Eisenhüttenstadt 06/2017

  • 17.06.2017
  • FC Eisenhüttenstadt – FC Stahl Brandenburg 2:3
  • Brandenburgliga (VI)
  • Stadion der Hüttenwerker (Att: 425)

In den jüngsten sechs Bundesländern der Bundesrepublik lief der Ligabetrieb der Saison 2016/17 zum Glück bis Mitte Juni. Damit konnte man die vermeintliche Sommerpause ohne Zuhilfenahme des Auslands soweit hinauszögern, bis andernorts erste Vereine schon wieder mit der Vorbereitung für die neue Saison beginnen und erste Testspiele absolvieren. Für den letzten Spieltag der sechstklassigen Brandenburgliga hatte ich mich für das Schmankerl FC Eisenhüttenstadt versus FC Stahl Brandenburg begeistern lassen. Zwei ehemalige DDR-Oberligisten, beide einst in Trägerschaft von Betrieben der IG Metallurgie, standen nun vor dem Absturz in die 7.Liga. Der Tabellenfünfzehnte (erster Abstiegsplatz) empfing den punktgleichen Vierzehnten; ein echtes Endspiel also. Klar, dass ich mich bei der Konstellation Bega, Ergi, BLZ und dem stillen Flo anschließen musste, die jene Tour ausgetüftelt hatten.

Bahnhof Stendal

Nachdem der WET-Kauf in trockenen Tüchern war, starteten Bega und ich zum hannoverschen Hauptbahnhof. Hier stieß Ergi zu uns, jedoch hatte der stille Flo heute einen noch stilleren Wecker und Burgdorfs letzter Zecher hatte ebenfalls verpennt. Damit war die morgendliche Top-Verbindung (via InterRegioExpress) mit zweistündigem Kulturaufenthalt in Frankfurt / Oder gestorben und wir mussten uns die Ochsentour mit Umstiegen in Wolfsburg, Stendal, Rathenow, Berlin und FFO antun. Wenigstens ermöglichten uns die vielen Züge wieder einmal mit vielen verschiedenen Menschen ins Gespräch zu kommen.

Einstiger Lehrter Bahnhof in Berlin

Junge Frauen auf Heimreise in die ostdeutsche Heimat, ostdeutsche junge Männer auf dem Weg zu einem Schlagerfestival in Berlin, westdeutsche alte Männer auf dem Weg zur Ansichtskartenbörse in Berlin und Headshopbetreiber Falco auf dem Weg zur Arbeit (natürlich auch in Berlin). Das waren die Mitreisenden, die Lust auf Austausch hatten und die Gesprächsthemen lagen auf der Hand. Schließlich war Helmut Kohl – nicht nur selbstgefälliger Pate der schwarzen CDU-Kassen und gescheiterter Familienvater, sondern auch der Kanzler der Einheit – am Vortag verstorben. Außerdem war heute der 17.Juni, einst (bis 1990) der ursprüngliche Tag der deutschen Einheit in Westdeutschland, weil sich der Aufstand der DDR-Arbeiter von 1953 an diesem Tag jährt. Daher hingen in Berlin die Bundesfahnen heute auch nicht auf Halbmast (trotz Kohls Ableben), sondern sie wehten wie gewohnt am 17.Juni in der Höhe (es ist kein Feiertag mehr, aber immer noch ein nationaler Gedenktag).

Eisenhüttenstädter Wohnwelten

Bei unserer Fahrt nach Ost-Ostdeutschland durch ganz viel Ostdeutschland und die gesamtdeutsche Hauptstadt Berlin passten die Themen Kohl und 17.Juni sogar noch besser als anderswo in der Republik und die erwähnte bunte Mischung von Mitreisenden hatte dementsprechend ein recht buntes Meinungsspektrum. Umso besser, dass wir erst in Eisenhüttenstadt den Fans von Stahl Brandenburg begegneten. Da waren ein paar Leute dabei, die nach braun statt bunt aussahen und dank Alkoholmissbrauch kaum noch fähig waren am öffentlichen Leben teilzunehmen. Blöd, dass wir die nun im Bus zum Stadion hatten und die Fahrt nicht enden wollte. Die Busroute (Linie 454) führte uns in einer Art Ringlinie durch die halbe Stadt. Abgesehen von den Mitreisenden nicht schlecht, da die DDR-Planstadt aus den 1950er Jahren schon was Charmantes hat.

Hey, Baby…

Nicht ohne Grund kam sogar schon der populäre US-amerikanische Schauspieler Tom Hanks (bekannt aus „Splash – Eine Jungfrau am Haken“ und „Schlappe Bullen beißen nicht“) für eine Stadtführung nach Eisenhüttenstadt. Also machten wir was draus und schauten aus dem Busfenster heraus. Wir sahen blühende Blumenbeete, viele Statuen des Sozialistischen Realismus und natürlich die zahlreichen Gebäude dieser Stilrichtung. Die Wohnstadt des Hüttenwerks ist daher auch Deutschlands größtes Flächendenkmal. Anfang der 1950er Jahre war die Platte noch nicht das architektonische Gebot der Stunde und die Bauakademie der DDR verwirklichte beim Wiederaufbau von z. B. Dresden, Magdeburg und Berlin (an der Karl-Marx-Allee, wo die Arbeiter sich heute vor 64 Jahren erhoben) den Sozialistischen Klassizismus.

