Magdeburg 05/2024

  • 10.05.2024
  • 1. FC Magdeburg – SpVgg Fürth 0:0
  • 2. Bundesliga (II)
  • Heinz-Krügel-Stadion (Att: 26.620)

Den vorletzten Spieltag der Zweitligasaison 2023/24 eröffnete ein besonderes Schmankerl. Zwar klingt ein Gastspiel der SpVgg Fürth beim 1. FC Magdeburg zunächst nicht sehr verlockend, aber jeder Verein mit großer Vergangenheit feiert bekanntlich hin und wieder besondere Jubiläen. So hatte der 1. FC Magdeburg am 8. Mai 1974 mit dem Gewinn des Europapokals der Pokalsieger den bisher größten Erfolg der Clubgeschichte gefeiert und dem DDR-Fußball damit zugleich den einzigen internationalen Vereinstitel überhaupt beschert.

Der Himmel über Magdeburg

Bereits die gesamte Spielzeit 2023/24 erinnerte man in Magdeburg an die großen Sternstunden vor 50 Jahren. Eingeläutet wurde Jubiläumssaison mit einer Reise des Fanprojekts im Juni 2023, bei der Fans gemeinsam mit dem aktuellen Vereinspräsidenten und etlichen Helden der Europapokalsiegermannschaft an den damaligen Endspielort Rotterdam pilgerten. Unter dem Motto “Magdeburg international – 50 Jahre Europapokal” folgten eine museale Sonderausstellung, Lesungen, Vorträge und etliche bunte Abendveranstaltungen. Ferner sollte jeder Heimspieltag der Saison 2023/24 einem der Europapokalhelden von ’74 gewidmet werden. Vorläufiger Höhepunkt war zwei Tage vor dem heutigen Spiel schließlich ein großer Festakt am exakten Jahrestag des Finaltriumphs. Über 1.700 Gäste feierten im AMO Kulturhaus die Europapokalhelden, die sich zuvor nochmal ins Goldene Buch der Stadt Magdeburg eintragen durften.

Ankunft am Heinz-Krügel-Stadion

Die Feierlichkeiten sollten am heutigen Freitag im Rahmen des Zweitligaspieltags natürlich gebührend fortgesetzt werden. Zunächst hatte die aktive Fanszene zum Fanmarsch aufgerufen, der um 16 Uhr am Ulrichplatz startete. Da ich aufgrund beruflicher Verpflichtungen jedoch erst um 17 Uhr in der Elbestadt eintraf, blieb mir ein Blick auf den blau-weißen Festumzug verwehrt. Aber wenigstens war noch Zeit für eine Wurst auf dem Stadionvorplatz, ehe es gegen 17:45 Uhr durch’s Drehkreuz ging. Drinnen liefen wiederum die letzten Vorbereitungen für die choreographische Würdigung der Europapokalsieger. Offenbar wollten die kreativen Köpfe der Fanszene immerhin 50 % der Ränge miteinbeziehen.

Ist das etwa der Kraftriegel der früheren SKET-Facharbeiter?

Das Rahmenprogramm vor’m Anpfiff (und in der Halbzeitpause) drehte sich natürlich ebenfalls um das große Jubiläum und zugleich wurde das letzte Heimspiel der Saison dem bereits verstorbenen Erfolgstrainer Heinz Krügel gewidmet. Nur am Rande klang durch, dass die Gegenwart um 18:30 Uhr auch ein wichtiges Spiel bereithielt. Denn weil es jüngst lediglich ein 1:1 gegen den designierten Absteiger VfL Osnabrück zu sehen gab und man am Vorwochenende beim Tabellennachbarn 1. FC Kaiserslautern mächtig unter die Räder geriet (1:4 aus Magdeburger Sicht), war der Klassenerhalt immer noch nicht in trockenen Tüchern. Würde die heutige Leistung für drei Punkte reichen, könnte man allerdings nach Abpfiff Vergangenheit und Gegenwart synchron zelebrieren. Dann wäre man rechnerisch zu 100 % durch.

Das Denkmal des Erfolgstrainers

Doch bevor der Ball rollte, galt nochmal alle Aufmerksamkeit der Saison 1973/74. Kurz vor Anpfiff waren am Zaun der Heimkurve die Köpfe des siegreichen Kaders und des Cheftrainers von ’74 zu erspähen. Darüber überspannte eine golden gerahmte Blockfahne mit dem Schriftzug „Europapokalsieger der Pokalsieger“ den gesamten Block U. Auf der Gegengerade wurden parallel fünf Wimpel mit den Magdeburger Spielpaarungen des Wettbewerbs ausgerollt. Alles begleitet von Papptafeln in den Vereinsfarben, sowie dünnen Goldstreifen am oberen und unteren Ende der Tribüne.

