- 22.08.2024
- Notts County FC – Grimsby Town FC 4:1
- League Two (IV)
- Meadow Lane (Att: 10.046)
In meiner zweiten Urlaubswoche in England gab’s am Mittwoch leider nur Amateurfußballspiele, die allesamt unter meiner Würde waren (fast nur Level 9 oder 10). Ich hatte noch auf ein nettes Replay im FA Cup, ein Punktspiel der National League oder irgend eine Ansetzung in der EFL Trophy gehofft, aber alles Brauchbare in jenen Wettbewerben sollte bereits am Dienstag über die Bühne gehen und da war der Sheffield FC für mich gesetzt.

Dadurch schien der heutige Mittwoch eigentlich perfekt für eine weitere Wandertour im Peak District. Doch am Vortag war ich körperlich ans Limit gegangen und die Muskeln sagten mir beim Aufstehen: „Nee, lass das lieber!“ Na ja, schob ich eben nochmal einen halben „Bürotag“ ein und am frühen Nachmittag fuhr ich spontan rüber nach Rotherham. Denn in die Nachbarstadt von Sheffield kam ich bequem für £ 5.20 (ca. 6,10 €) return per Supertram und die entsprechende Linie fuhr halbstündig direkt vor meinem Hotel ab.

Um es gleich vorweg zu nehmen; ich wusste in etwa was mich in Rotherham erwartet oder was ich dort eben nicht erwarten kann. Die 71.000-Einwohner-Stadt hat in den letzten Jahrzehnten einfach zu viele negative Schlagzeilen gehabt, um nicht auf die Missstände dort aufmerksam zu werden. Die wirtschaftlichen und sozialen Problemen sind selbstredend im Stadtbild sichtbar und darüber hinaus gibt es auch aus touristischer Perspektive nicht sehr viel Sehenswertes. Denn trotz über tausendjähriger Stadtgeschichte hält sich die historische Bausubstanz quantitativ in engen Grenzen.

Rotherhams Hauptpfarrkirche All Saints (auch Rotherham Minster genannt) ist allerdings ein Baudenkmal ersten Ranges und war daher mein Primärziel auf dem Stadtrundgang. Sie ist mitten im Zentrum auf einer Anhöhe zu finden, auf der bereits im 10. Jahrhundert eine erste Kirche stand. Im 15. Jahrhundert wurde schließlich auf Initiative von Thomas Rotherham, seines Zeichen mächtiger Bischof von York und Lordkanzler von England, eine neue und besonders prachtvolle Kirche in seiner Heimatstadt errichtet. Es entstand ein Meisterwerk der Spätgotik, respektive des landestypischen Perpendicular Style. So gilt das Rotherham Minster heute als eine der schönsten, wenn nicht gar die schönste Kirche der Region South Yorkshire.

Außerdem hat Rotherham mit der Chapel of Our Lady eine von nur noch sechs erhaltenen Brückenkapellen in England zu bieten (die anderen fünf kann man in Bradford-on-Avon, Derby, Rochester, St Ives und Wakefield finden). Diese Art von Kapelle wurde im Mittelalter häufig in Brückenbauwerke integriert, damit die Reisenden dort mal kurz die Gelegenheit für eine Andacht hatten. So bekam im späten 15. Jahrhundert auch die den Don überspannende Rotherham Bridge an der vielbefahrenen Route von London nach Yorkshire eine solche Kapelle spendiert.

Wahrscheinlich war Rotherham im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit eine ganz schnuckelige Marktstadt, aber die industrielle Revolution sollte das Stadtbild ab dem 18. Jahrhundert völlig verändern. Im Jahr 1746 wurde mit den Walker Iron Works das erste Eisenwerk der Stadt gegründet und wie das benachbarte Sheffield, entwickelte sich Rotherham zu einem Zentrum der britischen Stahlindustrie. So gesellten sich zu Walker im 18. und 19. Jahrhundert noch über ein Dutzend weitere Stahlwerke und Gießereien. Insbesondere Steel, Peech and Tozer, deren Werksgelände in Rotherham die Ausmaße eines ganzen Stadtteils hatte und zeitweise über 10.000 Arbeiter beschäftigte, darf da nicht unerwähnt bleiben.

