aber akustisch nicht zu vernehmen“, hätte man in deutschen Ultrà-Foren vor 10 Jahren geschrieben) schaffte es mittlerweile, dass der Rest des Heimpublikums nicht nur mit Smartphonelichtern und nervigen Vuvuzelas für Stimmung sorgen wollte, sondern auch mit in die Anfeuerungsrufe einstieg. Erst recht nachdem uns in der 80.Minute fast das Herz stehen blieb. Flügelflitzer Merebashvili brachte einen gefährlichen Schuss auf’s Gästetor, den Ashley Williams auch noch unglücklich abfälschte. Aber irgendwie kam Hennessey noch mit den Fingerspitzen an den Ball und verhinderte Schlimmeres.

Wales wackelte nun die letzten 10 Minuten nochmal ordentlich und Coleman wollte mit Dave Edwards (für Joe Ledley) die Defensive stärken und mit dem jungen Edeltechniker Ben Woodburn außerdem Bälle in der gegnerischen Hälfte festmachen (kam für Lawrence). Der Plan ging auf und auch die drei Minuten Nachspielzeit überstand das Team mit dem roten Drachen auf der Brust schadlos. Der Abpfiff sorgte für riesige Erleichterung in unserem Fanlager. Man hat nun für’s Endspiel in drei Tagen die bessere Ausgangsposition als Irland (Remis würde für Platz 2 reichen), bleibt in dieser Quali weiterhin ungeschlagen und kann tatsächlich auch ohne Gareth Bale Spiele gewinnen (auch für Montag fällt der walisische Weltstar leider aus).

Nachdem die Fahnen abgehangen waren, ging es mit unseren Kumpels Ian, Corwyn, Tal, Paul und Co in die Shuttlebusse und damit ab ins Stadtzentrum. Wurde zu einer halbstündigen Saunatour, die den Durst natürlich nicht verringern konnte. Ich rechnete nun mit dem unweigerlichen Einmarsch in den Irish Pub, aber stattdessen wollten sie zunächst mit uns in die German Bar. Wir erwarteten ein Imitat des Münchner Hofbräuhauses, wurden aber noch negativer überrascht. Die German Bar war eine Cocktailbar und Shisha Lounge, wie sie mittlerweile auch tatsächlich in deutschen Großstädten immer omnipräsenter werden. Vielleicht war der Betreiber jüngst in einer westdeutschen Innenstadt unterwegs und bekam dabei den Eindruck, Shisha Lounges seien die typische deutsche Ausgehkultur? Nicht mal deutsches Bier gab es. Ich hatte die Wahl zwischen Efes, Heineken und georgischem Gerstensaft (Natakhtari oder so) und natürlich bekam der Lokalmatador den Zuschlag für 7 Lari.

„Jungs, trinkt aus. Wir ziehen weiter.“ war uns als Ansage nach zwei Getränkerunden sehr willkommen. Ein weiterer Mob Waliser war in der Corner Bar, die, ihr ahnt es, gleich um die Ecke war. Erschreckenderweise auch eine Shisha Lounge, aber für die Waliser ist das wohl etwas Exotisches, was sie in so einem semi-orientalischen Land unbedingt mal machen wollen. In Wales gibt es jedenfalls kaum Shisha Bars und diese hier war im Gegensatz zur German Bar auch wirklich einladend. Es gab normales Licht anstatt dieses ungemütliche Neonlicht und es dröhnte auch kein R&B-Elektro-Gemisch aus den Boxen, sondern die Manic Street Preachers sangen „Together Stronger (C’mon Wales)“ und wir sangen mit. Hier ging nebenbei bemerkt ordentlich Bier über’n Tresen und richtige Fußballkneipenatmosphäre kam auf.

Getoppt werden konnte die Stimmung nur noch mit dem Besuch der Karaokenacht im Irish Pub (also doch noch Pub, hätte mich sonst auch stark gewundert). In dem gut gefüllten Schuppen, mit ebenso gut gefüllten Walisern, platzierten wir uns strategisch gut zur Karaokebühne. Um am Mic zu performen, musste man wie auf dem Amt ’ne Nummer ziehen und wurde dann irgendwann aufgerufen. Hier sangen nun Georgierinnen mit wirklich lieblichen Stimmen, die in erster Linie Liebeslieder ausgewählt hatten, sowie georgische Typen, die voller Inbrunst Songs wie „Wind of Change“ schmetterten. Der Song gehört glaube ich in der kompletten ehemaligen UdSSR zum gemeinsamen Musikerbe (ich bin sicher, die Rock-Opas aus Hannover würden in Georgien immer noch problemlos das Nationalstadion füllen).