Obligatorische Schalparade vor Spielbeginn

Einerseits angeregt von dieser tollen Choreographie und andererseits angeödet vom heute gebotenen Grottenkick, tauchte ich die kommenden 90 Minuten auch gern in die Vergangenheit ab. Ich versuchte mir mittels Chroniken und Presseberichten die magischen Magdeburger Europapokalnächte der Saison 1973/74 greifbarer zu machen. Dabei führte mich mein Blick aber zunächst noch ein Jahrzehnt weiter zurück. Die Fußballabteilung des SC Aufbau Magdeburg hatte 1964 und 1965 jeweils den nationalen Pokalwettbewerb (FDGB-Pokal) gewonnen und international erste Achtungserfolge erzielt. Um den Leistungssport im Bezirk Magdeburg noch gezielter zu fördern, ging jene Fußballsektion des SC Aufbau am 22. Dezember 1965 im neu gegründeten 1. FC Magdeburg auf.

Der Mittelkreis hatte heute eine besondere Abdeckung von der Fanszene bekommen

Doch die von den Parteifunktionären erhofften Effekte blieben erstmal aus. 1966 stieg der 1. FC Magdeburg aus der Oberliga ab und ein sportlicher Neuanfang musste her. Man vertraute die große Aufgabe dem ehemaligen Nationaltrainer Heinz Krügel an, der sogleich den Wiederaufstieg realisieren konnte. Der aus Oberplanitz bei Zwickau stammende Fußballlehrer sichtete fortan jeden Sommer hoffnungsvolle regionale Talente und formte dadurch aus dem FCM binnen weniger Jahre ein Spitzenteam der DDR. Die auserwählten Kicker waren übrigens fast alle beim SKET (Schwermaschinen-Kombinat Ernst Thälmann) beschäftigt, genossen als Leistungssportler aber deutlich privilegierte Arbeitsbedingungen. Mit dieser „Bezirksauswahl“ konnte 1969 erstmals unter dem Namen 1. FC Magdeburg der FDGB-Pokal gewonnen werden. 1972 folgte der erste Meistertitel und 1973 wurde erneut der Pokal gewonnen.

Jubiläumschoreo im Block U

Dieser zweite Pokaltriumph war das Ticket für eine abermalige Europapokalteilnahme in der Saison 1973/74. In der ersten Runde des Europapokals der Pokalsieger* musste der 1. FC Magdeburg sich dabei mit dem niederländischen Pokalsieger NOAD-ADVENDO Combinatie** Breda messen. Durch dieses Los durfte die Krügel-Elf am 30. September 1973 tatsächlich bereits die Luft des späteren Endspielstadions De Kuip schnuppern. Denn die Spielstätte in Breda war nicht europapokaltauglich, so dass NAC ins nahe Rotterdam auswich. Gerade einmal 5.638 Stadionbesucher sollten in der riesigen Schüssel (seinerzeit 69.000 Plätze) eine Nullnummer erleben. Im heimischen Ernst-Grube-Stadion zeigte sich der FCM am 3. Oktober jedoch effizienter vor dem Tor. Im Beisein von rund 25.000 Zuschauern sicherte ein Doppelschlag Axel Tyll (69.) und Martin Hoffmann (72.) den Einzug in die Runde der letzten 16.

Wimpel künden vom Magdeburger Weg zum Europapokaltriumph

In jenem Achtelfinale führte die Reise in die benachbarte Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ČSSR). Baník Ostrava erwartete die Magdeburger am 24. Oktober zum Hinspiel imStadion Bazaly. Dort erspielte sich der ČSSR-Cupsieger mit harter Gangart einen komfortablen 2:0-Vorsprung. Das zeigte vor allem Wirkung beim Magdeburger Publikum. Nur noch 12.015 Besucher strömten am 7. November zum Rückspiel ins Ernst-Grube-Stadion. Die Mannschaft glaubte allerdings noch an sich und ein verwandelter Strafstoß von Wolfgang Abraham (33.) gab der Hoffnung weitere Nahrung. Kurz vor Ablauf der regulären Spielzeit erzwang Martin Hoffmann (85.) die Verlängerung, in der wiederum Jürgen Sparwasser (104.) das Siegtor für die Blau-Weißen erzielen konnte.