Während des 19. Jahrhunderts wuchs dementsprechend auch die Bevölkerung rapide an. Bei Großbritanniens erster großer Inventur im Jahr 1801 wurden 8.418 Menschen in Rotherham gezählt, beim Zensus 1901 waren es bereits 54.349. Während die Arbeitskraft dieser Menschen ihre Arbeitgeber unfassbar reich machte, lebte dennoch die Mehrzahl der Arbeiterfamilien in engen und unhygienischen Wohnverhältnissen. Ergo konnte Rotherham auch zu seinen wirtschaftlichen Hochzeiten nur oberflächlich als reiche Stadt betrachtet werden.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sorgten Weltkriege und Weltkrisen für große Schwankungen bei der Stahlnachfrage. Aber zynischerweise sollten nicht nur die großen Kriege für volle Auftragsbücher in Rotherhams Industriebetrieben sorgen, sondern nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Bedarf aufgrund des notwendigen Wiederaufbaus in Großbritannien und weiten Teilen Europas sehr hoch. Es folgten deshalb knapp drei Jahrzehnte des Wachstums und auch die Arbeiter der seinerzeit von der sozialdemokratischen Regierung verstaatlichten Stahlindustrie kamen dabei zu einem bescheidenen Wohlstand.

Doch mit der Ölkrise 1973 schlitterte Großbritannien wie alle Industrieländer in eine Rezession, von der sich zumindest die Schwerindustrie nicht mehr wirklich erholen sollte. Ferner führte die Krise zu 1979 einem Regierungswechsel. Die neue konservative Premierministerin Margaret Thatcher setzte auf neoliberale Reformen, welche in den 1980er Jahren zu Reprivatisierungen und einem Abbau des bisher stark ausgeprägten britischen Wohlfahrtsstaat führten. Der Markt sollte sich möglichst ohne staatliche Eingriffe selbst regulieren. Diese neuerliche Entfesselung der kapitalistischen Marktlogik ließ einerseits London zum weltweit zweitgrößten Finanzmarktplatz nach New York aufsteigen, andererseits erlebte der industrielle Norden eine Welle von Werksschließungen.

Dieser Reformkurs traf die kaum diversifizierte Lokalwirtschaft Rotherhams besonders hart. Denn während bis dato industriell geprägte Großstädte wie Manchester, Leeds oder auch das benachbarte Sheffield das Potential hatten sich in der Krise gewissermaßen neu zu erfinden, war dies für eine Mittelstadt wie Rotherham ungleich schwerer. Hier konnten sich keine Künstler- und Szeneviertel mit anziehendem Kultur- und Nachtleben entwickeln und hierhin konnte man auch kaum neue Branchen und Investoren locken. Stattdessen verschärfte sich die hiesige Arbeitsmarktsituation weiter und wer abwandern konnte, tat dies mangels Perspektive.

In den prekären Verhältnisse der Verbliebenen fand wiederum eine kriminelle Bande ideale Voraussetzungen für einen riesigen Missbrauchsskandal, der die Stadt Anfang der 2010er Jahre weltweit in die Schlagzeilen bringen sollte. Denn zwischen 1997 und 2013 wurden in Rotherham über 1.400 zehn- bis fünfzehnjährige Mädchen sexuell missbraucht und zur Prostitution gezwungen. Natürlich konnte das bei diesen Dimensionen in einer mittelgroßen Stadt nicht jahrelang komplett unter der Oberfläche stattfinden. Doch obwohl ein paar der von den Tätern massiv eingeschüchterten Opfer zur Polizei gingen und auch Sozialarbeiter – rund ein Drittel der Opfer lebte in staatlichen Einrichtungen, der Rest in schwierigen Familienverhältnissen – bereits in den frühen 2000er Jahren Alarm schlugen, wurden die Ermittlungsbehörden nur in Einzelfällen aktiv. Vor dem tatsächlichen Ausmaß, verschloss man jahrelang die Augen.

Die Wegschauenden fürchteten offenbar nicht nur, dass der Ruf der Stadt endgültig ins Bodenlose sinkt. Sondern laut einem unabhängigen Untersuchungsbericht der Sozialforscherin Alexis Jay von 2014 hatte man vor allem Angst vor Rassismusvorwürfen und vor Rassenunruhen, wie sie bereits mehrere Rotherham strukturell ähnliche Städte in jenen Jahren erleben mussten (z. B. Bradford, Burnley und Oldham). Denn die Tätergruppe war fast ausschließlich pakistanischstämmig und die Opfer waren nahezu allesamt weiße Mädchen aus der so genannten Unterschicht.

