- 18.08.2024
- Brentford FC – Crystal Palace FC 2:1
- Premier League (I)
- Brentford Community Stadium (Att: 16.988)
Am Sonntag klingelte der Wecker bereits um 6 Uhr. Denn 45 Minuten später war Abfahrt gen London. Der heutige Tag hatte nämlich nur fünf Profispiele in England parat und vier davon kamen aus unterschiedlichen Gründen eigentlich nicht für mich in Frage. Mein Favorit hieß Brentford vs. Crystal Palace und ein Ticket für den Gästesektor konnte mir erfreulicherweise mein CPFC-Kumpel Peter besorgen. Der war mit seiner Familie im Urlaub, so dass er sein Vorkaufsrecht als einer der loyalsten Anhänger nicht für sich selbst nutzen musste.

Auch der Reiseaufwand für einen Tagesausflug in die ca. 250 km von Sheffield entfernte Hauptstadt schien sich in Grenzen zu halten. Eine Zugfahrt im InterCity sollte gerade mal zwei Stunden dauern. Blöd nur, dass die dynamische Preispolitik des Anbieters bereits drei Wochen im Voraus für einen Fahrpreis in Höhe von £ 63.60 (ca. 75 €) sorgte. Das war mir doch ein bisschen zu viel und National Express bekam den Zuschlag. Die boten eine Busfahrt für £ 21 (ca. 25 €) return an. Bei rund 50 € Ersparnis waren eine zwei Stunden längere Fahrzeit pro Strecke und das Verpassen des Hotelfrühstücks am Sonntagmorgen durchaus zu verkraften.

Mit Obst und Wasser (heute war bekanntlich Cheat Day) ging es pünktlich in Sheffield los und auch Londons Victoria Coach Station wurde planmäßig um 10:30 Uhr erreicht. Ab hier ging es nun unterirdisch bzw. größtenteils oberirdisch mit der Tube für £ 3 (ca. 3,50 €) zur Station Kew Gardens. Diese Haltestelle trennten lediglich wenige hundert Meter von der gleichnamigen Parkanlage und von dort ist es wiederum nur ein Katzensprung bis nach Brentford. Demgemäß waren die Kew Gardens, bzw. korrekt bezeichnet die Royal Botanic Gardens, eigentlich ideal mit dem heutigen Spielbesuch kombinierbar.

Allerdings war ich schlecht vorbereitet. Ich hatte irgendwie in Erinnerung, dass die Parkanlage an sich öffentlich zugänglich wäre und lediglich für die Palmenhäuser und das Schloss ein Eintrittsgeld verlangt wird. Aber mein Gedächtnis hatte mir offensichtlich einen Streich gespielt. Das Areal ist allgemein nur gegen Entgelt zu betreten und heute war es mit £ 24 (ca. 28,50 €) sogar maximal teuer (Wochenende in der Hauptsaison kostet am meisten, werktags in der Nebensaison am wenigsten). Dadurch, dass ich nur eine gute Stunde Zeit für dieses große Gartenparadies mitgebracht hatte, scheute ich jene Investition.

Stattdessen machte ich einen kleinen Spaziergang durch Kew und an der Themse entlang. Auf der anderen Seite des Flusses erwartete mich anschließend besagtes Brentford und das direkt ans dortige Stadion angrenzende Chiswick mit seinem besonders malerischen Uferquartier Strand-on-the-Green. Die Uferpromenade dieses früheren Fischerdorfs war gesäumt von alten, denkmalgeschützten Häuschen und einigen einladenden Pubs. In einem davon (The Bell & Crown) war ich um 13 Uhr mit Peters Kumpel Steve verabredet. Der gute Steve hatte heute nicht nur seinen sechsjährigen Sohn zum ersten Mal auswärts dabei, sondern auch mein £ 30 (ca. 35,50 €) teures Ticket im Portemonnaie.