Erinnerung an die Duelle mit NAC und Baník

Im Viertelfinale war das Publikum nun wieder mit der Mannschaft versöhnt. 27.000 hofften am 6. März 1974 im Ernst-Grube-Stadion auf einen weiteren magischen Abend gegen den bulgarischen Pokalsieger Beroe Stara Zagora. Nachdem eine überlegene FCM-Elf zunächst viele gute Gelegenheiten ausließ, sorgten Hans-Jürgen Hermann (70.) und Siegmund Mewes (73.) im zweiten Durchgang für strahlende Gesichter an der Elbe. Im Rückspiel am 20. März erwartete die Magdeburger allerdings ein Hexenkessel im Stadion Beroe. Die Atmosphäre der 30.000 Bulgaren soll angeblich die oder andere Schiedsrichterentscheidung zu Gunsten der Gastgeber beeinflusst haben. So in der 72. Minute, als Beroe durch einen fragwürdigen Strafstoß in Führung ging. In einer hitzigen Schlussphase sorgte Hans-Jürgen Hermann allerdings mit dem Ausgleich (81.) für die Entscheidung.

Die Helden von 1973/74 und ihre Herkunftsorte (von li. nach re.): Wolfgang Abraham (Osterburg), Klaus Decker (Sakzwedel), Detlef Enge (Schwanebeck), Helmut Gaube (Schnarsleben), Wolfgang Seguin (Burg), Martin Hoffmann (Gommern), Hans-Jürgen Achtel (Magdeburg), Siegmund Mewes (Magdeburg), Cheftrainer Heinz Krügel (Oberplanitz), Jörg Ohm (Haldensleben), Jürgen Pommerenke (Wegeleben), Detlef Raugust (Halberstadt), Manfred Zapf (Stapelburg), Hans-Jürgen Hermann (Bismark), Jürgen Sparwasser (Halberstadt), Axel Tyll (Magdeburg) und Ulrich Schulze (Darlingerode)

Im Lostopf des Halbfinals gesellten sich anschließend die klangvollen Namen Associazione Calcio Milan, Borussia Mönchengladbach und Sporting Clube de Portugal zum 1. FC Magdeburg. Die Glücksfee bescherte den Blau-Weißen eine Reise nach Lissabon, die man als frisch gekürter DDR-Meister der Saison 1973/74 selbstbewusst antreten konnte. Nichtsdestotrotz galten die Portugiesen, die den Wettbewerb 1964 schon einmal gewinnen konnten, als glasklarer Favorit. Vor 45.000 frenetischen Fans gerieten die Magdeburger im Estadio de José Alvalade auch tatsächlich ganz schön ins Schwimmen. Doch der 10. April 1974 sollte der große Abend von FCM-Schlussmann Ulrich Schulze werden.

Wimpel der Duelle gegen Sporting und Beroe

Mit großartigen Reflexen rettete Schulze das 0:0 in die Pause, ehe es in der 52. Minute besonders dramatisch wurde. Als der Tormann eine Flanke abfangen wollte, rauschte er mit einem Gegenspieler zusammen und ging bewusstlos zu Boden. Unterdessen klärte Abwehrchef Abraham den Ball auf der Linie mit der Hand und sorgte so für einen Elfmeterpfiff. Insgesamt drei Minuten musste der am Kopf verletzte Schulze behandelt werden, doch dann stand er wieder zwischen den Pfosten und parierte den Strafstoß von Sportings Schützen Dinis. Als Sparwasser in der 62. Minute obendrein die Führung für die Elbestädter besorgte, war der bisherige Spielverlauf gänzlich auf den Kopf gestellt. Doch die Leões (Löwen) kämpften wie ihr Wappentier und erzwangen in der 76. Minute wenigstens das 1:1. Dass der weiter unentwegt anstürmende Gastgeber das Spiel in der Schlussviertelstunde nicht mehr drehen konnte, war dann erneut den Glanzparaden von Uli Schulze zu verdanken.