Nachdem Journalisten der Londoner Times dem Skandal ab 2012 eine breite Öffentlichkeit verschafft hatten und 2014 der bereits erwähnte unabhängige Untersuchungsbericht die Recherchen bestätigte, war das in der Tat politischer und gesellschaftlicher Sprengstoff. Rechtsextreme Gruppen wie die English Defence League (EDL) versuchten Kapital daraus zu schlagen und demonstrierten mehrfach in der Stadt. Insgesamt trugen die Ereignissen zur weiteren gesellschaftlichen Spaltung Rotherhams und im Prinzip des ganzen Landes bei. Dabei konnten gewisse politische Akteure nicht nur die Hautfarbe und Religion der Täter für ihre Agenda instrumentalisieren, sondern vor allem war das Vertrauen in die staatlichen Institutionen nach dem skandalösen Wegschauen in Rotherham berechtigterweise schwer erschüttert. Erst recht, als sich herausstellte, dass Rotherham kein Einzelfall war und zumeist pakistanischstämmige Tätergruppen in u. a. Rochdale, Telford und Oxford nach ähnlichem Muster vorgehen konnten.

Dass das gesellschaftliche Klima in den 10 Jahren nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals von Rotherham in keinem Fall besser geworden ist, zeigte sich erst wenige Tage vor meiner Reise. In Southport war ein Siebzehnjähriger bei einem Kindertanzkurs aufgetaucht und tötete dort mit einem Küchenmesser wahllos drei Mädchen im Alter von 6, 7 und 9 Jahren. Nach der schrecklichen Bluttat ging in den sozialen Medien sofort viral, dass der Amokläufer ein illegal eingereister muslimischer Flüchtling sei und die Tat einen islamistischen Hintergrund habe. Um das Schlimmste zu verhindern, veröffentlichte die Polizei umgehend die wahre Identität des in Großbritannien geborenen Sohnes einer christlichen Einwandererfamilie aus Ruanda. Doch da war es schon zu spät, bzw. den Mobs wahrscheinlich auch egal. Im Zuge von Kundgebungen und Demonstrationen kam es u. a. zu Angriffen auf Moscheen und Flüchtlingsheime. So wurde beispielsweise in Rotherham ein mittlerweile als Asylunterkunft genutztes Hotel zur Zielscheibe eines wütenden Mobs.
Mittlerweile sind landauf, landab viele Tatverdächtige dieser Unruhen identifiziert und teilweise bereits auch schon zu empfindlichen Haftstrafen verurteilt worden (ein 27jähriger aus Rotherham nach der Hotelkrawalle beispielsweise zu neun Jahren). Aber auch wenn der Staat mit der harten Hand des Gesetzes – neben Widerstand und Widerspruch aus der Zivilgesellschaft – seinen Beitrag zum Ende der Unruhen leisten konnte, werden die Ursachen dieser Gewaltausbrüche von der Regierung wohl weiterhin nur unzureichend bekämpft werden. Jedenfalls dürfte es kein Zufall sein, dass die Riots sieben der zehn ärmsten Gemeinden Englands erfassten. Klar, man kann auch in guten bis sehr guten Lebensumständen empfänglich für Populismus und Hetze sein. Und selbst Rich Kids mag in ihrer Adoleszenz mitunter der kurze Machtrausch als Teils des Mobs reizen. Aber es deutet empirisch nun mal vieles, wenn nicht alles darauf hin, dass man an wirtschaftlich und sozial vernachlässigten Orten einen größeren Nährboden für diese Phänomene findet.

Ohne die nötige Fantasie, wie man in Zeiten neoliberaler Austeritätsmantras so eine Stadt wie Rotherham nachhaltig revitalisieren kann, ging es am Ende meines größtenteils deprimierenden Streifzugs noch in ein örtliches Schnellrestaurant namens Munchies. Vor meiner abendlichen Rückkehr nach Sheffield gönnte ich mir dort für £ 12 (ca. 14,15 €) die Flamin‘ Nashville Box. Die enthielt einen feurigen Smashed Burger mit Nagachilis, ebenfalls recht pikant panierte Hähnchenfiletstücke und würzige Cheesy Peri Fries. Außerdem war eine Dose Irn-Bru inklu, mit deren Inhalt ich das leicht lodernde Feuer in meinem Mundwerk zu löschen versuchte. Erfolglos.
Am Donnerstag schlief ich dann mal aus und tauchte very late beim Frühstücksbuffet des Hotels auf. Ich wollte allerdings auch nur very wenig frühstücken. Mit Müsli und etwas Obst war ich heute vollends zufrieden. Damit mich keiner für so’n Fitness Influencer hält, habe ich aber wenigstens noch einen kleinen Muffin dazu gepackt.