Rathaus Eisenhüttenstadt

Und während in diesen Städten ein neues Deutschland aus Ruinen auferstand, wurde in Eisenhüttenstadt der Zuckerbäckerstil auf der grünen Wiese umgesetzt. Hervorzuheben sind da besonders die repräsentativen Schulgebäude der Stadt, das Rathaus (einst Haus der Parteien und Massenorganisationen), das Friedrich-Wolf-Theater und die Großgaststätte Aktivist. Freunde der Industriekultur kommen natürlich obendrein mit dem Hüttenwerk auf ihre Kosten (einst das Eisenhüttenkombinat Ost, kurz EKO).

Stadion der Hüttenwerker

Auch sehr schön: Das Stadion der Hüttenwerker. Kurz vor Anpfiff war es erreicht und die Ehrenamtlichen am Eingangsbereich waren mit über 400 Zuschauer (wovon noch knapp 50 anstanden) etwas überfordert, so dass die ersten Minuten von draußen verfolgt werden mussten. 4 € waren zu investieren und wir nahmen erstmal auf der bestuhlten Gegengerade irgendwelche Plätze ein. Ein echter Heimblock war nicht zu erkennen, jedoch war neben dem dreckigen Dutzend aus unserem Linienbus auch noch mindestens ein ganzer Reisebus Brandenburger im Gästeblock auszumachen. Sie hatten ihren Bereich nett beflaggt und trällerten auch ein paar Lieder. U. a. wurde „Stahl-Feuer“ skandiert, gegen den Ortsrivalen BSC Süd gepöbelt und in Richtung Eisenhüttenstädter wurde als Anspielung auf das bzw. die Oder-Hochwasser „Es kommt die Zeit, in der das Wasser wieder steigt“ gesungen.

Eisenhüttenstädter Sitzschalen

Wirklich die Grenze überschritten aber vereinzelte rassistische Sprüche aus dem Block. Zwar wirklich nur vereinzelt, doch der Rufer schien die anderen 96 % im Block auch nicht weiter zu stören. Stillschweigen heißt Zustimmung, predigt mein Vorgesetzter immer. Bezeichnenderweise schoss Japan-Import Yutaka Abe die Elf von Stahl Brandenburg in der 11.Spielminute in Führung. Der Jubel der Fans kam geschlossen rüber. Vielleicht wirken bei der Bewertung dieses Spielers noch die Bündnisverhältnisse des Zweiten Weltkriegs nach, so dass sich der rechtsextreme Teil der Fans nicht inkonsequent beim Feiern eines Ausländers vorkam.

Gästeblock

Die einstige BSG Stahl Stalinstadt (von 1953 bis 1961 hieß Eisenhüttenstadt Stalinstadt) fand nicht wirklich eine Antwort auf das frühe Gegentor. Viele lange Bälle führten in der Folgezeit nur zu wenigen Chancen. Erst nach einer halben Stunde wurde es mal heikel im Strafraum der Gäste. Aber ein Kopfballtreffer von Hüttes Michel Becker wurde wegen einer Abseitsstellung nicht gegeben. Und in der 45.Minute hatte Stürmer Georges Florent Mooh Djike auch nochmal den Ausgleich auf dem Fuß, doch die Torlatte rettete für Stahl Brandenburg die Pausenführung.

Die niedliche Haupttribüne

Die obligatorische Teilung einer Fußballpartie in zwei Hälften, die selbst ein Helmut Kohl nicht überwinden konnte, wurde natürlich für Bier und Bratwurst genutzt. Aus den Boxen kam dabei belangloses, zuweilen fast schon exotisches Popgedudel aus den 1980er Jahren. Irgendwann hörte ich genauer hin und erkannte „Stop the Rain“ von Silent Circle. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch irgendwo ein Stadion auf der Welt gibt, wo so ein Song (im Gegensatz zur DDR) die 1980er überleben konnte. Als letztes Lied der Pause lief dann Europes „The Final Countdown“. Nochmal so eine richtige Stadionhymne als Einheizer für die zweiten 45 Minuten. Vielleicht auch als Reminiszenz an die Europapokalzeit Anfang der 1990er Jahre gedacht, als der damalige EFC Stahl dieses Europe unsicher machen durfte. Der letzte DDR-Vizepokalsieger musste sich 1991 allerdings bereits in der 1.Runde dem türkischen Pokalsieger Galatasaray geschlagen geben (1:2 daheim und 0:3 in Istanbul). Da übrigens beide erwähnten Songs aus dem Jahre 1986 sind, traue ich dem DJ zu, dass er seit Jahrzehnten immer auf den gleichen Sampler in der Halbzeitpause zurückgreift. Wahrscheinlich „Ronny’s Pop Show – Best of 1986“.