Block U gewohnt aktiv

Das glückliche Remis von Lissabon eröffnete dem 1. FC Magdeburg günstige Voraussetzungen, um im Rückspiel am 24. April als erster Vertreter des DDR-Fußballs in ein Europapokalendspiel einzuziehen. Im ausverkauften Ernst-Grube-Stadion (34.643 Zuschauer) konnte Jürgen Pommerenke die Euphorie mit seinem frühen Führungstor (9.) noch weiter anheizen. Und als Jürgen Sparwasser in der 70. Minute gar auf 2:0 erhöhte, stand die Krügel-Elf bereits mit 1,5 Beinen im Endspiel. Aber der zu diesem Zeitpunkt 13-fache portugiesische Meister (und 8-fache portugiesische Pokalsieger) zeigte weiter große Moral und kam in der 78. Minute durch Marinho zum Anschlusstreffer. Dank der Auswärtstorregel fehlte Sporting plötzlich nur noch ein weiteres Tor zum Finaleinzug. Entsprechend nervenaufreibend sollte die Schlussphase werden, doch Schulze musste an diesem Abend kein zweites Mal hinter sich greifen. Die Rückkehr nach Rotterdam war eingetütet.

Der Endspielwimpel

Zwei Wochen nach dem Halbfinalrückspiel ging es am 6. Mai ins niederländische Noordwijk, wo man sich die kommenden zwei Tage gewissenhaft auf das Duell mit der AC Milan vorbereitete. Ein Gegner, der 1963 und 1969 den Europapokal der Landesmeister (heute UEFA Champions League), sowie 1968 und 1973 den Europapokal der Pokalsieger nach Mailand geholt hatte. Entsprechend gingen die Rossoneri als Titelverteidiger und haushoher Favorit ins Endspiel. Die mutmaßlich klare Angelegenheit gegen eine ostdeutsche Truppe aus lauter – zumindest international – Namenlosen lockte dann auch lediglich rund 1.000 italienische Tifosi nach Rotterdam.

Heute waren ähnlich wenig Fürther in Magdeburg, wie 1974 Magdeburger in Rotterdam

Unterdessen drückten auf den Rängen gerade einmal 350 DDR-Bürger dem FCM die Daumen. Denn während nach Ostrava und Stara Zagora, sprich ins befreundete sozialistische Ausland, visafreie Reisen möglich waren und ein paar Schlachtenbummler ihrem Herzensclub hinterher reisten, galten für’s so genannte Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet ganz andere Regeln. Visa für den kapitalistischen Westen bekamen aus Angst vor Republikflucht nur wenige handverlesene DDR-Bürger. Direkt aus Magdeburg reiste sogar nur eine ganz kleine dreistellige Anzahl an verdienten Werktätigen und Funktionären an. Etwas voller wurde der Block lediglich, weil die Besatzungen von seinerzeit im Rotterdamer Hafen liegenden DDR-Handelsschiffen zum Spiel eingeladen wurden.

Die Schlüsselmomente des Endspiels von 1974 wurden in den entsprechenden Spielminuten am heutigen Abend stilecht auf der Anzeigetafel eingeblendet

Die niederländischen Fußballfreunde aus Rotterdam und Umgebung reizte die Ansetzung ACM vs. FCM offenbar ebenfalls nicht. Insgesamt waren an einem nasskalten Abend 4.641 zahlende Zuschauer durch die Drehkreuze gegangen. Bei einem Europapokalendspiel wohl ein Minusrekord für die Ewigkeit. In dieser Gemengelage zögerte selbst das DDR-Fernsehen lange, ob es eine Live-Übertragung anstrengen soll. Am Ende entschied man sich aber zum Glück doch, dass der sowjetischen Antikriegsfilm A sori sdes tichije (Im Morgengrauen ist es noch still) ruhig auf einen anderen Sendeplatz geschoben werden kann.

Die Erinnerung an Paule Seguins 2:0 wird von einer Schalparade begleitet

Wer nun zwischen Erzgebirge und Ostseestrand seine Donja, Ilona, Ines oder Stella für Fußball einschaltete, sollte nicht enttäuscht werden. Krügels Elf erstarrte keineswegs vor Ehrfurcht, sondern spielte gegen große Namen wie Rivera, Anquilletti, Benetti, Schnellinger und Bigon die eigenen Stärken aus. Die junge Mannschaft ging hohes Tempo und konnte auf ihre Eingespielheit setzen. Lediglich die Sperre des etatmäßigen Verteidigers Klaus Decker zwang Krügel zu einer Umstellung. Ausgerechnet gegen den Weltstar Gianni Rivera bot der Trainerfuchs überraschend einen Ergänzungsspieler namens Helmut Gaube auf. Der kickte ansonsten vorwiegend in der Reservemannschaft (Bezirksliga), aber Krügel gab Gaube folgendes für das Spiel seines Lebens mit auf den Weg: „Helmut, Sie sind Diplom-Sportlehrer. Und Rivera? Der hat nicht mal eine Ausbildung.“