Nach dem letzten Bissen, musste ich umgehend zum Bahnhof aufbrechen. Denn heute sollte es um 10:06 Uhr nach Nottingham gehen, wo abends der Ball rollte und zuvor die Sehenswürdigkeiten einer geschichtsträchtigen Stadt lockten. Eine Hin- und Rückfahrt hatte mich £ 15.50 (ca. 18,40 €) gekostet und nach einer Stunde Fahrzeit kam ich in der heimlichen Hauptstadt der East Midlands an (ca. 350.000 Einwohner).

Als erstes lockte der historische Kern, der bereits im 6. Jahrhundert gegründeten Stadt. Damals hatte sich der angelsächsische Stamm der Snotinga hier niedergelassen und von denen leitet sich auch der Stadtname ab. Snotingaham – was Heimstatt der Snotinga bedeutet – entwickelte sich im 7. Jahrhundert zu einem wichtigen Marktflecken im angelsächsischen Königreich Mercia. Aus dieser Frühphase gibt es zwar keine sichtbaren Spuren mehr im Stadtbild, aber die gotische St Mary’s Church (14. Jahrhundert) steht immerhin mutmaßlich auf den Fundamenten der ersten Pfarrkirche aus angelsächsischer Zeit.

Auch das zweite Ziel auf meinem Rundgang regte zu einer langen Zeitreise im Kopf an. Denn bereits 1066 ließ William the Conqueror (Wilhelm der Eroberer) mit dem Nottingham Castle eine große Burg auf einem Hügel über der Stadt errichten. Die gehörte zu einem landesweiten Netz von Burgen und Festungen, mit denen der normannische Eroberer die Macht in seinem neuen Königreich festigen wollte und sollte. Da der König aber nicht überall selbst die Einhaltung seiner Gesetze und die Eintreibung der Steuern überwachen konnte, setzte er in den einzelnen Shires (Grafschaften) so genannte Sheriffs (Vögte) ein. Somit steuern wir nun unweigerlich auf jene Legende zu, die Nottingham weltberühmt gemacht hat.

Obschon ich auf einen £ 16 (ca. 18,96 €) teuren Gang ins Castle nebst Museum verzichtete, kam ich natürlich trotzdem nicht an Robin Hood vorbei. Die Legende vom Gesetzlosen aus dem Sherwood Forest, dessen Raubzüge ihn zum Todfeind des Sheriffs vom Nottinghamshire machten, wird nahezu überall in der Stadt vermarktet. Beliebtester Fotospot für Gäste von nah und fern ist dabei zweifelsohne die kostenlos zugängliche Bronzestatue vor’m Castle. Da mir in der Kindheit zunächst die Disney-Zeichentrickadaption und später auch Spielfilmversionen des Stoffes schöne Bildschirmstunden beschert hatten, konnte ich ebenfalls nicht auf Erinnerungsfotos verzichten.

Die erwachsene Version von mir reizte heute dennoch mehr eine nahe Schankwirtschaft namens Ye Olde Trip to Jerusalem. Die behauptet schon seit 1189 zu existieren und damit Englands ältester Pub zu sein. Angeblich hätten hier bereits die englischen Kreuzritter ein letztes Gelage abgehalten, bevor es ins Heilige Land ging. Aber das dürfte ähnlich viel Wahrheitsgehalt wie die Sagenwelt um Robin Hood und seine fröhlichen Gefährten haben. Nichtsdestotrotz ist der teils in den Burgfelsen gehauene Pub schön urig und gern ließ ich mir dort ein Ale namens Olde Trip für £ 4.90 (ca. 5,80 €) zapfen. Dabei bekam ich in Nottingham plötzlich die gestern in Rotherham fehlende Fantasie für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Großbritanniens. Dieser Robin Hood hat es doch angeblich von den Reichen… Ach, lassen wir das. Ich war wahrscheinlich schon von nur einem Bier betrunken.