Die ebenfalls fleißig mit Tickets ausgestatteten Waliser hatten dagegen so Songs wie David Bowies „Starman“ oder Chaka Khans „Ain’t Nobody“ erwählt, die mit den bereits aus dem Stadion bekannten Fantexten vom ganzen Saal mitgesungen wurden. „There’s a starman, playing on the right, his name is Benny Woodburn and he’s fucking dynamite“ bzw. „Ain’t nobody like Joe Ledley, makes me happy, makes me feel this way“. Dazu natürlich Evergreens wie „Delilah“, „Sweet Caroline“ und sehr zu meiner Überraschung hatte die Karaokemaschine auch „I Am The Resurrection“ von den Stone Roses im Repertoire. Die Stimmung war unbeschreiblich gut und meine Stimmbänder hochgradig gefordert!

Erst um 6 Uhr morgens, nachdem man geschätzt 96 Lari ins Gastgewerbe von Tbilisi gesteckt hatte, ging es zurück zum Appartement und es wurde nun logischerweise bis mittags durchgeschlafen. 12 Uhr mussten wir auschecken und die frische Luft und ein Kaffee am Rust’avelis Gamziri (Rustaveli Boulavard) waren jetzt gar nicht mal das schlechteste. Gott sei Dank hatten wir uns gestern schon die Altstadt touristisch erschlossen. Wie erahnt wäre Sightseeing heute der absolute Horror gewesen. Gut, die Überlandbusfahrt nach Kutaisi wird auch nicht cool, aber wenigstens muss man sich dabei nicht selbst bewegen.

Per Metro ging es gegen 13 Uhr wieder von der Station Rustaveli zum Busbahnhof. Die Fahrer der Überland-Marschrutkas fingen einen gleich am Ausgang der Metro ab. „Batumi? Kutaisi? Zugdidi?“ „Kutaisi!“ „Okay, 10 Lari!“ Das Treiben am Busbahnhof war wie vor 24 Stunden sehr bunt und einmal mehr fiel das Faible der Georgier für Trainingsjacken von deutschen Amateursportvereinen auf (z. B. Güldenstern Stade, SuS Lehe, Rotenburger SV oder TuS Hachen). Ein Selfie mit einem Georgier im Tracktop des SC Asel wirkte nicht unrealistisch, war mir aber leider nicht vergönnt. Schade, hätte es doch kurz die Zeit vertrieben, denn wir waren erst die Gäste Nr. 3 und 4 im Kleinbus.

Nachdem nach rund 30 Minuten Wartezeit alle 15 Sitze besetzt waren, ging der Höllenritt los. Vier Stunden bei Bullenhitze und ohne Beinfreiheit, mit dem Kater des Jahrhunderts im Gepäck. Warum nur haben wir keine Scheiß-Apotheke gefunden, in der wir für wahrscheinlich einen Lari ’ne Familienpackung Aspirin bekommen hätten? Wenigstens mussten die Kopfschmerzen sich das Gehirn mit den Ohrwürmer von letzter Nacht teilen. Zum Glück für die Mitreisenden waren wir schon wieder zu nüchtern, um laut loszusingen. Wir bemerkten sogar zufällig, dass der Bus ganz nah an der Grenze zu Südossetien entlang fuhr. Aber russische und georgische Panzer waren heute keine aufgefahren.

Ich unterstelle mal frech, dass viele meiner Leser wenig über Georgien und die Kaukasusregion wissen. Ich selbst würde die Region als noch komplizierter als den Balkan charakterisieren, was sich an den zahlreichen Konflikten innerhalb und zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion an Europas Südostflanke manifestiert. Georgien bildet da keine Insel der Glückseligen und die Zentralregierung kontrolliert rund ein Fünftel des Staatsgebiets nicht. Mit dem Ende der Sowjetunion hat sich 1991 nicht nur Georgien von dieser Föderation gelöst, sondern auch die autonomen georgischen Teilrepubliken Abchasien und Südossetien haben sich kurz darauf von Georgien unabhängig erklärt. Beides sind nun schon seit 1992 de facto eigenständige, von Russland unterstützte und stabilisierte Staatsgebilde. Und Adscharien, an der südlichen Schwarzmeerküste Georgiens (rund um die Hafenstadt Batumi), war ebenfalls bis 2004 abtrünnig. Erst als der dortige Alleinherrscher Aslan Abaschidse bei Putin in Ungnade gefallen war, konnte Georgien wieder die Kontrolle über die Region übernehmen, wenn auch weiterhin eine gewisse Autonomie von Tbilisi gewährt wird.