Ich dachte erst, die suchen die Haupttribüne nach Vloggern und Wessihoppern ab

Der Sportlehrer nahm den italienischen Ausnahmespieler danach tatsächlich fast komplett aus dem Spiel, was gewiss zu einem wichtigen Baustein der Sensation wurde. Aber ich klinge jetzt gerne ähnlich wie die zeitgenössische DDR-Presse: Insgesamt war es der Erfolg eines funktionierenden Kollektivs, in das jeder der Spieler seine individuellen Qualitäten optimal einbrachte. Dazu kam den Magdeburgern sicher auch zugute, dass Milans Trainer Giovanni Trapattoni im Vorfeld nur wenige Informationen über den Gegner einholen konnte. Vor 50 Jahren waren die Möglichkeiten schließlich deutlich begrenzter als heute, erst recht wenn es um Teams aus dem damaligen Ostblock ging.

Doch stattdessen: Großflächige Pyroshow in der 74. Minute

Als Milans Lanzi in der 43. Minute eine flache Hereingabe von Detlef Raugust unglücklich ins eigene Tor lenkte, nahm das ostdeutsche Fußballmärchen seinen Lauf. Selbst nach einer mutmaßlichen Wutrede von Trapattoni während der Halbzeitpause, sollte Milan nicht mehr wirklich ins Spiel finden. Alle Angriffsversuche der Rossoneri scheiterten spätestens an Schulze und in der 73. Minute vermochte eine Balleroberung von Gaube einen Angriff für die Geschichtsbücher einleiten. Gaube spielte Hoffmann an, der nach einem tollen Sololauf auf Sparwasser in den Strafraum passte. Zwar konnte die Magdeburger Sturmspitze das Zuspiel nicht verwerten, aber Sparwassers Querschläger fiel dem nachgerückten Tyll vor die Füße. Der bewies Übersicht und erkannte die gute Position von Wolfgang „Paule“ Seguin. Unglücksrabe Lanzi konnte Tylls Pass nicht abfangen und Seguin bekam die Kugel an der Torraumgrenze in den Lauf. Aus spitzem Winkel erzielte Seguin nun das vorentscheidende 2:0!

Die Nebel der Geschichte…

Nachdem dieser historische Treffer am heutigen Abend in der entsprechenden Spielminute auch im Heinz-Krügel-Stadion auf den Videowänden eingeblendet wurde, ging der über 50 Jahre verspätete Torjubel nahtlos in eine große Pyroshow über. Auf Gegengerade und Haupttribüne loderten schätzungsweise 50 Bengalos, während Block U zugleich Fontänen in blau und weiß abfeuerte. Ein Moment, der nahezu alle Stadionbesucher ergriff und die anwesenden Europapokalhelden hoffentlich nochmal besonders rührte. Sie werden wahrscheinlich einmal mehr die ikonischen Bilder von ’74 im Kopf gehabt haben. Als sie nach Abpfiff von ihren Betreuern weiße Bademäntel aus Malimo*** zum Überziehen bekamen und wenig später in diesem sonderbaren Look den Pokal empfingen. Die Mäntel durften sie allerdings genauso wenig behalten, wie die Siegprämie der UEFA in Höhe von 225.000 Schweizer Franken. Erst Wochen später gestand der Verband jedem Spieler wenigstens 5.000 Ostmark als kleine Anerkennung zu.

Der Endstand in Rotterdam

Aber zunächst wird in der Stunde des Sieges wahrscheinlich eh kein Spieler über mögliche Prämien oder neue Privilegien nachgedacht haben. Nach der Ehrenrunde in den obskuren Bademänteln, stieg selbstverständlich noch eine gemeinsame Feier im Teamhotel. Während die Nationalspieler Jürgen Pommerenke, Axel Tyll, Martin Hoffmann, Wolfgang Seguin und Jürgen Sparwasser dann am nächsten Morgen direkt zur WM-Vorbereitung der DDR-Auswahl reisen mussten (WM ’74? Sparwasser? Da war doch auch irgendwas, oder?), ging’s für den Rest vom Fest nach dem Katerfrühstück zurück nach Magdeburg. Nachmittags sollten dort tausende Fans den Helden von Rotterdam einen gebührenden Empfang bereiten.