Nach der kleinen flüssigen Stärkung schaute ich mich weiter im Stadtzentrum um. So kam ich natürlich auch vielerorts mit der neuzeitlichen Geschichte in Berührung. Nottingham hatte sich bereits im Spätmittelalter einen Namen mit seiner Tuch- und Wollproduktion gemacht und während der industriellen Revolution sollte die hiesige Textilindustrie feinste Spitze produzieren und weltweit exportieren. Der Lace Market im Herzen der Stadt erinnert noch heute an den damaligen wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt.

Wie allerorten brachte die Industrialisierung jedoch nicht nur Wohlstand, sondern gleichsam soziale Spannungen mit sich. Auch in Nottingham litten viele Arbeiter unter schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen. Dies führte im Jahre 1811 zur Entstehung der Luddites (Ludditen). Diese Arbeiterbewegung benannte sich nach ihrem fiktiven Anführer Ned Ludd und zerstörte die Maschinen zahlreicher Wohlspinnereien in Nottingham. Ihr sich bald auch auf andere Industriezentren ausbreitender Aufstand wurde allerdings 1812/13 vom britischen Militär blutig niedergeschlagen. Zahlreiche Luddites wurden anschließend zum Tode verurteilt oder in die Strafkolonie Australien deportiert.

Nach diesem frechen Aufstand der Auszubeutenden, rollte der Rubel aber wieder ungestört für die Industriellen. Anders als beispielsweise Rotherham, hat sich Nottingham außerdem schon früh wirtschaftlich breiter aufgestellt. So entwickelten sich neben der Textilindustrie auch weitere bedeutende Wirtschaftszweige wie Maschinenbau, Rüstung, Tabak und Pharma. Für letzteren Sektor steht insbesondere die 1849 in Nottingham gegründete Drogerie- und Apothekenkette Boots (heute ca. 2.200 Niederlassungen und 56.000 Beschäftigte in Großbritannien und Irland).

Mit der Eröffnung von großen Einkaufszentren wie dem Victoria Centre und dem Broadmarsh Centre wurde Nottingham in den 1970er Jahren ferner zum bedeutendsten Einzelhandelsstandort der East Midlands. Gleichzeitig etablierte sich die Stadt als landesweit wichtiges Bildungs- und Forschungszentrum, indem man die 1881 gegründete University of Nottingham nach dem Zweiten Weltkrieg massiv ausbaute und die 1843 gegründete Government School of Design zur Nottingham Trent University aufwertete. Beide Hochschulen haben mittlerweile zusammen pro Semester über 70.000 Studierende eingeschrieben und sind zugleich die akademische Keimzelle von stark wachsenden Branchen in Nottingham (z. B. Biowissenschaft und Informationstechnologie).

Da ich genug Zeit mitgebracht hatte, schaute ich passenderweise mal beim gut 3 km vom Stadtkern entfernten Hauptcampus der University of Nottingham vorbei und bekam ob der gepflegten Einrichtungen und Annehmlichkeiten fast Lust wieder Student zu sein. Aber gut, eigentlich war ich nur so weit raus marschiert, weil der benachbarte Wollaton Park mein nachmittägliches Hauptziel darstellte. Diese ca. 500 Hektar große Parkanlage dient zugleich als Wildpark, in dem sich das Rot- und Damwild frei innerhalb der Parkmauern bewegen darf. Dabei scheinen die Tiere fast jede Scheu gegenüber unserer Spezies verloren zu haben. Egal ob ihnen Spaziergänger oder Golfer (!) in die Quere kommen. Denn kurioserweise nutzt auch ein Golfclub einen Teil des eingefriedeten Parks und schlägt mitunter im Beisein der nicht mehr ganz so wilden Paarhufer ab.

Im Herzen des Parks steht mit der Wollaton Hall außerdem ein prächtiges Herrenhaus, welches der Kohlehändler Sir Francis Willoughby zwischen 1580 und 1588 erbauen ließ. Es gilt als herausragendes Beispiel für die herrschaftliche Architektur der elisabethanischen Epoche und beherbergt heute das Nottingham Natural History Museum. Dieses Museum verlangt wie der Park keinen Eintritt und zeigt eine umfangreiche Sammlung von Tierpräparaten, Mineralien und Fossilien. Leider schloss das Museum heute bereits um 16 Uhr seine Pforten, vor denen ich erst 15:41 Uhr auftauchte. Aber man hätte ja mal vorher nach den Öffnungszeiten gucken können…