Es ist wohl generell die NATO- und EU-Orientierung der Georgier, die Putin und dem Rest des Kremls nicht schmeckt. Aber gleichwohl schmeckt den Südosseten (und den Abchasiern) auch keine georgische Diskriminierung ihrer Völker. Die Sowjetunion war nicht nur ein polyethnischer Staatenbund, sondern die Teilrepubliken waren i. d. R. ebenfalls polyethnisch bevölkert und die Grenzen teilweise willkürlich gezogen (z. B. gehört Nordossetien zur Russischen Föderation und Südossetien de jure zu Georgien). Gerade der Kaukasus ist Heimatregion für etwa 50 Volksgruppen, wovon rund die Hälfte in Georgien nennenswerte Populationen hat bzw. hatte. Aufgrund von georgischer Ethnokratie seit der Unabhängigkeit, machen die Georgier mittlerweile über 80 % der Staatsbevölkerung aus (Abchasien und Südossetien ausgeklammert). Abchasier und Osseten sind in die abtrünnigen Gebiete ihrer Volksgruppen übergesiedelt, Russen – einst über 6 % der Bevölkerung, nun nur noch 1,5 % – sind zurück nach Russland, Juden nach Israel, Pontosgriechen nach Griechenland, Azeri nach Aserbaidschan und Armenier nach Armenien. Die Armenier waren z. B. mit 30 % um 1900 noch die größte Bevölkerungsgruppe in Tbilisi, während dort damals lediglich 25 % der Bewohner ethnische Georgier waren. Heute machen die Armenier nur noch 5 % der Haupstadtbevölkerung aus (90 % sind gegenwärtig Georgier). Nichtdestotrotz gibt es in Georgien auch noch Regionen mit armenischer Bevölkerungsmehrheit, wo die Diskriminierung von allem Nicht-Georgischen, wie dereinst in Abchasien und Südossetien, für Unfrieden sorgt.

Will Georgien wirklich die Westintegration, muss es in Sachen Minderheitenschutz noch aufrüsten. Und mit Gewalt werden die abtrünnigen Landesteile auch nicht zurück zu bekommen sein. Zuletzt zeigte Russland 2008, dass es bereit ist Südossetiens und Abchasiens de-facto-Unabhängigkeit von Tbilisi (und de-facto-Abhängigkeit von Moskau) auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Nach dem Motto „Wenn die meisten großen Staaten der Welt die Sezession des Kosovo von Serbien anerkennen, müssten sie auch unsere Sezession von Georgien anerkennen“, wurde 2006 ein Referendum über die Unabhängigkeit von Georgien in Südossetien abgehalten und 99 % der Wahlberechtigten wollten einen eigenen Staat Südossetien. Georgien pocht dagegen auf eine Föderation mit starken Autonomierechten, um den Streit beizulegen. 2008 kam es dann zu einem georgischen Einmarsch (dem natürlich gegenseitige Provokation und Inszenierungen vorangegangen waren) und einem fünftägigen Krieg (rund 850 Tote), bei dem Russland zusammen mit den südossetischen Milizen die Georgier zum Rückzug zwang. Die Tiefe dieses Konflikts (mit Vorgeschichte, Verbrechen und Folgen) ist natürlich an dieser Stelle nicht darstellbar, aber noch im selben Jahr erkannte Russland Südossetien offziell als Staat an und bis heute gab es keine wirkliche Annäherung zwischen Georgien und Südossetien. Dazu haben die Russen derweil massenhaft Osseten (und Abchasier) eingebürgert. Das hat den Hintergrund, dass die Russen 2010 ihre offizielle Militärdoktrin änderten, die nun besagt, dass ein Einsatz der Armee zum Schutz russischer Bürger im Ausland gerechtfertigt ist. Die Ereignisse ab 2014 in der Ukraine haben dementsprechend auch Georgien sehr unruhig werden lassen.

Nach vier Stunden endete unsere Busfahrt im von Georgien zu 100 % kontrollierten Kutaisi und als wir mitbekamen, dass eine mitreisende Backpackerin nicht genug Geld für ihre Weiterfahrt zum Flughafen hatte, spendeten wir ihr noch 5 Lari. Jeden Tag eine gute Tat! Zur Belohnung stand schon gleich die Marschrutka in die Altstadt parat und hatte noch genau zwei Plätze frei. Im Imperator Palace wurden wir vom betagten Betreiber-Ehepaar wie alte Freunde begrüßt und es gab erneut Zimmer Nummer 12. Übrigens haben wir an beiden Tagen keine anderen Gäste in dem Hotel bemerken können. Hatte was von Nordkoreaurlaub. Aber 55 Lari klingen als Tageseinnahme bei geschätzten 200 Lari georgischer Einheitsrente pro Monat auch gar nicht so übel.