Sparwasser und Zapf bei der Ehrenrunde in Rotterdam als Wandbild (Archivfoto)

Während das Regime die Magdeburger Mannschaft nun zu gerne politisch vereinnahmen wollte, fiel der Vater der Erfolgs bei den mächtigen Parteifunktionären jedoch in Ungnade. Er lehnte beispielsweise das Abhören der Europapokalgegner durch die Stasi ab und verbat sich jegliche politische Einmischung in sportliche Angelegenheiten. Mit Sätzen wie „Ihr seid Politiker, ihr habt dafür zu sorgen, dass es den Leuten gut geht. Fußballtrainer bin ich.“ gegenüber Parteibonzen, die ihn in die Trainingspläne reinreden wollten, oder „Den FCM und Krügel, den kennt man in ganz Europa. Aber du bist und bleibst ein dummer Bördebauer!“ gegenüber SED-Funktionär Walter Kirnich machte sich Krügel letztlich zu viele Feinde im System. 1976 bekam der Erfolgstrainer de facto ein Berufsverbot.

Wenigstens auf den Tribünen war gegen Fürth Feuer und Leidenschaft zu sehen

Für Krügel ein schmerzhafter Bruch in der Biografie, für den FCM der Beginn eines langsamen sportlichen Niedergangs. Zwar konnte Nachfolgecoach Klaus Urbanczyk die Erfolgsmannschaft zunächst noch in der Spitzengruppe der Liga halten und in den Jahren 1978 und 1979 zwei weitere DDR-Pokalsiege feiern, doch die Meisterschaft ging in den kommenden Jahren nur noch an die Rivalen Dynamo Dresden und Berliner FC Dynamo. Spätestens als die von Krügel geprägte Generation um Seguin, Sparwasser, Hoffmann und Pommerenke altersbedingt wegbrach, konnten die Magdeburger nicht mehr an die Erfolge der goldenen Siebziger anknüpften.

Heute 26.620 Zuschauer (Saisonschnitt 25.060); der FCM ist 50 Jahre nach Rotterdam angesagter denn je

Nach der Wende wurde es bekanntlich besonders schwierig für die Blau-Weißen und in den 1990er Jahren machten sich nur noch ein paar hundert Unverbesserliche zu Oberligapunktspielen ins Ernst-Grube-Stadion auf. Da tut es der Fanseele sichtlich gut, dass man den 50. Jahrestag des größten Erfolgs der Vereinsgeschichte wenigstens während der erfolgreichste Ära seit der Wiedervereinigung feiern darf. Denn das wenig mitreißende 0:0 am heutigen Abend sicherte dem FCM zu 96 % die dritte Saison 2. Bundesliga in Folge. Dass der Verein sportlich mal wieder so gut dasteht, haben bei vorangegangenen runden Jubiläen des Europapokalsieges wohl auch nur die größten Optimisten geglaubt.

Mannschaft und Kurve verabschieden sich voneinander

Nachdem Mannschaft und Fans sich rituell voneinander verabschiedet hatten, gab es auf dem Stadionvorplatz noch ein feierliches Höhenfeuerwerk der Fanszene. Aber dafür wollte ich nicht länger in Magdeburg bleiben. Einerseits war es um 20:45 Uhr noch ein bisschen zu hell und andererseits stand am nächsten Morgen ein Ausflug nach Frankreich im Kalender. Jede Stunde Schlaf zählte…

Song of the Tour: Ein DDR-Schlager aus dem Jahre 1974

*Der UEFA Cup Winners Cup (Europapokal der Pokalsieger) war ein Europapokalwettbewerb für die europäischen Pokalsieger (oder ggf. Vizepokalsieger), der zwischen 1960 und 1999 ausgetragen wurde.

**Am 19. September 1912 schlossen sich in Breda die Vereine Nooit Opgeven Altijd Doorzetten (Niemals aufgeben, immer weitermachen) und Aangenaam Door Vermaak En Nuttig Door Ontspanning (Angenehm durch Unterhaltung und nützlich durch Entspannung) zur NOAD-ADVENDO Combinatie, kurz NAC Breda zusammen.

***Ein Textilfabrikat aus Molton, welches der gelernte Färbereitechniker Heinrich Mauersberger erstmals 1949 mit der von ihm erfundenen Vielnadelnähmaschine im sächsischen Limbach-Oberfrohna herstellen konnte. Malimo fand 1959 als erstes DDR-Patent überhaupt Lizenznehmer im kapitalistischen Ausland und brachte dem Staat somit wichtige Devisen ein.