Zurück ins Zentrum ging es am späten Nachmittag für mich entlang des 1796 eröffneten Nottingham Canal, auf jenem früher die Nottinghamer Spitze und andere Exportwaren zu den Überseehäfen des Königreichs transportiert wurden und andersrum Kohle und Rohstoffe den Weg in die Fabriken der Stadt fanden. Auf Höhe der Innenstadt kehrte ich dann gern für ein erfrischendes Bier ins Canalhouse ein. Jener geniale Pub befindet sich in einem historischen Lagerhaus, welches im 19. Jahrhundert am Nottingham Canal errichtet wurde. Dabei erstreckt sich ein Teil des Gebäudes direkt über einem Kanalbassin, so dass man theoretisch per Boot in den Pub einfahren und ankern kann. Als Gast kann man wiederum direkt am Becken Speis und Trank genießen.

Ich überlegte auch, ob ich im Canalhouse speise. Doch heute war Donnerstag und donnerstags ist bei Schneppe Tours in britischen Städten bekanntlich immer ein Curry bei Wetherspoon’s Pflicht. Ich schaute also welche Niederlassung dieser Pubkette dem Stadion des Notts County FC am nächsten liegt und das war in meinen Augen das Trent Bridge Inn am Ufer des Flusses Trent. Hatte den Vorteil, dass ich so auch noch einen Blick auf den benachbarten City Ground von Nottingham Forest werfen konnte. Ist sowieso ein bisschen kurios, dass Forest und Notts County ihre Stadien fast nebeneinander gebaut haben. Lediglich getrennt vom Trent.

Im Trent Bridge Inn ließ ich mir gegen 19 Uhr schließlich ein mildes Chicken Korma mit allen möglichen Sides und einem alkoholfreien Raspberry Refresher für zusammen £ 10.25 (ca. 12 €) servieren. Nach dem Schmaus war der Kalorienverbrauch von bis dahin über 17 km Fußmarsch quer durch Nottingham einigermaßen egalisiert und es ging kurz vor Anpfiff mit neuen Kräften zu einem weiteren Fußballclub mit Pflichtcharakter für geschichtsbewusste Fußballfreunde.

Denn während ich zwei Tage zuvor mit dem Sheffield FC den ältesten Fußballclub der Welt besucht hatte, war heute mit dem Notts County FC ein nur unwesentlich jüngerer Fußballclub mein Gastgeber. Mit besagtem Sheffield FC (1857), den Cray Wanderers und dem Hallam FC (beide 1860) existieren nämlich lediglich noch drei Clubs, die älter als der am 28. November 1862 gegründete Notts County FC sind. Und weil das ältere Trio unisono im Amateurbereich unterwegs ist, darf sich der NCFC das klangvolle Etikett Oldest professional association football club in the world (ältester professioneller Fußballclub der Welt) anheften.

Darüber hinaus gehörte Notts County in den ersten Jahrzehnten der Clubgeschichte zur nationalen Spitze und war 1888 eines der zwölf Gründungsmitglieder der Football League. Die damals höchste Spielklasse des Landes schloss man 1890/91 als Dritter ab und feierte damit die bis heute beste Platzierung der Vereinshistorie. In der selben Saison erreichte man außerdem das Finale im FA Cup, unterlag jedoch den Blackburn Rovers. Doch drei Jahre später stand der NCFC erneut im Endspiel und hatte diesmal das bessere Ende. Man schlug am 31. März 1894 die Bolton Wanderers mit 4:1 und gewann somit erst- und auch einmalig eine große Trophäe.

Nach verschiedenen Grounds in den ersten Dekaden der Clubgeschichte, zog Notts County bereits 1910 an die Meadow Lane und ist dieser Spielstätte bis heute treu geblieben. Wenngleich dort nur noch sehr sporadisch Erfolge gefeiert werden konnten. Denn die Magpies (Elstern) entwickelten sich zu einer Fahrstuhlmannschaft, die in allen vier Divisions der Football League ihre Visitenkarte hinterlassen sollte. Erstklassig war man zuletzt von 1981 bis 1984, als Countys Trainerlegende Jimmy Sirrel den Club mit drei Aufstiegen binnen 10 Jahren von der Fourth in die First Division zurückgeführt hatte. In jüngerer Vergangenheit wurde hingegen der absolute Tiefpunkt erreicht: 2019 ging es für vier Jahre runter in die fünftklassige National League.