Der zweite Durchgang läuft

Doch nun zur 2.Hälfte des heutigen Spiels. Die Mannschaft des FC Eisenhüttenstadt (seit 2016 firmiert man nach einer Fusion mit drei weiteren Vereinen der Stadt ohne das Label Stahl) knüpfte nach der Pause an die Schlussphase der 1.Halbzeit an und in der 56.Minute konnte Mooh Djike den mittlerweile verdienten Ausgleich erzielen. Aus nächster Nähe schob er ein Zuspiel seines Sturmpartners Hilgers am Tormann vorbei. Freute mich besonders für ihn, da er bisher (und leider auch weiterhin) das Ziel von so Sprüchen wie „Haut den N… um!“ aus dem Gästeblock war.

Sie sorgten für Ordnung

Da ein Unentschieden bei der Tabellenkonstellation nicht reichen würde, drängte der FCE nun auch auf die Führung. Doch ein Treffer von Hilgers (63.Min) wurde abermals wegen Abseits nicht gegeben und die Riesenchance auf das 2:1 vergab Tony Raddatz sieben Minuten später. Seinen unplatzierten Strafstoß nach Festhalten im Strafraum konnte Schlußmann de Souza Rosa zur Ecke wegfausten. Der verschossene Elfer wurde zum Wendepunkt der Partie. In der 77.Minute brachte Prudente die Gäste erneut in Führung und in der 88.Minute stach Joker Pascal Katerzi zu. Das 3:1 aus Gästesicht wirkte nun wie der sichere Klassenerhalt und die mitgereisten Fans zündeten bereits Pyrotechnik. Das zweite Eisenhüttenstädter Tor kurz vor’m Schlußpfiff bekam dann auch kaum noch jemand mit.

Stahlfeuer

Der einstige Pflichtspielgegner von Hannover 96 – Saison 1991/92, mit u. a. Christian Beeck und Roy Präger in den Reihen des FC Stahl – aus der Brandenburger Stadt namens Brandenburg hatte den Klassenerhalt geschafft und der Hausherr muss den bitteren Gang in die 7.Liga antreten. Das Eisenhüttenstädter Publikum ging nun frustiert Richtung Stadionausgang, während ein paar Gästefans friedfertig den Platz stürmten. An der Einstellung der Hütter lag es heute nicht, aber die Gäste vom Brandenburger Quenzsee waren ebenso motiviert und hatten vielleicht das Quentchen Glück im Gepäck, welches man in einem Entscheidungsspiel auf Augenhöhe braucht.

Relief aus den 1950ern

Unsere kleine Reisegruppe schlich sich auch alsbald davon und diesmal marschierten wir lieber zu Fuß zum Bahnhof. Dabei schauten wir uns die Stadt nochmal ohne trennende Busscheiben an. Jetzt dufteten die Blumen in unseren Nasen, während die Ohren etwas irritiert waren. Es war alles so still hier. Kaum Autos, kaum Menschen. Aber irgendwie logisch, dass eine Stadt, in der vor der Wende über 53.000 Menschen lebten, heuer bei gerade noch 30.000 Einwohnern verlassen wirkt. Über 43 % Bevölkerungsschwund und dazu in Relation viel mehr alte Leute als früher (die mutmaßlich mehr Zeit in den eigenen vier Wänden verbringen als junge Leute). So etwas geht natürlich nicht spurlos am Stadtbild vorbei.

Bad Hoppaz in Ironhüttencity

Nach 40 Minuten Spaziergang waren wir früher am Bahnhof als die erneut eine Stadtrundfahrt wählenden Gästefans und hatten Hoffnung fanfrei abreisen zu können. Jedoch zerschlug sich das zwei Minuten vor Einfahrt des Zuges. Na ja, der RegionalExpress war groß genug, um ungestört zu bleiben und im deutschen Teil von Słubice erwarben wir noch ausreichend wiedervereinigungswürdige Getränke aus zum Beispiel Nordhausen oder Ostberlin. Mit denen im Blut kam uns die sechsstündige Heimfahrt wie ein bißchen Straßenbahn fahren vom Kronsberg zum Kröpcke vor. Jetzt ist aber wirklich Sommerpause! (zumindest für ein oder zwei Wochen)

Song of the Tour: Grüße an den Stadion-DJ.

Nachtrag vom 24.06.2017: Da der sportlich in die Brandenburgliga abgestiegene Oberligist 1.FC Frankfurt auf Antrag in der Oberliga verbleiben darf, muss auch der FC Eisenhüttenstadt nicht in die 7.Liga absteigen und darf in der Brandenburgliga bleiben (und aus der 7.Liga gibt es auch einen Absteiger weniger usw. usf.). Die chinesische U19-Auswahl oder die U20 von Katar standen dem NOFV anscheinend nicht kurzfristig zur Verfügung, um eine der betroffenen Ligen auf die angedachte Sollstärke aufzufüllen. Daher entschied man sich für das in Südwestdeutschland verpönte Modell auf einen Absteiger zu verzichten, anstatt die Liga mit einem zahlungskräftigen Exoten außer Konkurrenz zu bereichern.