Nachdem wir uns mit zwei Pints (in Chiswick musste es einfach Fuller’s London Pride sein) und einer Limo für seinen Sohn an der Theke versorgt hatten, ging es raus in die Sonne und dort wurde Steve gleich sehr herzlich von Brentford-Fans begrüßt. Steve ist zwar passionierter Palace-Anhänger, aber man spielt zusammen in der Sunday League Fußball, wie ich bald aufgeklärt wurde. Daher kennt und schätzt man sich. London, das 9-Millionen-Einwohner-Dorf…

Nach einer zweiten Rutsche Bier, war es auch schon 13:45 Uhr und alle Fußballfreunde waren in Aufbruchstimmung. Die Heimfans erklärten uns noch kurz den Weg zum Gästeeingang und zehn Minuten später standen wir bereits an den Drehkreuzen des Brentford Community Stadium. Das ist Ende der 2010er Jahre zusammen mit neuen Wohnblocks an der Kew Bridge hochgezogen worden und daher nichts für Stadionromantiker. Aus deren und damit auch meiner Perspektive, ist die am 30. August 2020 eröffnete Sportstätte leider ein deutliches Downgrade zum vorher bespielten Griffin Park (1904 eröffnet, 2022 abgerissen).

Dazu ist das neue Stadion mit seinen 17.215 Plätzen zwar größer als der Griffin Park (zuletzt 12.763 Plätze), aber dennoch fast schon wieder zu klein für den Brentford FC und die Ambitionen des Eigentümers. Der wiederum heißt Matthew Benham, ist seit Kindesbeinen treuer Fan des Clubs und hat nach seinem Abschluss in Physik an der University of Oxford eine Bank- und Börsenkarriere in London gemacht. Denn durch von ihm entwickelte statistische Analysemodelle, konnte Benham Kursentwicklungen an der Börse überdurchschnittlich erfolgreich prognostizieren. Anfang der 2000er ersann er sich außerdem ein Modell, um besonders vielversprechende Quoten auf dem Sportwettenmarkt zu identifizieren und gründete 2004 die Firma Smart Odds. Auch in diesem Markt konnte er den Faktor Glück mathematisch offenbar soweit minimieren, dass die Wettgewinne dauerhaft die Wettverluste überstiegen.

Mit seinem Vermögen griff er ab 2006 dem klammen Lieblingsclub unter die Arme und 2012 übernahm er den Brentford FC schließlich sogar. Seine Vision: Mathematisch sehr genaue Erfolgswahrscheinlichkeiten für Entscheidungen im Profifußball zu errechnen (Moneyball lässt grüßen) und dadurch mit überschaubarem finanziellen Aufwand die Konkurrenz zu überflügeln. Benham implementierte also umgehend die Datenbanken und Tools seines Unternehmens Smart Odds beim Brentford FC und ließ außerdem spezifische neue Modelle für alle möglichen Prozesse im Fußballgeschäft entwickeln. Ferner stieg er 2014 als Mehrheitsgesellschafter beim dänischen Erstligisten FC Midtylland ein, wo er mit Rasmus Ankersen einen Bruder im Geiste fand (und diesen später zu sich nach London holte). Tatsächlich ging es fortan mit der Macht der Zahlen sowohl in Westlondon, als auch in Mitteljütland schnell sportlich bergauf. Der Brentford FC stieg 2014 zumindest schon mal in die zweitklassige Championship auf und der FC Midtjylland gewann 2015 seinen ersten von mittlerweile vier dänischen Meistertiteln*.

Dabei wurde beiderseits der Nordsee ein natürlich ebenfalls streng datenbasiertes Scouting zum vielleicht wichtigsten Fundament des Erfolgs. So werden in schöner Regelmäßigkeit hohe Transfererlöse erzielt, nachdem die fast immer einschlagenden Neuzugänge irgendwann bei größeren Clubs Begehrlichkeiten geweckt haben. Daraufhin spuckt die eigene Datenbank gleich passenden und preiswerten Ersatz aus. An dieser Stelle sei erwähnt, dass natürlich alle Branchenriesen des Fußballgeschäfts heutzutage sehr datenbasiert in Bereichen wie Scouting, Belastungssteuerung oder Spielanalyse arbeiten. Allerdings scheinen die Tools in Brentford besonders ausgeklügelt und werden vielleicht auch richtiger und konsequenter als anderswo in die Entscheidungsfindung einbezogen. Jedenfalls seien Daten laut Benham nur etwas wert, wenn man sie auch richtig interpretieren könne und vor allem gäbe es in der Branche trotz guter Datenbasis immer noch zu viele Bauchentscheidungen. Letztere sind ihm ein absoluter Graus.