Nun hatte just die zweite Spielzeit nach dem Wiederaufstieg begonnen und nach einem soliden 14. Platz in der Vorsaison waren die Fans gespannt, wo die Reise wohl hingehen mag. Erst recht, weil die ersten beiden Spieltage mit Punkteteilungen für den NCFC endeten. Ich bin sicher, dass der Klassenerhalt für 96 % der Anhänger ein zufriedenstellendes Szenario wäre. Allerdings machte der heutige Auftritt ihnen wahrscheinlich Hoffnungen, dass vielleicht sogar mehr drin ist.

Denn die Heimmannschaft spielte an diesem Donnerstagabend einen fast schon berauschenden Offensivfußball und ging in der 6. Minute durch einen Treffer von Alassana Jatta in Führung (drittes Tor im dritten Spiel für die gambische Sturmspitze). Nur neun Minuten später erhöhte Daniel Crowley auf 2:0. Nun verstummten die zunächst gut aufgelegten 1.423 Gästefans aus Grimsby und mussten sich vom Home End zurecht den Klassiker schlechthin anhören. Man schmetterte den Besuchern aus der einstigen Welthauptstadt der Hochseefischerei ein schallendes „Sing when you’re fishing, you only sing when you’re fishing“ entgegen.

Danach blieben die Gastgeber weiter am Drücker, lediglich die Chancenverwertung ließ etwas zu wünschen übrig. Bis in der 45. Minute ein Distanzschuss, respektive eine „verunglückte“ Flanke von Jodi Jay Jones vom Pfosten ins Netz abprallte. In jedem Fall ein sehenswertes drittes Tor. Dass es für die Codheads mit noch kleiner Resthoffnung in die Kabine ging, ermöglichte jedoch ein überraschender Anschlusstreffer in der 4. Minute der Nachspielzeit.

Nach dem Seitenwechsel sollten sich die Kräfteverhältnisse allerdings nicht mehr grundlegend verschieben. Crowleys zweiter Treffer in der 57. Minute sorgte im Prinzip für die Vorentscheidung und viele Gästefans traten vorzeitig die 140 km lange Rückreise an. Beim Heimpublikum dagegen gute Laune ob der berauschenden Darbietung ihrer Lieblingsmannschaft. Wenigstens bei solch einer Gala kann man in englischen Stadien tatsächlich immer noch eine gute Fußballatmosphäre erwischen.

Am Ende blieb es beim 4:1 und ich möchte den Bericht mit einer schönen Anekdote schließen. Denn vielleicht weiß noch nicht jeder, dass Notts County für das traditionelle schwarz-weiß gestreifte Trikotdesign von Juventus verantwortlich ist? Der englische Textilkaufmann Gordon Thomas Savage war 1890 nach Torino (Turin) übergesiedelt, um dort Nottinghamer Spitze zu handeln. Aber Savage war auch begeisterter Fußballer, der zuvor in der Heimat bei Notts County gespielt hatte. In der Fremde ging er seinem Hobby zusammen mit anderen englischen Kaufleuten beim 1887 gegründeten Torino Football & Cricket Club weiter nach. Bis sich Savage 1900 als erster Ausländer überhaupt dem drei Jahre zuvor von jungen Italienern gegründeten Juventus FC anschloss. Da deren selbstgenähte rosa Trikots nach den ersten Jahren arg lädiert waren, besorgte Savage nicht nur neue Lederbälle, sondern auch gleich einen neuen Trikotsatz aus Nottingham. Natürlich im Design seines alten Vereins, was den Quellen zufolge zunächst auf wenig Gegenliebe stieß. Doch die Italiener gewöhnten sich schnell an ihre „Trauerkleidung“, in der nebenbei erste sportliche Erfolge gefeiert werden konnten. So ging dieses Design unverrückbar in die Juve-DNA über und bis heute fühlt man sich dem Notts County FC verbunden. Daher war es tatsächlich der damalige englische Drittligist, den das große Juventus am 8. September 2011 zur Eröffnung des neuen Stadions nach Torino als Gegner geladen hatte. Endstand war übrigens ein aus NCFC-Sicht mehr als achtbares 1:1.
*Als Grooming wird die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht bezeichnet, indem über Komplimente, Geschenke oder das Vortäuschen von Zuneigung das Vertrauen der Minderjährigen erschlichen wird.