Mit immer noch zuviel Fremdwährung in den Taschen ging es nochmal ins Restaurant Palaty. Es gab wieder eine Flasche Wein für uns, Schaschlik und Pommes für Ole und Rindfleischstreifen in Estragonsauce und Kartoffelspalten für mich. Man muss ja mal was Neues probieren und ich erhoffte mir natürlich heilende Wirkung von den Kräutern. Ob es nun am Estragon oder am Wein lag oder einfach daran endlich was im Magen zu haben, auf jeden Fall fühlte ich mich nach dem Essen viel besser als auf der Busfahrt. Entsprechend wurden im Anschluß auch noch ein paar Lari für Bier in der Rockerbar gelassen. Auf der Terasse der Kneipe am Fluss Rioni ließ es sich ganz gut aushalten. Dennoch wirkte die ganze Stadt schon gegen 20 Uhr wie ausgestorben. Donnerstag habe ich mir nichts dabei gedacht, aber dass auch Samstagabend überhaupt nichts in Kutaisi los ist, hat mich dann schon gewundert. Urlaubsplanung für nächstes Mal Georgien: Unter der Woche in den Bergen wandern und mittelalterliche Klöster rund um Kutaisi besichtigen, sowie ein bis zwei Strandtage in Batumi und zum Abschluss ein Partywochenende in Tbilisi. Das dürfte ideal sein.

Da wir schon in aller Frühe zum Flughafen mussten, ging es gegen 22 Uhr zurück ins Hotel. Mangels sofortiger Müdigkeit wurde noch das TV-Programm geprüft. Auf Position 1 der über 300 TV-Sender war sogleich ein islamischer Telefonsexsender (also islamisch im Sinne von: An ein islamisches Publikum gerichtet). Wer da nun unkeusche Gedanken bekam, konnte zum Glück zu einem der ca. 96 islamisch-religiösen Sender weiterschalten. Zum Beispiel Koran Hedayah TV. Hier wird der Koran Sure für Sure abgebildet und auf Hocharabisch simultan vorgetragen. Allerdings gab es auch rund ein Dutzend Sendeplätze bei denen das Ganze mit Übersetzungen lief, u. a. Koran Hedayah TV German und Koran Hedayah TV Farsi. Und apropos Farsi, es gab auch genug Sender, wo iranische Mullahs in die Kamera predigten.

Man glaubte zunächst in einem islamischen Land zu sein, aber es kamen irgendwann noch zig georgische Sender, die auf uns wie Propagandasender wirkten. Und Kazakh TV lobpreiste schließlich den kasachischen Führer und seine Errungenschaften. Einen Musiksender suchten wir leider vergeblich, Fußball gab es nur bei Dubai Sports TV (Arabian Gulf League wurde live übertragen) und erst auf Sendeplatz 312 kam mit dem ZDF ein deutschsprachiger Sender. Heute führte dort Thomas Gottschalk ab 22:15 Uhr georgischer Zeit durch eine Nena Show zu ihrem 40jährigen Bühnenjubiläum. Unser Beitrag dazu im Stile der Flippers: „Wir sagen Dankeschön, 40 Jahre die Nena. Wir glauben’s selber kaum, 40 Jahre die Nena.“

Schon um 3 Uhr morgens klingelte der Wecker. Die Marschrutka, die 3:30 Uhr abfahren sollte, war anscheinend schon weg, also einen Taxifahrer abseits von seinen restlichen Kollegen angequatscht und 20 Lari für 25 km klang mehr als fair. Weil er am Ziel nicht wie erwartet plötzlich 20 Lari pro Person haben wollte, sondern es bei einem Zwanziger insgesamt blieb, gab es noch ein üppiges Trinkgeld. Die verdammten Lari müssen schließlich endlich weg. Hätten wir nicht noch Frühstücken wollen, hätte er ruhig alles haben können. Aber so brauchten wir noch circa 20 weitere Lari für das berühmte Mineralwasser Borjomi und diverse Teigwaren (Blätterteigtaschen mit Kartoffelfüllung und ein paar furztrockene Chatschapuri).

Nach völlig verschlafenem Flug, spazierten wir zu Fuß die 1,3 km zum Bahnhof Holzwickede und dort wurde der kalkulierte, aber nicht benötigte Sicherheitspuffer mit einem leckeren Frühstück bei der Bäckerei Grobe sinnvoll umgewidmet. Für 4 € gab es dort Rührei mit Schinken und zwei Brötchen mit Aufschnitt. 9:39 Uhr ging es mit National Express weiter nach Hamm und dort erhielten wir die Info, dass unser gebuchter InterCity um 10:44 Uhr sturmbedingt entfällt. Also gleich in den ICE um 10:11 Uhr rein und somit fast eine Stunde früher als geplant daheim gewesen. Ole konnte nun sogar um 13 Uhr noch Fußball spielen (mit dem SC Itzum in Heisede), während mein SC Asel beiden Herrenmannschaften und den Gegnern einen freien Sonntag aufgrund von Unbespielbarkeit des Platzes spendierte. Aber als alter Knochen fand ich das heimische Sofa nach einem anstrengenden Trip sowieso viel cooler als alles andere.