Da war es vielleicht die größte Herausforderung einen Trainer zu finden, der auch eher Algorithmen als Gefühlen traut. Nach etlichen Trainerwechseln in den ersten sechs Jahren, scheint Benham selbst das gelungen zu sein. 2018 wurde der Däne Thomas Frank aus dem zweiten Glied zum Cheftrainer, respektive Manager befördert und formte nach kleinen Anlaufschwierigkeiten eines der Spitzenteams der Championship. 2020 scheiterten sie noch knapp in den Playoffs, doch im Folgejahr gelang der viel beachtete Sprung in die Premier League. Und entgegen vieler Expertenmeinungen, hat sich der zuvor nur zwischen 1935 und 1947 erstklassige Brentford FC dort erst einmal etabliert. Heute startete für sie die bereits vierte Saison in der umsatzstärksten Fußballliga der Welt und Heimspiel Nr. 58 war wie die 57 zuvor quasi ausverkauft (der Schnitt lag bisher jede Saison bei ~17.000).

In der Londoner Fußballhierarchie sind Arsenal, Chelsea, Tottenham und West Ham natürlich trotzdem weit enteilt. Aber Fulham oder den heutigen Gegner Crystal Palace könnte der 1889 gegründete Brentford FC vielleicht perspektivisch überflügeln. Entsprechend guckt man bei Palace – welches übrigens auch wohlhabende Geschäftsleute mit Fanvita als Eigentümer hat** – kritisch bis argwöhnisch in Richtung Westlondon, wenngleich dort als echte Rivalen oder Hassgegner weiterhin eher Brighton, Millwall und Charlton genannt werden dürften und Brentford seine größten Rivalitäten traditionell mit QPR und Fulham pflegt.

Außerdem fehlt Brentford immer noch ein erster sportlicher Triumph über Palace in der Premier League. Das jüngste Aufeinandertreffen hatte der CPFC in meinem Beisein im heimischen Selhurst Park mit 3:1 gewonnen (siehe London 12/2023 IV) und davor gab es fünf Punkteteilungen. Heute wäre ein weiteres Unentschieden eigentlich der gerechte Ausgang gewesen, aber ausgerechnet der schwer in Rechenmodelle einzubeziehende Faktor Glück war auf der Seite von Benhams Zahlen- und Datenfetischisten. Denn der sehr stark beginnende Gast aus Croydon hatte zunächst Abschlusspech und dann wurde ihnen in der 26. Minute ein wunderschöner Freistoßtreffer von Eze aberkannt. Während der Ball ins Tornetz flatterte, meinte der Schiedsrichter ein Stürmerfoul im Strafraum gesehen zu haben.

Der seit sechs Monaten erfolgreich bei Palace wirkende Oliver Glasner (7 Siege / 3 Unentschieden / 3 Niederlagen) tobte an der Seitenlinie und die TV-Bilder suggerierten tatsächlich eine Fehlentscheidung des Unparteiischen. Aber der VAR hatte nicht eingegriffen und nur drei Minuten nach später konnte Brentford einen schönen Konter durch Mbeumo zum 1:0 verwerten. Großer Jubel entbrannte und damit herrschte erstmals für mich wahrnehmbare Stadionstimmung auf der Heimseite. Wobei ein Gästeblock natürlich eine denkbar schlechte Position für eine objektive Beurteilung ist und die mitgereisten CPFC-Fans von weiter entfernt wahrscheinlich auch weniger laut und aktiv rüber gekommen wären. So nickte ich bei den immer wieder angestimmten „Is this a library?“-Gesängen der Gäste allerdings zustimmend.

Nach der Führung war das Momentum vorerst auf der Seite der Bees und ein zweites Tor lag in der Luft. Wie gut für Steve, dass der Pausenpfiff uns nicht nur eine weitere Runde London Pride erlaubte, sondern vor allem dem Trainer seiner Lieblingsmannschaft Zeit für Umstellungen und Ansprachen einräumte. Doch nicht unbedingt ein Kniff von Glasner, sondern ein Eigentor von Brentfords Ethan Pinnock sorgte für den ersehnten Ausgleich in der 56. Minute. Jetzt witterten die Eagles sofort wieder Morgenluft und griffen zur Freude ihrer Fans weiter an.

Ein diesmal berechtigter Schiedsrichterpfiff beim vermeintlichen Führungstreffer von Edouard (Abseitsposition) und zahlreiche Glanzparaden von Brentfords bundesligaerprobtem Schlussmann Mark Flekken hielten die Bees jedoch weiter im Spiel. Bis schließlich bei einem Konter wieder erfolgreich zugestochen wurde. Diesmal war es Yoane Wissa, der in der 76. Minute nach einem zunächst abgewehrten Torschuss abstauben konnte. Die Gäste steckten diesen Nackenschlag zwar gut weg und u. a. Eze hatte in einer packenden Schlussphase nochmal den Ausgleich auf dem Fuß. Aber am Ende durfte Brentford einen etwas schmeichelhaften, aber gewissermaßen historischen Sieg über Palace feiern.

Bei zwei Pints Clwb Tropicana aus dem Hause Tiny Rebel analysierten Steve und ich das Gesehene anschließend nochmal am Themseufer und quatschten außerdem angeregt über Musik, Mode, Subkulturen und die Palace-Ultragruppe Holmesdale Fanatics (just ist übrigens ein Interview mit Englands Ultrapionieren in der Ausgabe 49 von Blickfang Ultra erschienen). Während Vater und Sohn dann um 17 Uhr los mussten, um eine Stunde später wie verabredet mit dem Rest der Familie am Abendbrotstisch zu sitzen, war meine Abfahrtszeit auch nicht mehr fern. Ergo brach ich parallel per Tube zur Victoria Station auf.

Dort traf ich gegen 17:45 Uhr ein und folgte einem kulinarischem Tipp von Steve. Es ging in die Market Halls direkt an der Victoria Station, wo man sich auf zwei Etagen oder der Dachterrasse sehr schön die Wartezeit auf einen Zug oder Bus vertreiben kann. Denn nicht nur große Bars auf jeder Etage, sondern auch neun Grill- und Garküchen mit u. a. Fried Chicken, Tacos, Thai Food und Poké Bowls erwarten einen in der lichtdurchfluteten Markthalle. Ich entschied mich für den malayischen Imbiss Gopal’s Corner, der mir Murtabak (so’n gefalteter Pfannkuchen mit Lammfleisch-Zwiebel-Füllung), Dhal Kari (Linsencurry) und zwei pikante Stücke Hühnchen für zusammen £ 15.50 (ca. 18,40 €) zubereiten durfte. Außerdem orderte ich an der Bar noch ein Hells Lager der Camden Town Brewery für £ 7 (ca. 8,30 €).
Um 18:30 Uhr fuhr schließlich nebenan in der Victoria Coach Station mein Bus gen Sheffield ab und exakt vier Stunden und vier Minuten später kehrte ich zufrieden in mein Hotelzimmer zurück. Die Halbzeitbilanz dieses Urlaubs fiel äußerst positiv aus.
*Um sich ganz auf Brentford zu konzentrieren, hat Matthew Benham allerdings 2023 seine Anteile am FC Midtjylland wieder veräußert.
**Im Juni 2010 übernahm ein vom Geschäftsmann Steve Parish angeführtes Konsortium den insolventen Crystal Palace FC und bewahrte ihn vor der drohenden Liquidation. Parish und seine Mitstreiter sind allesamt Unternehmer mit Fanbiographie im Selhurst Park, so dass man für englische Verhältnisse von relativ angenehmen Eigentümern sprechen kann.